Gene Wolfe – Das Buch der Feiertage. Kurzgeschichten

Heitere, skurrile und bitterböse Einfälle eines großen SF-Stilisten

Dieses Buch mit originellen Geschichten erschien sinnigerweise direkt vor den Weihnachtsfeiertagen. Zu den US-Spezialitäten gehören allerdings Lincoln’s Geburtstag, Der Tag des Baums, der Sankt-Patricks-Tag (Iren aufgemerkt!), Tag der Erde, Tag der Streitkräfte, Heldengedenktag, Beginn der Jagdsaison, Tag der Kriegsheimkehrer und der Jahrestag des Waffenstillstandes (vom 18.11.1918).

Vertrauter sind uns da schon Valentinstag (14.2.), Allerheiligen, Vater- und Muttertag, Erntedank, Heiligabend, Weihnachten und Silvester.

Der Autor

Gene Wolfe ist einer der großen Stilisten der Science-Fiction. Insbesondere seine Kurzgeschichten sind meisterlich feinsinnige Gratwanderungen zwischen Realität und Phantasie, die zum Nachdenken anregen. Zu seinen wichtigsten Storysammlungen gehören „The Island of Dr. Death and other Storys“ (1980) sowie „Endangered Species“ (1989). Und natürlich das vorliegende „Book of Days“ (1981).

Die Erzählungen

1) Lincoln’s Geburtstag: „Die Rückkehr der Peitsche“ (1970)

Bei einer Konferenz über Menschenrechte in Genf ist Mrs. Bushman als amerikanische Beobachterin anwesend. Ihr Gatte Brad sitzt im Gefängnis und sie vermisst ihn. Ihr Robot-Sekretär ist sicherlich kein Ersatz. Der kündigt den Papst an, den zweiten Beobachter. Der Papst hat mittlerweile zwar nur noch etwa hunderttausend katholische Anhänger, aber er kann auf eine 2000-jährige Tradition zurückblicken. Es geht ihm darum, dass die Beobachter ebenso wie die ordentlichen Delegierten der Konferenz ebenfalls abstimmen sollen. Wie werde sie stimmen?

Etwas ist im Busch, ganz klar. Was es ist, wird Mrs Bushman klar, als der US-Delegierte sie anruft. Sie soll für die Wiedereinführung der Sklaverei stimmen. Da ihr Gatte unter den gefangenen sei, die als erste von dieser Vergünstigung profitieren würden, könne sie doch nicht anders als zuzustimmen, nicht wahr? Und sollte sie anders stimmen, würde man ihrer Organisation den steuerbegünstigten Status entziehen, was sie in erhebliche Geldnot bringen würde. Alles klar?

Als Mrs Bushman sich in einer Zwickmühle sieht, bietet ihr der Papst einen dritten Weg an…

Mein Eindruck

Die Wiedereinführung der Sklaverei ist mittlerweile weltweit eine Realität. Filme wie „12 years a slave“ stellen nur noch Rufe in der Wüste dar, ein willkommener Anlass, Krokodilstränen zu vergießen. Die hauptsächlichen Leidtragenden der Zwangsprostitution, Kinderarbeit, Schuldknechtschaft und Leibeigenschaft sind wie stets vor allem die Schwächsten: Frauen und Kinder. Sie sind die ersten, die von den Islamisten unterdrückt werden, wie man an den Taliban sehen kann.

Der dritte Weg, den der Papst anbietet, ist der Eintritt in einen Nonnenorden. Der Schutz, den eine Nonne genießt, ist indirekt: der Schutz, den der italienische Staat als Schutzmacht den Bürgern des Vatikans gewähren kann. Auf diese Weise entgeht sie dem Schicksal der Sklaverei, kann tätig bleiben und helfen. Diese Möglichkeit wird allerdings nur angedeutet; der Leser muss schon selbst darauf kommen.

2) Valentinstag: „Von Relais und roten Rosen“ (1970)

Die Wirtschaft beschwert sich bei einem Senator über das Wegbleiben der produktivsten Männer. Sie macht das kostenlose Heiratsbörseprogramm „Rote Rosen“ dafür verantwortlich. Es verspricht, jedem Mann seine Idealfrau zu vermitteln, und erstaunlicherweise klappt das auch. Hat der Anbieter von „Rote Rosen“ ein Orakel? Eine gerichtliche Anhörung soll das untersuchen.

Offenbar steckt dahinter lediglich ein neuartiger Computer namens Mark XX, der über ein Statistikprogramm verfügt, das entsprechende Kandidatenpaare zuweisen kann. Mehr steckt nicht dahinter? Leider ist der entsprechende Programmierer Tom Larkin sechs Monate in den Flitterwochen…

Mein Eindruck

Anno 1970 war diese Story noch recht amüsant und vielleicht sogar gewagt. Heute sind Partnervermittlungs-Dienste alltäglich. So ändern sich die Zeiten. Aber zumindest ist die Story geschickt erzählt, indem sie Gerichtsszenen mit Rückblenden auf das Firmengeschehen abwechselt. So kommt keine Langeweile auf.

3) Tag des Baums: „Pauls Baumhütte“ (1969)

Morris und Sheila sind allmählich besorgt darüber, dass ihr Sohn Paul sich in seine Baumhütte in 20 Metern Höhe zurückgezogen hat. Auch Nachbar Russel, ein ehemaliger Ingenieur, wundert sich, was das soll und fordert Morris auf, Paul zum Herunterkommen zu bringen. Doch alle solche Versuche sind ergebnislos.

Vielmehr hören die drei im Radio, dass der Gouverneur tags zuvor die Nationalgarde einberufen hat, um den Neonazis Einhalt zu gebieten, die gerade eine Friedensdemo angegriffen haben. Da hält ein Lastwagen vor dem Grundstück von Morris und Sheila, Männer in brauner Uniform springen heraus und greifen Morris mit Stöcken an. Die Steine, die Paul aus seiner Hütte auf sie wirft, bewirken nichts. Aber woher hat er schon am Tag vor zwei Nächten von diesem Notfall gewusst?

Mein Eindruck

Eine kleine Horrorvision ist diese Story, die den hilflosen und konditionslosen amerikanischen Vorstadtvater von seiner schwächsten Seite zeigt. Die mutmaßlichen Neonazis haben leichtes Spiel mit ihm, als sie ihn zusammenschlagen. Aber woher wusste Paul schon vorher Bescheid und zog sich rechtzeitig in seine schützende Baumhütte zurück? „You don’t need a Weatherman to know which way the wind blows“, sang Bob Dylan anno 1966. Dass auch die Hütte nicht sicher ist, geht aus der Story hervor: Man kann den Baum fällen oder ihn anzünden.

4) Sankt-Patricks-Tag: „St. Brandon“ (1975)

Opa Soherty erzählt dem kleinen Jungen eine Gutenachtgeschichte von Großmutter Katie und die war wie er selbst irischer Abstammung. Die Gutenachtgeschichte handelt vom irischen Helden Finn M’Cool und spielt in den Tagen, als Irland noch Könige hatte.

Der König gab seinem Recken Finn den Auftrag, St. Brandons Schiff von einer Ratte zu befreien, damit es nicht sinke, denn die Ratte täte sich am Holz und Leder des Rumpfes gütlich. Folgsam durchquert Finn die grüne Insel und trifft mit Hund und Katze im Hafen Bantry Bay ein. Das Schiff St. Brandons ist so riesig, dass ein Albatros, der an den Mast knallt, drei Tage braucht, um aufs Deck zu fallen und von dort nochmal drei Tage, um ins Hafenbecken zu plumpsen.

Doch zu Finns Erstaunen gehört der König der Ratten, der angeblich St. Brandons Schiff zum Sinken bringen wird, zur Besatzung. Er schleudert seine Katze an Deck, damit sie der Ratte den Garaus macht, und kehrt nach Hause zurück, denn dort gibt es immer was zu tun. Brandon setzt mit Ratte und Katze über, bis sie Boston erreichen. Der König der Ratten nennt die Katze eine gottlose Heidenkreatur. Sofort fangen sie an zu raufen. Da erscheint ein Engel und fragt Brandon, was der Radau soll. Brandon versucht es ihm zu erklären, aber Katze und Ratte streiten sich offenbar heute noch.

Mein Eindruck

Diese schöne religiöse Parabel, die irische Volkssagen und „tall tales“ nachahmt, erschien erstmals in 1975 in Wolfes Roman „Peace“, der zu einer der besten Geistergeschichten zählt. Man muss sich nicht mit Sagengestalten wie Finn M’Cool auskennen, um die Story und ihre Bildersprache zu verstehen: Er ist eine Art Herkules, der Aufgaben für den König erledigt.

5) Tag der Erde: „Beautyland“ (1973)

Ein Exsträfling hilft einem reichen Kerl, seine Atemmaske wiederzubekommen, die ihm Rowdies weggenommen hatten. Atemmasken sind unbedingt erforderlich, denn das Land ist praktisch verseucht. Der Reiche lädt den Armen, wie erhofft, zu sich ein und erzählt ihm die Geschichte, wie er zu seinem Reichtum kam.

Er besitzt ein Stück Land namens „Beautyland“, die letzte grüne Oase in den Vereinigten Staaten. Da er in der finanziellen Klemme saß, wollte er nicht das Land selbst verhökern, sondern nur das, was sich darauf befand: Bäume, Pflanzen und Wild. Die Leute sollten für deren Rettung und Bewahrung Spenden zahlen. Der Erfolg war fast gleich null. Doch dann machte er es umgekehrt und siehe da: Die Leute rissen sich förmlich um die Chance, eines der letzten Rehe und Kaninchen abzuknallen. Sogar die große Eiche konnte er zum Fällen verkaufen.

Mein Eindruck

Die Öko-Satire stellt die Erwartung auf den Kopf, jemand könnte an der Rettung der Natur interessiert sein, selbst wenn es kaum noch Luft zum Atmen gibt. Die Realität beweist das Gegenteil: Die Menschen wollen die Natur zerstören, aber warum? Darüber lässt sich prima spekulieren.

6) Muttertag: „Automobiles Missgeschick“ (1970)

Der Erzähler ist ein braver Bürger und Autofahrer, der aber eines Tages seine Kreditkarte verliert. Das Missgeschick veranlasst ihn, nicht seine angestammte Autowerkstatt in Anspruch zu nehmen und schon gar nicht deren gegenüberliegenden Konkurrenten, sondern die dritte Werkstatt am Ende des Dorfes. Diese gehört einem gewissen Bosko, der einen Jungen namens Bubber hat.

Der Serviceauftrag wird akzeptiert, doch als Ersatzfahrzeug erhält unser Mann einen großen Bus. Als er seinen Wagen nach dem „Service“ wiederbekommt, springt dieser morgens nicht mehr richtig an. Also wendet er sich an Bosko. Der erklärt ihm zu seinem Erstaunen, was es mit dem „Service“ wirklich auf sich hat: Es geht um die Fortpflanzung unter Automobilen…

In der Tat befindet sich sein Wagen schließlich vor der „Entbindung“ und er bekommt anderntags ein weiteres Auto auf den Hof gestellt. Aber was für ein räudiger Bastard dies ist! Kein Wunder, dass man in Detroit auf reinrassige Stammbäume größten Wert legt. Den Bastard loszuwerden, erweist sich als schwieriger als gedacht, denn offenbar gibt es noch andere Opfer von Boskos Spezialservice…

Mein Eindruck

Eine solche Story über die Fortpflanzung unter Automobilen als Beitrag zum Muttertag zu veröffentlichen, ist sowohl amüsant als auch bitterböse, je nach Humorlage. Auf jeden Fall bringt die Geschichte den Leser auf abwegige Gedanken. Gut möglich, dass sich noch andere Apparate und Maschinen auf unnatürliche Weise fortpflanzen. Es werden ja schließlich immer mehr…

7) Tag der Streitkräfte: „Die blaue Maus“ (1971)

Lonnie Daws kämpft bei den UN-Truppen gegen die Rebellen, um den Frieden zu erhalten. Von Haus aus ist er Biologe, züchtet Mäuse und versteht die Verhaltensweisen von Gruppen zu deuten. Der Geheimdienstoffizier tut das nicht, sondern verdonnert den abweichlerischen Lonnie zu psychiatrischer Behandlung. Dazu kommt es nicht: Das Camp wird von Mörsergranaten und Raketen getroffen.

Nach einer Weile rettet sich Lonnie vor dem Kugelhagel in einen Schützengraben, aber darin liegt bereits ein Rebell, der einen Flammenwerfer bei sich hat. Auch der ist uneinsichtig und alles andere als friedliebend: Er zückt ein Messer, um Lonnie, der ihm gerade einen Verband angelegt hat, zu erstechen. Nun, daraus wird auch nichts, und Lonnie sieht ein, dass Angriff die bessere Hälfte der Tapferkeit ist. Er schnappt sich den Flammenwerfer und kommt seiner Aufgabe nach, den Frieden zu erhalten…

Mein Eindruck

Der Storytitel bezieht sich auf die blauen Helme der UN-Truppen, und dass Lonnie Daws eine „Maus“ statt ein Mann ist, nimmt man zumindest am Anfang an: ein Feigling, der zuviel Grips hat, um eine Knarre zu bedienen. Außerdem werden Waffen bei der UN-truppe vollautomatisiert von Computern gesteuert. So gesehen ist der Kampf Mann gegen Mann ein Rückfall in archaische Zeiten und Gepflogenheiten. Das verheißt nichts Gutes.

Und dass die Kämpfer den „Frieden“ erhalten, wie er gegenüber einer alten Frau behauptet, ist natürlich blanke Selbsttäuschung – oder das Nachplappern verlogener Propaganda. Die Waffen der UNO sind genauso tödlich wie die des Gegners.

8) Heldengedenktag: „Wie ich den Zweiten Weltkrieg verlor und mithalf, die deutschen Invasoren zurückzuwerfen“ (1973)

Der Schreiber ist ein begeisterter Entwickler von Brettspielen, insbesondere wenn sie mit Strategie zu tun haben. Sein neuestes Spiel, das er anno 1938 mit einem Kumpel namens Lansdowne entwickelt, nennt er „Weltkrieg“. Da ihm noch ein paar Ideen für strategische Neuerungen, insbesondere Waffen- und Logistiksysteme fehlen, reist er im Sommer zur Weltausstellung im idyllischen englischen Städtchen Bath. Hier werden Herr Hitler und Herr Churchill erwartet. Das könnte spannend werden.

Tatsächlich ist das Interesse ebenso groß wie der Besucherandrang und die Medienpräsenz: Allein drei Fernsehteams aus den USA verfolgen das Geschehen. Die Deutschen sind die führende Wirtschaftsmacht Europas geworden und schicken sich nun an, mit einem preisgünstigen „Volks-Wagen“ den englischen Markt zu erobern.

Unser Mann in Bath freundet sich zunächst mit einem ehemaligen Flieger-As namens Hermann Göring an, der ihm die Sache mit dem Sturzkampfbomber und den schnellen Panzern erklärt. Der Chronist erfreut Göring durch seine schnelle Aufassungsgabe: „Ah, ein Blitzkrieg!“ Genau. Und weil Göring so ein netter Mensch ist, lädt er unseren Mann ein, bei Herrn Hitlers Präsentation des „Volks-Wagens“ dabei zu sein, und zwar ganz vorne. Bis dahin nimmt sich der Erzähler Zeit für ein Pläuschchen mit Herrn Churchill, dem seit Gallipoli (1916) geschassten Lord der Admiralität, der nun offenbar Journalist ist.

Irgendwie kommt es dazu, dass Churchill und Herr Hitler eine Wette abschließen, ob der „Volks-Wagen“ oder das britische „Centurion“-Auto ein Rennen gewinnen könne. Aber bitte unter realistischen englischen Bedingungen! Das heißt, die ebenfalls anwesenden Japaner stellen mit ihren ferngesteuerten Mini-Autos den Stadtverkehr nach, ebenso einen Verkehrsstau usw. Man sieht schon, worauf diese Wette hinausläuft: auf Spielregeln!

Der Ausgang des nun folgenden, recht kuriosen Rennens, das auf der Bahn um das Ausstellungsgelände von Bath stattfindet, darf hier nicht verraten werden. Doch wer Regeln aufstellt, darf sie nicht brechen. Wenn er aber gewinnen will, sollte er aber ein paar Tricks einsetzen, die die Regeln, nun ja, ein bisschen BIEGEN können. Und dabei kommt eine neue japanische Erfindung namens „Transistor“ zum Einsatz…

Mein Eindruck

Beim Großteil der Erzählung handelt es sich um einen Leserbrief an den Herausgeber einer Zeitschrift für Brettspiele, datiert auf das Jahr 1938 und auf den 1. April – ausgerechnet! Am Schluss bedankt sich der Herausgeber und enthüllt die Identität des Schreibers als die eines „amerikanischen Offiziers deutscher Herkunft,“, der den Vornamen „Dwight“ trägt. Es ist für jeden Historiker klar, dass es sich dabei um Dwight Eisenhower handeln dürfte, der bis 1959 Präsident war – zumindest in unserer Welt.

Der Titel der Geschichte ist nicht ganz wörtlich zu verstehen. Mit dem „Zweiten Weltkrieg“ meint Dwight sein eigenes Spiel. Und mit den „deutschen Invasoren“ sind die „Volks-Wagen“-Verkäufer gemeint, darunter auch Herr Hitler.

Ich muss wohl nicht extra darauf hinweisen, dass der Schauplatz dieser amüsanten, höchst interessanten und sehr gediegen erzählten Geschichte nicht die Welt mit der uns bekannten Historie ist, sondern eine mit einem alternativen Geschichtsverlauf. Hier werden beispielsweise an keiner Stelle die Zeppeline erwähnt und schon gar kein Absturz der „Hindenburg“. Aber die Parallelen von Dwoghts Spiel zum echten Zweiten Weltkrieg sind unheimlich und unübersehbar. Churchill warnt ihn, es nicht noch zu einer Art Weltenbrand kommen zu lassen. Zwei japanische „Städte“ hat Dwight mit der Asche seiner Pfeife bereits „zerstört“…

9) Vatertag: „Der Adoptivvater“ (1980)

John Parker lebt i m 75. Stockwerk eines heruntergekommenen Hochhauses mit seiner Familie: Roseanne ist seiner Frau, Robert, Tina und Marian seine Kinder. Er macht sich Sorgen: Seine Kinder sehen ihm gar nicht ähnlich. Als er bei der vollcomputerisierten Behörde vorspricht, bekommt er keine weiteren Unterlagen zu ihnen. Als er mit der Familienberaterin Mrs Harris spricht, ist sie über sein Ansinnen, adoptiert werden zu wollen, verblüfft. Auch hier hat er keinen Erfolg.

Also schreitet er zur Tat. Im 67. Stockwerk ahnt er, dass dort in einer bestimmten Wohnung etwas nicht stimmt. Er tritt die Tür ein, und tatsächlich: Eine ältere Frau liegt tot im Bett – eine Überdosis Schlaftabletten – und ein Junge versteckt sich im Bad. Diesen Jungen, Mitchell, adoptiert er quasi vom Fleck weg, ganz informell. Mit einem gefälschten Scheck schiebt er die Entdeckung des Mietrückstandes auf und bringt die Leiche an einen Ort, wo sie leicht gefunden wird. Dann kann er sich endlich einen schönen Tag mit Mitch machen.

Mein Eindruck

Sicherlich ist dieser Adoptivvater nach „normalen“ Maßstäben verrückt, aber was heißt das schon. Jeder ist auf seine eigene Weise verrückt. Und John Parkers Verrücktheit rettet wahrscheinlich Mitch das Leben. Und nur ist dieser Akt der Nächstenliebe leider völlig illegal. Das macht die Geschichte umso amüsanter.

10) Tag der Arbeit: „Forlesen“ (1974, über 65 Seiten!)

Er erwacht mit den Schuhen im Bett, das im Schlafzimmer steht, welches wiederum als Küche dient. Deshalb wecken ihn die Geräusche, die die Frau macht, als sie das Frühstück zubereitet. Durch sie erfährt er, dass er Emanuel Forlesen heißt und als Manager für die MMP arbeitet: die „Modell-Muster-Produkte GmbH“. Er habe nur noch wenig Zeit, um loszufahren, damit er noch rechtzeitig zu Arbeitsbeginn eintrifft. Sie gibt ihm einen Stapel mit „Orientierungshilfen“, in denen steht, was er zu tun und was zu lassen hat. Keine Kinder? Sind in der Schule. Und das Auto? Steht vor der Tür. Los geht’s.

Forlesen hält sich unterwegs nicht an die Vorgaben. Er hält am Autobahnrand und entdeckt, dass sich die Trägersäulen der Brücke bewegen. Ein bewaffneter Autofahrer zwingt ihn weiterzufahren. Als nächstes nimmt er einen Anhalter mit, was ebenfalls streng verboten, aber unendlich aufschlussreich ist. Der Mann heißt Abraham Beale und wurde praktisch enteignet. Jetzt lebt er als Tramper und Tagelöhner.

Im Büro, das nach einer Baustelle aussieht, darf er am Schreibtisch seines Vorgängers Platz nehmen, einem gewissen Cappi Dillingham. Das D ist wichtig, denn mittlerweile fangen alle Personennamen mit F an. An der Tür seines Vorgesetzten Fields steht noch „D’Andrea“. Was aus den ganzen E’s geworden sein mag, wundert er sich. Fields will ihn zu einem „scharfen Hund“ machen – was auch immer das heißen mag. Denn schon nach der Mittagspause ist Fields ausgetauscht worden. Fields‘ Vorgesetzter ist Freeling, und auch dessen Sekretärin wechselt ständig den Namen, aber nicht das Gesicht.

Das Seminar über Kreativität ist ein Flop, ein Fragebogen wird von Forlesen umgeschrieben, das Trennglas zwischen Büro verzerrt die Gestalten und am Schluss des Tages ruft ihn der Boss höchstselbst. Mr. Frick überreicht ihm eine Auszeichnung, die er, wie Forlesen glaubt, gar nicht verdient hat. Er hat sich ja nur geschickt hindurchgemogelt.

Der Abend des Tages ist so rätselhaft wie der Morgen – und er hat offenbar nur diesen einen Tag zu leben, als wäre er eine Eintagsfliege: Sein Sohn sperrt ihn in einen Sarg. Der Begleiter seines Sohnes will wissen, ob Forlesen einen Geistlichen sprechen oder irgendwas beichten wolle. Forlesen weigert sich, irgendetwas zu verraten. Und das war’s dann für ihn – bis zum nächsten Erwachen?

Mein Eindruck

Als wäre er eine Eintagsfliege, ist Forlesens ganzes Leben in einen Tag gepackt, und er versteht nicht einmal die Regeln, nach denen er sich richten soll, geschweige denn die Arbeit, die er erledigen soll. In seinem Körper ist er nur ein Gast, selbst seine „Frau“ erkennt ihn in der Mittagspause zunächst nicht wieder. Wer weiß, wo sich seine Seele zwischen den „Gast-Spielen“ aufhält, vielleicht in einem tiefgekühlten Gedächtnisspeicher? Diese Story hat große Ähnlichkeit mit den besten Romanen von Philip K. Dick.

Aber der Autor setzt nicht die Dick’sche Basis-Konstruktion von „Ich-Kosmos“ und „Allgemein-Kosmos“ um, sondern benutzt seine Hauptfigur dazu, auf satirische Weise die Sinnentleertheit und den Egozentrismus des Unternehmens, für das Forlesen arbeiten MUSS, zu demonstrieren. Es ist nicht nur Schein-Arbeit und Schein-Motive, sondern auch Schein-Körper, die hier am Werk sind. Am Schluss gibt’s einen Schein-Award für diese Schein-Arbeit, als wäre dies alles ein Gastspiel, das nach unbekannten Regeln abläuft, wie ein aufgezogenes Uhrwerk in einer Rathausuhr.

Entgegen meiner Erwartung ist diese lange Novelle zu keinem Zeitpunkt langweilig oder nervend, ganz im Gegenteil: Der Leser muss mitdenken, um zu merken, was hier alles nicht stimmt. Und der Schluss kommt durchaus überraschend, wenn auch sehr makaber. Insofern ist diese Erzählung ein perfekter und unterhaltsamer Kommentar auf den „Tag der Arbeit“ (der in USA an einem Tag als in Europa gefeiert wird, nämlich am ersten Montag im September).

11) Beginn der Jagdsaison: „Ein Artikel über die Jagd“ (1973)

Ein Reporter will sich an einer Jagdpartie in den Rockies beteiligen und gerät in ein irrwitziges Abenteuer. Der Bär scheint mindestens ebenso schlau zu sein wie die reichlich unterbelichteten Jäger. Diese wollen angeblich den Bären nur betäuben, doch am Ende, als ihr „Schützling“ bereits mit Betäubungsmitteln vollgepumpt ist, schlagen sie ihm den Schädel ein…

Mein Eindruck

Dieser „Jagdausflug“ schildert eine Männerwelt, die noch scheinbar völlig intakt ist. Aber der Schein trügt. Immer mal wieder blitzt ein Wort auf, das den Erwartungen des Lesers widerspricht. Da erfahren wir beispielsweise, dass der Besitzer der Hündin „Sweet Sue“ die drei Welpen der junge n Mutter ertränkt hat. Und als ob es etwas Beiläufiges und Allfälliges wäre, zerrt der Bullterrier „Lancelot“ am Ende der Jagd „Sweet Sue“ am Hinterteil ins Gebüsch, aus dem sie nie wieder zurückkehrt…

Unter der Oberfläche existiert nicht nur unter den Tieren die primitive Wildheit, sondern auch unter den Jägern. Von Kontrolle, wie man dem Reporter versprochen oder vielmehr vorgemacht hat, kann überhaupt keine Rede sein. Als er mit einem Bein in eisiges Bachwasser gerät und sein Fuß vor Kälte blau anläuft, wirft einer der Jäger seinen Stiefel hinter einem Hasen her, statt ihm zu helfen, den Fuß warmzuhalten. Es ist schon ein spezieller Fall von Wahnsinn, aber offenbar einer mit Methode.

12) Tag der Kriegsheimkehrer: „Der Wechselbalg“ (1968)

Als der Mann, der sich ‚Peter Palmer‘ nennt, aus dem Koreakrieg, einem China-Aufenthalt und einer Haftstrafe zurückkehrt, sind Jahre vergangen, seit er seine Familie zuletzt gesehen hat. Er trampt nach Cassonsville, seinem Heimatdorf irgendwo jenseits von Kansas, und es stellt sich heraus, dass der Fahrer Ernie Cotha ist, ein alter Schul- und Spielkamerad.

In den gemeinsamen Erinnerungen, die die beiden ausgraben, stößt Peter zum ersten Mal auf einen Widerspruch, aber es soll nicht das letzte Mal bleiben: Soweit er noch weiß, balgte er sich damals bei dem Experiment mit dem Frosch nicht nur mit seiner Schwester Maria Palmieri, sondern auch mit ihrem Bruder Peter. Der müsste jetzt in seinem Alter sein. Aber Ernie sagt nein, Peter ist erst acht Jahre alt.

Die Palmieris nehmen ihn herzlich auf, und er bekommt sogar Marias Zimmer, solange sie in Chicago aus einem Seminar weilt. Da ist Paul, hochaufgeschossen und stark, und schließlich ist da auch Peter, und er ist wirklich acht Jahre alt. Nach weiteren Erkundigungen erkennt unser Mann, dass dieser kleine Peter schon immer acht Jahre alt gewesen ist und immer sein wird. Eines tages brachte ihn Mama Palmieri mit, erzählt Papa Palmieri. Sie bekam ihn von den Nonnen.

Aber was ist dann mit ihm selbst, fragt sich der Heimkehrer. Das Klassenfoto von 1944 zeigt sein Gesicht nicht, und auch in der Stadtzeitung wird er nicht erwähnt: Das alte Archiv brannte 1945 nieder. Niedergedrückt erkennt er, dass für ihn kein Platz in diesem Dorf ist – und auch sonst nirgends. Er verkriecht sich in einer Höhle auf der Flussinsel, wo sie damals immer gespielt haben.

Mein Eindruck

Diese beunruhigende Erzählung ist eine Parabel auf das Schicksal aller Soldaten, die nach Jahren an der Froint und in Gefangenschaft keinen Platz mehr in der alten Heimat mehr hatten oder fanden. Sie waren nicht nur entwurzelt – es war, als hätten sie nie existiert. Was damals galt, gilt auch heute noch.

Gene Wolfe offenbart den unheimlichen Bewusstseinszustand des Unbeheimatetseins ganz sachte, indem er den kleinen Peter Palmieri einführt: Ist dies der titelgebende Wechselbalg – oder eine Massenhalluzination? Denn warum altert Peter nie, wird er aber von allen geduldet?

13) Halloween: „…der Häuser viele“ (1978)

Auf der Siedlerwelt Breaker wendet sich die alte Frau Nor an die junge Frau vom Amt für Wiederaufbau, die mit einem Revolver bewaffnet ist. Es ist offenbar die Zeit nach einem verheerenden Krieg, der die ersten Siedler wie auch die Ureinwohner schwer dezimiert hat. Man kann annehmen, dass die alte Frau eine der wenigen Überlebenden ist. Sie berichtet Seltsames.

Da habe es mal intelligente Häuser gegeben, mit Gehirnen drin, und, da sie mobil waren, , da sie mobil waren, konnten sie sich bewegen. Und als der Krieg kam, da versteckten sich die klugen Häuser, und mehr als eines verbarg sich am Grunde eines Sees. Man kann nicht genau sagen, ob die alten Häuser bewohnt waren, aber zwei Geschichten scheinen das zu bestätigen.

Wie auch immer: Da kommt Todd, der Mann von Nor, nach Hause, und entwaffnet die junge Beamtin kurzerhand. Die ist misstrauisch geworden, weil sich der Holzfußboden bewegt hat. Und dann ist da noch Großtante Enid, die plötzlich auftaucht, an ihrer Seite die Vorgängerin der Beamtin vom Wiederaufbauamt. Keiner kommt hier lebend raus…

Mein Eindruck

Die stimmungsvolle, hinterlistige Erzählung über die beweglichen Häuser von Breaker ist eine astreine Geistergeschichte. Ich werde mich hüten, die Pointen, die darin versteckt sind, zu verraten. Man sollte sie auf jeden Fall zweimal lesen.

14) Jahrestag des Waffenstillstandes (vom 18.11.1918): „Gegen die Staffel Lafayette“ (1972)

Unser Berichterstatter hat von eigener Hand einen Nachbau eines Fokker-Dreideckers aus dem Ersten Weltkrieg hergestellt, komplett mit selbstgeschnitztem Rotorblatt, bespannten und lackierten Flügeln sowie einem Motor nach originalen deutschen Konstruktionsplänen. Er ist mächtig stolz darauf, wenn er ihn mit seinem Laster über die Landstraße zum Flugplatz schleppt und die Leute aus ihren Häusern kommen, um den Flieger zu bestaunen.

Doch eines Tages hat er ein seltsames Erlebnis in den Lüften, und das verfolgt ihn bis heute. Er entdeckt nämlich einen reichlich bunten Ballon, in dessen Weidenkorb nur ein einziger Passagier steht: ein Mädchen, das ihm einladend zulächelt. Weil ihm der Sprit auszugehen droht, verabschiedet er sich, doch das Mädchen zeigt auf eine Flasche, das es zum Abschied auf sein Wohl trinkt: Bei der Flasche handelt es sich um die erste Ausführung einer weltbekannten Brausemarke. Er fliegt zurück, doch seitdem sucht er den Ballon des Mädchens vergeblich in den Lüften…

Mein Eindruck

Die Zeiten verschmelzen hier ineinander, und der Leser muss etwas aufpassen. Durch die exakte Beschreibung des Fliegers entsteht der Eindruck, es handle sich um eine realistische Geschichte, doch dem ist nicht so. Kaum in den Lüften, wähnt sich unser Hobbyflieger im Luftraum über Südengland oder Nordfrankreich und erwartet den Angriff einer feindlichen Fliegerstaffel – siehe den Titel der Story.

Doch dann taucht der Ballon auf und flugs glaubt der Flieger, er befinde sich im Amerikanischen Bürgerkrieg. Dann taucht die Coca-Cola-Flasche in den Händen des Mädchens auf.

15) Erntedank: „Drei Millionen Quadratmeilen“ (1971)

Dick ist ein klein wenig verrückt, aber darin sehr pedantisch, und das geht seiner Frau Betsy immer mehr auf den Zeiger. Auf einmal meint er entdeckt zu haben, dass es in den Vereinigten Staaten über drei Millionen Quadratmeilen unbesiedeltes Land gebe, und diese Fläche entspräche etwa 90 prozent des gesamten Staatsgebiets. Wie behämmert ist das denn? Sicherlich gehört dieses Land schon jemandem.

Als er anfängt, die Seitenstreifen von Landstraßen und Autobahnen zu vermessen, verlässt sie ihn. Er fährt ihr nach, verirrt sich aber auf einem Autobahnkreuz. Auf einer Tankstelle gibt ihm der Pächter einen Geheimtipp, wie man auf die andere Seite der Autobahn in die richtige Richtung gelangt, statt einen langen Umweg fahren zu müssen. Doch der erwartete kurze Spaziergang zur Autobahn entpuppt sich als Exkursion ohne Ende…

Mein Eindruck

Ja, wo sind sie nur geblieben, die 3 Mio. Quadratmeilen? Womöglich handelt es sich um Unmengen von Brachland auf Autobahnseitenstreifen, um Abzugsgräben, industrielles Brachland und was nicht alles. Niemand würde darauf kommen. Oder?

16) Heiligabend: „Krieg unterm Weihnachtsbaum“ (1979)

Der kleine Robin hat von seiner Mutter eine ganze Menge robotische Spielzeugfiguren geschenkt bekommen. Bär ist ihm der liebste, versteht sich. Aber in der Nacht von Heiligabend, wenn Robin schläft, ereignet sich unterm Weihnachtsbaum Schreckliches. Die alten Spielzeuge warten gespannt auf den Augenblick, in dem Robins Mutter die NEUEN Spielzeugfiguren aufstellt. Dann stürzen sich die alten auf die neuen Spielzeuge. Leider verlieren sie und landen im Kaminfeuer.

Am nächsten Morgen findet Robin die neuen Spielzeuge. Nur der Ureinwohner scheint beschädigt zu sein. Kann man umtauschen, meint seine Mami. Dann enthüllt sie ihm ein Geheimnis. Nicht nur Spielzeuge werden neu gebracht, sondern auch menschliche Nachkommen. Da guckt Robin sie ganz erschrocken an, statt sich zu freuen…

Mein Eindruck

Eine ebenso geniale wie böse Story. Vorbei ist’s mit dem Idyll unterm Christbaum, wenn die alten Spielzeugfiguren davongefegt werden. Und vorbei ist’s auch mit Robins Glauben, er sei der kleine und einzige Prinz seiner Mutter. Er braucht nur an das Schicksal der alten Spielzeuge zu denken und weiß Bescheid, was ihm blühen wird, wenn Mami eine neue Generation zur Welt bringen wird. Dann winkt ihm das gleiche Schicksal wie seinen alten Spielkameraden. Oder etwa nicht?

17) Weihnachtstag: „La Befana“ (1973)

Die Titelfigur ist die Weihnachtshexe, die in manchen Volkslegenden vorkommt. Sie wird von den hl. Drei Königen gebeten mitzukommen, um das Jesuskind zu suchen, doch sie wird nie fündig. Auf ihrem Weg verteilt sie jedoch Geschenke an die Kinder, die sie antrifft.

Es ist die Schwiegermutter, die nun die Rolle der Weihnachtshexe einzunehmen scheint – die Schwiegermutter von Teresa, der Frau von Mr. Bonnano. Sie ist mit einem teuren Ticket von der Erde auf diese raue Siedlerwelt gekommen und bei ihrem Sohn gar nicht so recht willkommen, denn sie beansprucht in der kleinen Hütte zusätzlich Platz. Nur Mark und Maria, die Kinder der Bonnanos, freuen sich über sie.

Ein anderer Weihnachtsgast ist jedoch willkommen, obwohl er gar kein Mensch ist: Zozz lebt in einem Schacht, hat sechs Beine, lange Reißzähne, spricht aber gut die Sprache der Menschen. Er kann sich in die Lage seines Freundes versetzen, und dieser bittet ihn nun, sich um die unwillkommene Alte zu „kümmern“. Null problemo…

Mein Eindruck

„La befana“ ist eine häufig abgedruckte Weihnachtsgeschichte, die wirklich ein mehrmaliges Lesen verdient. Nach dem Vorbild einer Hemingway-Kurzgeschichte (beispielsweise „Cat in the Rain“) ist das Wesentliche auf die knappste Formulierung reduziert und der Gehalt maximal verdichtet: jedes Wort zählt.

Wie sich herausstellt, ist die Schwiegermutter à la Befana wirklich nicht willkommen und soll ASAP entsorgt werden. Das weiß sie aber schon – und hat offenbar Vorsorge getroffen. Merke: Diese Story ist wirklich bitterböse und von schwärzestem Humor.

18) Silvester: „Auflösung“ (Melting)

Es ist die größte und großartigste Cocktailparty der Welt, findet John Edward. Nicht nur haben sich faszinierende Leute aus allen Gegenden der Welt in diesem Anwesen mit der großen Veranda und dem Luftschiff eingefunden – nein, sie kommen sogar aus allen beliebigen Zeiten. Cool, nicht? Bloß der Tibetaner oder Nepalese murrt, dass es sich durchweg um „tulpas“, also Geister handle.

Na, wenn schon! Die Blonde im einen Arm und die Kastanienbrünette im anderen sind echt genug – und ihre großzügigen Dekolletés ebenfalls. Leider müssen alle guten Dinge enden, und nicht ohne Grund warnt der Tibetaner vor Sonnenflecken, die tulpas vernichten. Kaum hat der Hahn gekräht und die ersten Sonnenstrahlen fallen in seine Wohnung, lösen sich die Geister der Gäste auf – und schließlich auch er selbst…

Mein Eindruck

Am Schluss wendet sich der Erzähler (= Autor?) an seinen Leser, dass er jetzt wirklich genug hat von all diesen Geistern seiner Phantasie.

Die Übersetzung

Die Zahl der Fehler hält sich in erfreulich engen Grenzen. Folgende Fehler habe ich mir notiert:

S. 57: „Manchmal we[r]de ich nämlich schwindelig.“

S. 70: „Anzug…dann, der er anhatte.“ Statt „er“ muss es „den“ es heißen, denn das Pronomen bezieht sich auf „Anzug“ und steht im Akkusativ.

S. 133: die Marsmonde „Deimos und Phöbos“. Korrekt muss es „Phobos“ heißen, denn das ist der griechische Namen für „Furcht“ (wie in „Phobie“). „Phöbos“ ist der Beiname von Apoll, dem Lichtgott.

S. 241: „nicht früher [u]nd jetzt auch nicht“. Das U fehlt.

S. 284: „Andere [wurden] deshalb ausgesucht, weil sie interessante Leute abgeben, wie ich.“ Hier fehlt ein ganzes Wort, und das ist kein Fehler eines Ausländers, der den Satz spricht, sondern ein Versehen des Übersetzers.

Unterm Strich

Die Collection versammelt Wolfes erste Storys aus den späten sechziger Jahren bis zu einer „brandneuen“ aus dem Jahr 1980. Seitdem hat sich der Meister zwar gewaltig weiterentwickelt, aber das Buch gewährt dem Sammler immer noch einen repräsentativen Einblick in das Frühwerk.

Für denjenigen Leser, der Wolfe erst noch kennenlernen will, sei angemerkt: Alle Geschichten warten mit einer speziellen Pointe auf. Wer die verpasst, sollte die Story nochmals lesen – es lohnt sich. Man sollte auf keinen Fall mehr als eine Geschichte pro Tag lesen. Puristen sei angeraten, die jeweilige Erzählung am dazugehörigen Feiertage zu lesen, das heißt falls sie den speziellen amerikanischen Feiertag zuordnen können.

Und das ist gar nicht so einfach. Vertraut sind uns in Europa zwar Valentinstag (14.2.), Vater- und Muttertag, Erntedank, Allerheiligen (30.11.), Heiligabend (24.12.), Weihnachten (25.12.) und Silvester (31.12.). Aber schom beim Tag der Arbeit hört die Vertrautheit auf: Der Labor Day ist am ersten Montag im September. Thanksgiving ist dann am letzten Donnerstag im November, also vor dem Black Friday und dem Cyber Monday, wie man inzwischen auch hierzulande gelernt hat – das wären auch zwei wertvolle Beiträge zu dieser Geschichtensammlung gewesen. Den Bank Holiday habe ich ebenso vermisst wie den Guy Fawkes Day („Remember, remember the fifth of November!“), der in England seit 1605 gefeiert wird. Der Autor hat eben amerikanische Feiertage berücksichtigt.

Es gibt erstaunlich viele Kriegsgeschichten in dieser Sammlung, angefangen vom UN-Soldaten und dem Kriegsheimkehrer, über den Mann, der Göring, Hitler und Churchill an selben Tag begegnet, bis zum Hobbyflieger, der sich in den Ersten Weltkrieg verirrt. Selbst der harmlos klingende Titel „Pauls Baumhütte“ enthält den Anfang eines Bürgerkriegs, und „Beautyland“ erzählt vom Krieg des Menschen gegen die Natur. Selbst die so irisch-übertrieben daherkommende Fabel „St. Brandon“ handelt vom Krieg – zwischen Heiden und Christen bzw. Gläubigen und Ungläubigen. Sogar unterm Weihnachtsbaum herrscht der Kriegszustand.

Die „harmlosen“ Storys muss man mit der Lupe suchen, so etwa „Von Relais und roten Rosen“. Aber ist es überhaupt die Aufgabe der Phantastik, harmlos-nette Geschichten allein zur Unterhaltung des Lesers zu liefern? Gene Wolfe hat diese Frage eindeutig mit Nein beantwortet.

Broschiert: 288 Seiten
Info: Gene Wolfe’s Book of Days, 1981
Aus dem US-Englischen übertragen von diversen Übersetzern.
www.heyne.de

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