Cornelia Funke – Tintenherz (Tinten-Zyklus 1) (Lesung)

Die Magie des Schreibens und Lesens

In einer stürmischen Nacht taucht ein unheimlicher Gast bei Meggie und ihrem Vater Mo auf. Am nächsten Morgen reist Mo überstürzt mit Meggie zu ihrer Tante Elinor, die eine wertvolle Bibliothek besitzt. Dort macht Meggie eine überraschende Entdeckung. Und schon bald begreift sie, dass ihr Vater in großer Gefahr schwebt … (Verlagsinfo)

Dieses Hörbuch war in zwei Kategorien für den |Deutschen Hörbuch Preis| 2004 nominiert und platzierte sich auf der hr2-Bestenliste. Die Filmrechte an „Tintenherz“ hat das Warner-Studio New Line Cinema erworben.



Die Autorin

Cornelia Funke, geboren 1958 in Dorsten/Westfalen, ist ausgebildete Diplom-Pädagogin und hat drei Jahre als Erzieherin in Hamburg gearbeitet. Parallel dazu studierte sie an der Kunstfachhochschule für Buchillustration. Heute ist sie freischaffende Illustratorin und Autorin. Für ihre Bücher erhielt sie 2003 den Internationalen Buchpreis |CORINE| 2003 und den |Book Sense Book of the Year Award| 2003. Ihr Roman „Tintenherz“ war für den |Deutschen Jugendbuchpreis| 2004 nominiert. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Die „deutsche J. K. Rowling“? Mal sehn.

Der Sprecher

Rainer Strecker, geboren 1965, absolvierte seine Schauspielausbildung an der Otto-Falckenberg-Schule in München. Er arbeitet als Schauspieler bei Film und Fernsehen sowie auf der Theaterbühne. Er stand unter anderem in Margarete von Trottas Kinofilm „Rosenstraße“ vor der Kamera. Für den |JUMBO|-Hörbuchverlag hat er zahlreiche Hörbücher gesprochen. Er lebt in Berlin.

Handlung

Die zwölfjährige Meggie, die allein mit ihrem Vater Mortimer „Mo“ Forchert lebt, kann wegen des Regens nicht schlafen, der an ihr Fenster trommelt. Auch eines ihrer vielen Bücher beruhigt sie nicht. Da hört sie jemanden vor dem Haus: ein Fremder. Er schaut zu ihr herein. Ihr alarmierter Vater schaut sich den Fremden an und sagt nur: „Staubfinger!“ Es ist immerhin schon neun Jahre her, seit er den Mann zuletzt sah. Das war in dem Jahr, als Meggies Mutter verschwand …

Staubfinger ist ein Gaukler, trägt drei Narben im Gesicht und stets einen Marder auf seinen Schultern. Meggie kommt es ein wenig seltsam vor, dass der Marder – er heißt Gwin – zwei winzige Hörner auf dem Kopf hat. So ein Tier hat sie in keinem ihren Lexika jemals gesehen. Aber Gwin stinkt sehr real. Ganz gegen seine Gewohnheit schickt ihr Vater Meggie wieder ins Bett, um sich mit dem Besucher ungestört unterhalten zu können. Dieser nennt Mo „Zauberzunge“, Meggie hat keine Ahnung, wieso. Aber natürlich belauscht sie die beiden. Der wichtigste Satz: „Capricorn wird kommen und das BUCH holen – er oder seine Leute.“ Von diesem Capricorn – dem lateinischen Wort für Steinbock – hat Meggie noch nie etwas gehört. Als Staubfinger zuletzt hier war, war sie ja erst drei Jahre alt.

Nachdem sich Staubfinger verabschiedet hat, wirkt Mo sehr nervös. Auf ihre vielen Fragen gibt er keine Antworten. Am Morgen fährt er mit ihr los, doch am Tor steht Staubfinger, der darauf besteht, mitzukommen. Sie fahren nach Oberitalien zu Tante Elinor. Warum laufen wir vor diesem Capricorn weg?, will Meggie wissen. Staubfinger antwortet, dass dieser Mann grausam und gierig sei und seine vielen Helfer ebenso. Und überall in Europa habe er nach dem BUCH gesucht und es entweder geraubt oder gekauft, zum Beispiel aus Ausstellungen, Antiquariaten und Privatbibliotheken. Staubfinger sagt (noch) nicht, was so besonders an dem BUCH ist, außer das es sehr schön gemacht ist. Mo hat ihr nie daraus vorgelesen. Mo liest ihr seit neun Jahren nie mehr vor …

Tante Elinors Haus ist vom Keller bis unters Dach mit Büchern voll gestellt, ähnlich wie bei Mo. Und sie hat ihre Bücher, darunter sehr wertvolle aus dem Mittelalter, mit einer Alarmanlage geschützt. So sehr sie sich mit Büchern auch auskennt – mit Kindern weiß sie rein gar nichts anzufangen. Sie lebt schon lange allein, zusammen mit den Phantasiewelten der Bücher. Aber auch sie hat, wie Meggie herausfindet, kein einziges Werk über gehörnte Marder. Mo gibt ihr sein Exemplar des BUCHes und sie versteckt es gut.

Mit einem Trick bringt Staubfinger Elinor dazu, die Alarmanlage bis spät in die Nacht auszuschalten. Prompt dringen schwarz gekleidete Männer in das Haus ein, die die Herausgabe des BUCHes verlangen. Mo, den sie in die Mangel nehmen, gibt ihnen ein Exemplar, das so aussieht. Meggie muss aus einem Versteck entsetzt mit ansehen, wie sie Mo trotzdem mitnehmen. Auch sie nennen ihn „Zauberzunge“, weiß der Kuckuck, wieso. Und was soll er für Capricorn tun? Erst als die Männer mit ihrem Vater verschwunden sind, lässt Tante Elinor Meggie aus ihrem Versteck heraus. Zu spät!

Von Elinor erfährt sie, dass sie das echte BUCH immer noch hat – sie hatte es ausgetauscht. Obwohl auf dem Einband kein Titel steht, weiß Elinor, dass es vor 38 Jahren von einem Italiener namens Fenoglio geschrieben wurde und „Tintenherz“ heißt. Darin kommen Fabelwesen wie etwa Glasmännchen, Zwerge und Feen vor. Was soll daran so besonders sein?, fragt sich Meggie. Aber um ihren Vater zurückzubekommen, will sie Capricorn das Buch anbieten. Ob der sich wohl auf den Handel einlässt?

Weil sie nicht weiß, wo sie Capricorn suchen soll, erweist es sich als hilfreich, dass Staubfinger wieder auftaucht. Elinor hat ihn schon als Verräter durchschaut, aber er hilft ihnen, das Verbotene Dorf zu finden, das an der ligurischen Küste liegen soll. Dort werden sich alle Geheimnisse und Rätsel lösen, hofft Meggie. Und sie wird hoffentlich ihren Vater zurückbekommen. Dass sie dort auch ihre Mutter finden könnte, hätte sie nie erwartet.

Mein Eindruck

Im Herzen der umfangreichen Abenteuergeschichte geht es um etwas ganz Elementares: die Macht, die dem Menschen mit den Fertigkeiten des Lesens und Schreibens gegeben ist. Unter „Macht“ ist im Kontext des Buches „kreative Magie“ zu verstehen, also im Grunde nichts Negatives. Doch wie jede Fertigkeit kann auch Lesen und Schreiben zu egoistischen Zwecken missbraucht werden.

Magie des Vor-Lesens

Mo „Zauberzunge“ – der nicht umsonst so heißt – hat bereits Magie gewirkt, als er einmal begeistert aus „Tintenherz“ vorgelesen hat, so wie nur er es kann. (Ich darf hier nicht zu viel verraten.) Und seitdem hat er die Finger vom Vorlesen gelassen. Nun soll er für Capricorn noch einmal seinen Zauber ausüben, aber zu den Bedingungen und Zielen des Schurken. Dieser braucht für seine Welteroberungspläne massenhaft Gold und Juwelen. Und wo gibt es die? In den Büchern, so etwa in „Die Schatzinsel“ oder in „Ali Baba und die vierzig Räuber“. Mos Magie soll sie „herauslesen“ aus den Büchern. Ob das wohl funktioniert? Wir sind gespannt.

Magie des Schreibens

Doch nicht nur Lesen bzw. Vor-Lesen ist eine Art Magie, sondern auch Schreiben. Kreatives, einfallsreiches, Welten schaffendes Schreiben. Das hat der Autor von „Tintenherz“ getan, als er seine Fantasywelt schuf. Fenoglio macht große Augen, als er seine Schöpfungen nun nicht mehr auf den Seiten spazieren gehen sieht, sondern in der Straße vor seinem Haus – um ihn und Meggie zu entführen! Dann ist natürlich Schluss mit lustig, aber Fenoglio braucht eine ganze Weile, bis ihm der blutige Ernst der ganzen Angelegenheit aufgeht. Und wieder muss er sich etwas einfallen lassen. Schnell, bevor noch mehr Schaden angerichtet wird.

Der „Schatten“

Denn Capricorn sehnt sich nach einem alten „Freund“: nach dem „Schatten“. Das ist eine höchst interessante Schöpfung der Autorin, und in ihrer Geschichte spielt der Schatten eine entscheidende Rolle. Denn dieses Wesen ist ein Killermonster. So wurde es geschaffen, und so will Capricorn einsetzen. Das aschgraue Wesen soll seine Opfer zu Asche verbrennen. Die Getöteten werden zu einem untoten, geisterhaften Teil des Schattens. Es ist loyal zu seinem Dienstherrn, unverletzlich, unsterblich und mitleidlos. Mithin kann nichts die Vernichtung, die der Schatten verbreitet, aufhalten. Oder doch?

Meggies Magie

Die Heldin der Geschichte, aus deren Blickwinkel wir die meisten Szenen sehen, ist die junge Meggie. Sie ist keineswegs der Spielball der entfesselten Kräfte von Capricorn, Mo und Staubfinger und bleibt sehr ungern in ihrem Zimmer eingesperrt. Da die Bücher schon immer ihre besten Freunde waren, liest sie daraus vor, nur um Fenoglio zu unterhalten, doch wie sich zeigt, hat auch sie die Magie einer Zauberzunge. Von nun an ist ihr Anteil am Geschehen ein ziemlich aktiver. Leider wird ihr Talent bald entdeckt und soll missbraucht werden. Ihr fällt jedoch ein ausgetüftelter Plan ein, den sie mit Hilfe ihrer Freunde in die Tat umsetzen will. Daumen drücken!

Staubfinger

Dieser Gaukler ist sicherlich die schillerndste Gestalt in der Geschichte, und auch diejenige, die am meisten Unbehagen bereitet. Man weiß nie, auf welcher Seite er gerade steht. Er lässt sich nicht einfach in eine Schublade schieben: „Wenn er Mo und Meggie verraten hat, muss er schlecht sein.“ So funktioniert aber die Morallehre nicht, wenn man sie auf Staubfinger anwenden will. Er hat seine eigenen Ziele und Werte, von denen die anderen nur wenig erfahren. Außerdem ist er im engeren Sinne kein Mensch, sondern ein Fremder auf dem Planeten Erde. Wie könnte man also menschliche Maßstäbe auf ihn anwenden?

Diese und eine Reihe anderer Figuren – allen voran Capricorns Scherge Basta – führen die Handlung zu einem entscheidenden Finale. Bringt es Erlösung, Frieden und Liebe? Das soll hier nicht verraten werden.

Der Sprecher

Rainer Strecker versucht jeder Figur ihre charakteristische Stimme und Klangfarbe zu geben, und bei allen Hauptfiguren ist ihm dies gelungen. Zwei Handlanger des Oberschurken Capricorn weisen beispielsweise Sprachfehler auf. Basta ist ständig heiser, aber wovon, wird nicht klar. Und Flachnase hat, wie sein Name sagt, eine plattgehauene Nase, so dass er stets etwas näselnd klingt. Wie Strecker diese Übergänge mühelos schafft, ist mir ein Rätsel und immer wieder verblüffend. Andere Sprecher bedienen sich tontechnischer Hilfsmittel, doch Strecker scheint dies nicht nötig zu haben.

Nach einer Weile kennt der Hörer auch die Stimmen von Mo, Staubfinger und Meggie mühelos heraus, denn sie weisen alle eine eigene Sprechweise auf: Mo langsam und nachdenklich, Staubfinger, ebenfalls langsam, aber etwas heiser, und Meggie klingt immer wie ein zwölfjähriges Mädchen (nur nicht so hoch). Etwas nervig klingt „Tante Elinor“, die doch allzuleicht auch mal die Nerven verliert, besonders wenn die Schwarzen Männer Capricorns etwas Kriminelles von ihr wollen.

Die Musik

Ulrich Maskes Musik, die mal meditativ, mal dramatisch erklingt, bietet dem Hörer, wie gesagt, zwischen den Kapiteln Verschnaufpausen zum Nachdenken. Zu hören sind Maultrommeln, mittelalterliche Weisen, orientalische Impressionen, klassische Motive. Selbst ligurische Zikaden, Kirchenglocken und mysteriöse Geräusche werden in die Kompositionen eingeflochten.

Diese Motive sind eng mit den Figuren und der Handlung von „Tintenherz“ verknüpft, wenngleich der Komponist auf Unterlegungen (Hintergrundmusik) und Blenden zur Pausenmusik aus dramaturgischen Gründen verzichtet, wie der Verlag mitteilt. Musik und Text sind klar voneinander getrennt, aber die musikalischen Motive basieren auf Motiven des Textes. Ein ganzheitliches Klangerlebnis durch eine orchestrale Unterlegung des Vortrags gibt es also nicht. Das würde auch besser zu einem Hörspiel passen.

Mir hat die Musik wenig gefallen, denn ihr Grundprinzip ist relativ mechanisch: Es ist meist ein 4/4-Takt, wie mir scheint, was nicht gerade für Abwechslung sorgt. Die Kadenz mit dem Akkordwechsel wird über die Tonika, Subdominante und Dominante ausgeführt und variiert. Sehr simpel. Klingt wie auf dem Computer komponiert. Über der einfachen Basis liegen jedoch sehr einfallsreich arrangierte Instrumente und Samples aus der Natur – siehe oben. Ohne Variation, das wussten schon die Römer, kommt eben keine Freude auf.

Die Aufmachung des Hörbuchs

Im Gegensatz zur preisgünstigeren Sonderedition vom Juli 2005 (rund 40 Euro) weist die ältere Komplettausgabe (rund 70 Euro) eine bessere Ausstattung auf. Die 16 CDs stecken in vier Alben, welche sich wiederum in einem Schmuckschuber zusammenfassen lassen.

Sowohl die Steckalben als auch der Schuber sind mit Motiven aus der Buchkunst illustriert, so etwa mit zahlreichen Initialen. Diese ergeben wieder Erwarten kein Wort, doch die Initialen C. F. für Cornelia Funke sind allgegenwärtig.

Besonders schön ist jedoch die Gestaltung der vier Alben. Nicht nur hat jedes seine eigene durchgehende CD-Farbe – rot, grün, gold, schwarz – sondern ist auch an jedem CD-Steckplatz mit einer Schwarzweißzeichnung illustriert. Solche Zeichnungen zeigen Motive, die aus dem Inhalt der jeweiligen CD stammen, beispielsweise eine Steinhütte, Capricorns Dorf, eine Eidechse usw.

In jedem Album sind die Kapitelüberschriften ebenso verzeichnet wie die Titel der Musikstücke von Ulrich Maske, dem Komponisten und Produzenten. So behält man jederzeit den Überblick. Da jeder Musikclip einen eigenen Track besitzt, lässt er sich bei Nichtgefallen problemlos überspringen, sofern der CD-Player diese Funktion aufweist. Und nicht zu vergessen: Jedes Album bietet eine Kurzzusammenfassung an, quasi als Appetithäppchen.

Die Gesamtspielzeit des Hörbuchs beträgt rund 18 Stunden, denn Rainer Strecker trägt die ungekürzte Fassung vor. Damit man vom Text nicht erschlagen wird, gibt es die musikalischen Intermezzi, so dass man ein Päuschen einlegen kann.

Unterm Strich

„Tintenherz“ ist eine spannende Entdeckungsreise in die Reiche der Phantasie, wenn diese unsere Welt heimsuchen. Das Buch entpuppt sich als Allegorie auf die entfesselten „Zauberkräfte“ des Vor-Lesens und Schreibens. (Das hätte Professor Tolkien allerdings überhaupt nicht gefallen, wage ich zu vermuten, denn er lehnte alles Allegorische ab.)

Der Schlüssel zum Miterleben des Buches liegt im Mitfühlen von Meggies Erlebnissen. Junge Menschen können dies wahrscheinlich besser als erwachsene, aber auch für Letztere bietet das Buch etwas: die Einsicht, dass die Verantwortung für alles, was man mit Sprache oder Schrift erschafft, nicht mit der Veröffentlichung – sei es privat oder publik – endet, sondern dort erst beginnt.

Das Hörbuch …

… ist eine künstlerische Umsetzung, mit der so mancher seine Mühe haben wird. Einerseits wurde hier das Wort der Autorin bis zum Maximum respektiert, andererseits fordert die resultierende Textfassung Sitzfleisch: 18 Stunden wollen erst einmal bewältigt werden. Die schöne Ausstattung des substanziellen Pakets entschädigt allerdings für diese Mühe. Es ist ganz klar ein Sammlerobjekt.

Auch die Musik fordert Gewöhnung und Annäherung, auch wenn sie beim ersten Hören recht angenehm klingt. Die Kompositionen sind eigenwillig, im Sinne von originell. Aber dass der Rhythmus und der Aufbau der über 50 kurzen Stücke (= 16 mal drei bis vier) selten variiert wird, führte bei mir aus Überdruss zu einer Abwehrreaktion. Diese Reaktion ist sicherlich nicht im Sinne des Erfinders und dürfte, so steht zu hoffen, nur bei den wenigsten Zuhörern auftreten.

Die Fortsetzung

… ist bereits unter dem Titel „Tintenblut“ erschienen, und zwar sowohl in Buch- als auch in Hörbuchform. Ich wünsche Letzterem eine ebenso sorgfältige Produktionsweise, wie sie an „Tintenherz“ festzustellen ist.

CD: ca. 18 Stunden auf 16 CDs
auch als Einzelpakete à 4 CDs