Fraser, Ian (Kilmister, Lemmy) / Garza, Janiss – Lemmy – White Line Fever

Ian Fraser Kilmister, besser bekannt als „Lemmy“, ist ein (wenn nicht sogar DAS) Urgestein der Rock- und Metalszene. Er wurde am Heiligabend 1945 in Burslem, England geboren und sammelte bereits in jungen Jahren musikalische Erfahrungen bei Bands wie den ROCKING VICARS, OPAL BUTTERFLY und HAWKWIND, bevor er sich ab 1975 als Frontmann von MOTÖRHEAD maßgeblich an der Erfindung des Metal beteiligte. Vielleicht kennt ja der eine oder andere unter euch noch den Gag aus dem Film „Airheads“:

„Wer würde beim Wrestling gewinnen: Lemmy oder Gott?“
„Lemmy?“
„Möööp!“
„Äh, Gott!“
„Falsch! Fangfrage. Lemmy IST Gott.“

Man muss nicht unbedingt ein Fan von MOTÖRHEAD sein, um das Lebenswerk von Lemmy Kilmister würdigen zu können. Ich persönlich habe ein paar Favoriten wie „Born To Raise Hell“, „Killed By Death“ oder das grandiosen Cover von „God Save The Queen“, aber für den entsprechenden Nostalgie-Faktor bin ich wahrscheinlich zu spät geboren worden, und bei den meisten MOTÖRHEAD-Songs fehlt mir einfach die Härte. Nichtsdestotrotz hat Lemmy Musikgeschichte geschrieben, wobei er stets bodenständig geblieben ist und trotz seines exzessiven Lebensstils so manchen Rockstar überlebt hat. Zudem haben sich MOTÖRHEAD niemals dazu verleiten lassen, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen (wie etwa GUNS N‘ ROSES) oder einfach nur aus finanziellen Gründen weiterzumachen (wie etwa die ROLLING STONES), sondern bis heute mit kontinuierlicher Frische ein neues Album nach dem anderen eingezimmert. Das ist an sich schon eine Leistung, die zumindest Respekt, wenn nicht sogar Hochachtung verdient. Dank Lemmy haben wir auch heute noch (z. B. auf dem diesjährigen „With Full Force“) die Möglichkeit, ein |lebendiges| Stück Rock-’n‘-Roll-Geschichte live zu erleben. Ich hoffe, dass uns dieses Privileg noch ein paar Jahre erhalten bleibt. Grund genug für mich, mir die kürzlich bei |Iron Pages| auf Deutsch erschienene Lemmy-Autobiographie „White Line Fever“ zu Gemüte zu führen.

Wie diese „Autobiographie“ zustande gekommen ist, hat Lemmy im Gespräch mit Götz Kühnemund (nachzulesen in der Ausgabe 6/04 des |RockHard|-Magazins) erläutert:

„Ja, ich habe alles auf Band gesprochen, und Janiss Garza hat die Tapes abgehört. Die abgetippte Version habe ich dann noch einmal Korrektur gelesen und stellenweise abgeändert.“

Will heißen: „White Line Fever“ wurde nicht von Lemmy selbst, sondern von seiner Ghostwriterin geschrieben. Das Buch orientiert sich an den freien Assoziationen, welche Lemmy auf Band gesprochen hat, und das merkt man der Struktur des Textes auch an. Streng genommen handelt es sich hier also mitnichten um eine echte Autobiographie, wie es der Untertitel auf dem Cover des Buches suggeriert. Das tut aber dem Lesevergnügen keinen Abbruch – im Gegenteil. Janiss Garzas Schreibe kommt frisch und unverbraucht rüber und außerdem versteht sie es, die Pointen richtig zu setzen. Sie scheint bei der Niederschrift des Textes mindestens genauso viel Spaß wie Lemmy gehabt zu haben. Da er sich selbst mit dem Endprodukt identifizieren kann, dürften die MOTÖRHEAD-Fans m. E. erst recht nichts dagegen einzuwenden haben.

Das Buch folgt keiner streng chronologischen Zeitlinie, obwohl es sich natürlich grob an Lemmys Werdegang orientiert. Lemmy springt in seiner Erzählung immer dann in der Zeit, wenn er den geschichtlichen Kontext einer bestimmten Situation verdeutlichen, oder – was wohl ausschlaggebender sein dürfte – eine amüsante Anekdote zum Besten geben will. Was wir dabei erfahren, ist Lemmys ganz persönliche Sicht der Dinge, aber nicht zwingend eine möglichst „objektive“ Darstellungsweise. Aber das wäre vermutlich auch bedeutend langweiliger als Lemmys erzählerisches Spiel mit Klischees und Übertreibungen. Wenn ein alter Seemann sein „Seemannsgarn“ spinnt, lebt die Geschichte schließlich auch von den Übertreibungen. (Wer eine möglichst realitätsnahe Wiedergabe der mit Lemmy verbundenen Ereignisse haben möchte, sei an dieser Stelle auf „Over the Top – Das Motörhead-Fanbuch“ von Matthias Mader (ebenfalls erschienen bei |Iron Pages|) verwiesen.) Abgesehen davon habe ich aber den Eindruck, dass in Lemmys Schilderungen immer zumindest ein Körnchen Wahrheit enthalten ist. Der Mann hat in seinen (zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung von „White Line Fever“) 57 Lebensjahren mehr skurrile Dinge erlebt als fünf „normale“ Menschen zusammen.

Wir erfahren etwas von Lemmys problematischer, aber dennoch lebensfrohen Kindheit, welche er in Armut und ohne leiblichen Vater durchleben muss. Da seine Mutter samt Stiefvater nach Wales zieht, ist das Schulkind Lemmy von Anfang an ein Exot. Schon früh entdeckt er, dass man mit einer Gitarre Mädchen beeindrucken kann. Als er zusätzlich registriert, dass dies noch besser funktioniert, wenn man sein Instrument auch noch beherrscht, findet er in der Musik schnell eine Alternative zum ungeliebten Schulbesuch. Der damalige Arbeitsmarkt bietet auch keine wirkliche Alternative, so dass er den Entschluss, Musiker zu werden, sicherlich nicht bereut hat. Andere britische Bands wie BLACK SABBATH oder VENOM standen ja vor einer ähnlichen Problematik, und auch jüngere Bands wie RAGING SPEEDHORN zeigen, dass sich daran bis heute nicht viel geändert hat.

Die Liebe zum Rock entdeckt Lemmy, als er zum ersten mal mit BILL HALEY, BUDDY HOLLY, ELVIS PRESLEY und den BEATLES in Berührung kommt. Mit 16 verlässt er Wales, und die 60er verbringt er im Umkreis verschiedener Musiker (u. a. als Roadie von JIMMY HENDRIX) in London. Eine anschaulichere Beschreibung der damaligen Szene wird wohl schwer zu finden sein. Ich habe lange überlegt, ob ich hier ein paar beispielhafte Anekdoten zu seinen Exzessen um Musik, Drogen, Sex und abgefahrenem Zeitgeschehen zitieren sollte, bin aber letztlich zu dem Schluß gekommen, dass es weitaus spaßiger ist, sich selbst von Lemmys Humor überraschen zu lassen.

Damit komme ich zu einem entscheidenden Punkt: Das Buch ist absolut selbsterklärend. Wer erfahren will, welche Schwerpunkte Lemmy aus seinem Werdegang als prägend empfunden hat, kann dies hier aus erster Hand tun. Wir erfahren, wie Lemmy nach und nach in verschiedenen Bands Erfahrungen sammelt, bis er mit MOTÖRHEAD sein eigenes Projekt aufzieht. Wir werden Zeugen, wie die junge Band langsam zu einer eigenen Identität findet, wie sie sich im Business durchschlägt, und wie die Besetzung immer wieder wechselt. Die einzige Konstante bleibt Lemmy, obwohl sich MOTÖRHEAD natürlich nicht auf Lemmy reduzieren lässt. Besonders interessant finde ich persönlich, wie anhand von Lemmys Entwicklung auch der langsame Übergang vom Hardrock in den 70ern zum Metal in den 80ern mitzuverfolgen ist. Später, als MOTÖRHEAD zu einer festen Instanz geworden ist, folgen junge Metalbands nach, die nun ihrerseits zu Lemmy als altem Heroen aufblicken. Wer von euch hat z. B. gewusst, das Lars Ulrich der Leiter des US-Fanclubs von MOTÖRHEAD war, bevor er selbst mit METALLICA durchstartete?

Interesant ist es natürlich auch zu entdecken, mit welchen sonstigen Persönlichkeiten aus Musik und Medien Lemmy noch verkehrt hat und verkehrt. Viele seiner engsten Freunde sind seit längerer Zeit verstorben, so dass seine vergnüglichen Schilderungen auch oftmals einen melancholischen Anstrich bekommen. Zugleich setzt er damit auch hier und da ein kleines Denkmal. Auch dies im Einzelnen zu entdecken, möchte ich dem geneigten Leser überlassen. Das Buch mag zwar ein paar Lücken aufweisen (Wer kann sich schon an alle Einzelheiten seines Lebens erinnern?) aber es ist insofern „vollständig“, als dass es einen überzeugenden Bogen vom Beginn in den 50ern bis zur Gegenwart spannt. Das Ganze wird mit ein paar schönen Fotos veredelt.

Als deutliches Manko empfinde ich allerdings die äußere Aufmachung des Buches: Der Einband besteht aus dünner Pappe, und das Papier der Seiten (ebenfalls dünn und glatt) hätte auch in einem Magazin Verwendung finden können. Für rund 20 Euro muss da m. E. einfach mehr drin sein. Die Die-hard-Fans sollten daher eine zusätzliche Einbindung in Erwägung ziehen, wenn sie auch ihren Enkeln noch Lemmys Eskapaden vermitteln wollen.

Abgesehen davon kann ich „White Line Fever“ aber ohne Einschränkung empfehlen. Es macht einfach Spaß, die Welt einmal aus Lemmys Perspektive zu betrachten. Eine Frage bleibt aber auch nach der Lektüre weiterhin offen: Wie zum Henker ist Lemmy an diese monströsen Warzen gekommen?!?