Die Nibelungen erleben seit einigen Jahren eine große Renaissance und dies spiegelt sich in unzähligen Publikationen zu diesem Thema wider. Selbst in der Fantasy sind sie seit Wolfgang Hohlbeins „Hagen von Tronje“ und „Der Ring der Nibelungen“ populär geworden, nachdem diese früher ausschließlich von angelsächsischen Themen beherrscht war. Vor allem Worms, die Stadt des Nibelungenliedes, setzt in den letzten Jahren ihren touristischen Schwerpunkt auf die Nibelungen und ihr ist es mit den jährlichen Nibelungen-Festspielen im Sommer gelungen, Worms als Theaterfestspielstadt neben Bayreuth mit Wagners „Ring der Nibelungen“ international zu etablieren. An Fachliteratur erscheinen die Wormser Nibelungensymposien, veranstaltet von der Nibelungenlied-Gesellschaft, in jährlichen Bänden. Diese sind jedoch recht wissenschaftlich aufbereitet, und eine populärere Publikation, die auch für die breite Masse interessant ist, fehlte bisher. Dies hat sich nun mit der Gründung des |Worms|-Verlages geändert, welcher in Zusammenarbeit mit der städtischen Verwaltung künftig die vielfältigen Thematiken, die sich aus der Sage ergeben, in Einzelbänden erarbeiten wird. Als Erstes erschienen ist der Band zu Siegfried, was durchaus gegen den Trend in der Gesellschaft zu sehen ist. Denn die Favorisierung von männlichen Heldenfiguren ist trotz der Filmindustrie eher unpopulär. Normalerweise wird das schon fast tabuisiert und speziell im Nibelungenlied richtet sich der Blick heutzutage normalerweise auf Hagen oder neuerdings auch aufgrund der feministischen Sichtweise auf die Frauenfiguren Brunhild und Kriemhild und deren Königinnenstreit.
Den Blick auf Siegfried zu richten, ist aber sehr spannend, wie der Inhalt dieses Buches überzeugend zu vermitteln versteht. Schon in der Einleitung wird dies deutlich benannt: „Der Siegfried des Nibelungenliedes ist nicht der Sigurd der Edda, der Hürnen Seyfried des Spätmittelalters nicht der Siegfried von Engels und Heine, der Bismarck-Siegfried von 1871/72 nicht der Filmsiegfried der sechziger Jahre. Und doch sind all diese Siegfriede miteinander verwandt“. Diese Einsichten und Essays, von den derzeit führenden Nibelungenlied-Experten verfasst, sind mitunter sehr unterschiedlich und passen nicht auf den ersten Blick zusammen. Jedoch gerade diese Vielfalt von Eindrücken macht das Buch zu einem besonderen Erlebnis.
Der Inhalt:
Peter Csendes: Das Reich um 1200 – der Herrscher, die Fürsten und das Volk
Jürgen Breuer: Historische Siegfriedfiguren um 1200
Ulrich Wyss: Mittelalterliche Helden
Thomas Eichfelder: Siegfriedmythen von 1200
Walter Seitter: Siegfrieds Abstieg und Kriemhilds Aufstieg im 13.Jahrhundert
Ralph Breyer: Der Märchen- und Sagensiegfried des späten Mittelalters
Otfried Ehrismann: Die literarische Rezeption der Siegfriedfigur von 1200 bis heute
Klaus von See: Die politische Rezeption der Siegfriedfigur im 19. und 20.Jahrhundert
Susanne Tschirner: Heldenbilder in der Fantasyliteratur der Gegenwart
Johanna Werkmeister: Rollenspiele – Siegfried-Bilder im 19. und 20.Jahrhundert
Jürgen Lodemann: Siegfried – politisch, aktuell
Thomas Eichfelder/Volker Gallé: Siegfried und Worms
Ingo Runde: Siegfried und Xanten
Volker Gallé: Siegfried – Schmied und Drachentöter
Diese Inhaltsübersicht sollte reichen, denn auf die einzelnen Beiträge an dieser Stelle inhaltlich einzugehen, würde die Möglichkeiten einer Rezension weit übersteigen. Hervorzuheben ist dennoch vielleicht der Schlussessay von Volker Gallé, dem Kulturkoordinator der Stadt Worms, der auf fünfzig Seiten die zuvor geschilderten Facetten der Heldengestalt nochmals zusammenfasst, dies aber auf seine eindrucksvolle und meist innovative Art – wie mancher sie vielleicht bereits aus anderen seiner Publikationen bereits kennt – stark erweitert und nochmals ganz individuell akzentuiert. Gallé ist dies möglich, da sein Wissensspektrum eben nicht nur auf das Nibelungenlied beschränkt ist und er unzählige Bezüge zu historischen Trends aus der Geschichte der Vorzeit bis heute herzustellen versteht. Eine intellektuelle Reise von der Steinzeit über die Eisenzeit mit matriarchalen, naturreligiösen und schamanischen Aspekten, die Mythen ethnologisch in Bezug zu anderen Kulturen stellt. Fundiert schildert er den Wechsel der Figur der heidnischen Zeit in die christliche hinein, die durch die Kreuzzüge zur Zeit der Entstehung des Nibelungenliedes geprägt war. Vieles deutet auf eine Vergleichbarkeit zwischen Siegfried und der Christusgestalt hin. Parallel schildert er aber auch die Germanisierung des Siegfried als Arminius bis hin in die politische Ausschlachtung während des Dritten Reiches. Ohne in ein oberflächliches „New Age“-Niveau abzugleiten, liefert er in seiner bewährten Qualität spirituelle Deutungen, die nachdenkenswert bleiben und zu weiteren offenen Fragen zu führen verstehen. Ein Schwerpunkt liegt auch auf der Drachensymbolik, wo er beispielsweise über den Drachenpanzer sogar einen Schritt zur Körperpanzerung der modernen psychoanalytischen Körpertherapie beschreitet. In der Psychoanalyse selbst war vor den modernen Körpertherapeuten der Mythos ja ebenfalls Thema und wurde in den Figuren Sigmund Freud und C. G. Jung in der Frühzeit der Psychoanalytischen Bewegung bereits breit thematisiert. Diese nun doch ausführlichere inhaltliche Beschreibung des Schlusskapitels soll sicherlich die vorherigen Essays nicht schmälern, aber diese sind allesamt aus ihrem Titel heraus eher einschätzbar und übersehbar als diese vielfältige Breite des Schlusswortes.
Ein weiterer herauszustellender Bestandteil des Buches sind die unzähligen, meist farbigen Bilder, die sich durch fast jede Seite ziehen und es über den inhaltlichen Text hinaus auch zu einer Augenweide für den Leser machen. Dies ist auch so gewollt, denn der ursprüngliche Grund, der zu dieser Buchreihe überhaupt führte, liegt im unendlich scheinenden großen Fundus des Bildmaterials, über welches das 2001 eröffnete Wormser Nibelungenmuseum verfügt. Dies ist ein multimediales Literaturmuseum, das mangels vorhandener historischer Ausstellungsgegenstände ganz auf virtuelle Technik gesetzt hatte und dessen Besuch ein audiovisuelles Erlebnis darstellt. All die Bilder in einen Museumskatalog zu pressen, wäre ein zu umfangreiches, zu dickes und zu teures Projekt geworden. Da entstand dann die Idee, diese Bilder in einer Editionsreihe zu verwerten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Da die verwertbaren im Nibelungenlied vorhandenen Themen in sehr vielfältige Gesichtspunkte gerückt werden können, darf mit einer lang andauernden Editionsreihe gerechnet und dem neuen Verlag ein hoffentlich breiter Bekanntheitsgrad gewünscht werden. Für Nibelungen-Interessenten stellt das Unterfangen sicherlich eine große Bereicherung dar und zudem ist es auch ungewöhnlich, dass eine Stadt selbst einen Verlag gründet, zudem mit solch einer thematischen Intention. Vielleicht bekommt der Leser auch Lust auf einen Besuch im eigentlichen Museum und damit wäre dann ein sicherlich auch beabsichtigtes Anliegen der Herausgeber – nicht das einzige, natürlich – ebenso in Erfüllung gegangen. Ein Blick ins Internet sei deswegen am Schluss noch nachreichend empfohlen: http://www.nibelungen-museum.de. Im dortigen Shop kann man auch das hier vorgestellte Buch bestellen.
Gebundene Ausgabe: 303 Seiten