Spannende, abwechslungsreiche Fortsetzung
Eine Million Jahre in der Zukunft. Die Technik ist bis auf wenige Reste verschwunden. Die Menschheit dämmert auf einer mittelalterlichen Kulturstufe dahin und harrt der Ankunft der Neuen Sonne, die ein neues Zeitalter der Zivilisation heraufführen soll.
Dies ist die Geschichte Severians, des Waisenjungen, der in der Zunft der Folterer aufwächst und sein Handwerk erlernt. Bis er eines Tages aus Mitleid einer Frau den Selbstmord gestattet und deshalb aus seiner Zunft ausgestoßen wird… Sein ehemaliger Meister schickt ihn mit einem Auftrag in die große Stadt Thrax, doch auf dem Weg dorthin gelangt er in den Besitz eines magischen Objekts, der „Klaue des Schlichters“, und lernt zudem den Autarchen kennen, den obersten Herrscher der Welt.
„Das Schwert des Liktors“:
Inzwischen ist Severian professioneller Henker, ein sogenannter „Liktor“, und in Thrax zudem Gefängnismanager. Eines Tages „legt er sein Amt nieder und durchstreift die Ruinen einer uralten Stadt. Er spürt die Seele eines fremdartigen Wesens auf, das den Körper eines Menschen bewohnt. Und in der dunklen Burg am Meer begegnet er den Außerirdischen.“ (erweiterte Verlagsinfo)
Der Autor
Gene Wolfe ist einer der großen Stilisten der Science Fiction. Insbesondere seine Kurzgeschichten sind meisterlich feinsinnige Gratwanderungen zwischen Realität und Phantasie, die zum Nachdenken anregen. Zu seinen wichtigsten Story-Sammlungen gehören „The Island of Dr. Death and Other Stories“ (1980; s. meinen Bericht) sowie „Endangered Species“ (1989; s. meinen Bericht). Und natürlich das „Book of Days/Das Buch der Feiertage“ (1981; s. meinen Bericht).
Seine wichtigsten SF-Romane gehören den drei Zyklen um die Sonne an – die neue, die lange und die kurze:
1) Der Schatten des Folterers
2) Die Klaue des Schlichters
3) Das Schwert des Liktors
4) Die Zitadelle des Autarchen
5) Die Urth der Neuen Sonne
DAS BUCH DER LANGEN SONNE
1) Die Nachtseite der Langen Sonne
2) Der See der Langen Sonne
3) Der Caldé der Langen Sonne
4) Der Exodus aus der Langen Sonne
THE BOOK OF THE SHORT SUN (unübersetzt)
1) On Blue’s Waters
2) In Green’s Jungles
3) Return to the Whorl
Weitere SF-Romane:
1) Frees Vermächtnis
2) Operation Ares
3) Der fünfte Kopf des Zerberus
Wichtige Fantasyromane sind:
1) MYTHGARTHR 1: Der Ritter (dt. bei Klett-Cotta)
2) MYTHGARTHR 2: Der Zauberer (dt. bei Klett-Cotta)
3) Soldat des Nebels (dt. bei Heyne; Band 1 eines Zyklus’ aus bislang 3 Romanen)
4) Peace (unübersetzt)
5) Der Teufel hinter den Wäldern (Bastei-Lübbe)
Handlung
Im Haus der Ketten
Severian hat von seinem früheren Meister Palaemon den Auftrag erhalten, einen Posten in der nördlichen Bergstadt Thrax anzunehmen und dort das Gefängnis zu verwalten. Es sind über 1500 Häftlinge, die da in den Korridoren angekettet sind, und Einzelzellen gibt es nicht. Severian hat viel zu tun, um den Laden auf Vordermann zu bringen, denn es gibt mehrere Möglichkeiten für die Häftlingen, den Ketten zu entkommen. Diese Schlupflöcher muss er stopfen.
Aber er muss auch den täglichen Gerichtsverhandlungen beiwohnen und durch Folter Geständnisse erzwingen. Alles in allem ist der Job ganz schön stressig, und das bekommt seine Gefährtin Dorcas zu spüren: Er kommt erst spätabends erschöpft nach Hause und hat für die Liebe kaum Zeit. Andererseits macht sich die „Klaue des Schlichters“, ein Juwel, positiv bemerkbar: Sie schenkt ihm Kraft und Ruhe, aber auch beunruhigende Visionen. Bisher hat er damit einige Menschen heilen können.
Dorcas
Die vernachlässigte Dorcas, seine gleichberechtigte Partnerin, die weiterhin nach ihrer Herkunft sucht, macht es sich zur Gewohnheit, die große Stadt zu durchstreifen, einzukaufen und die öffentlichen Bäder zu benutzen. Dabei stellt sie fest, dass sie für die Bürger keineswegs eine unsichtbare Frau ist. Aber was wollen die Leute? Diesmal schert sie sich die Haare kurz, steckt eine Pfingstrose (ein Zeichen des Zorns) in ihr Stirnband und geht als Knabe verkleidet in die Stadt.
Von den Zinnen des Burgfrieds erspäht Severian die Vermisste am Ufer des Flusses Acis, eilt zu ihr, doch sie ist unansprechbar. Er quartiert sie in ein Wirtshaus ein und erklärt ihr seinen Beruf und dessen Sinn. Außer einer Träne ist ihr jedoch keine Antwort zu entlocken. Auf dem Rückweg ins Haus der Ketten verirrt er sich und steht schließlich vor einer Hütte. Ein Junge mit entzündetem Auge bettelt ihn an und bittet um Hilfe für seine kranke Schwester, die in der Hütte liegt. Severian ist versucht, die Klaue einzusetzen, doch es gibt nicht nur den Jungen, sondern auch dessen abweisenden Vater als Zeugen. Also geht er wieder.
Ein Maskenball
Der Archon Ardiebus höchstselbst lädt Severian, seinen Henker und Kerkermeister, zu einem abendlichen Maskenball im Palast ein. Severian solle in vollem Ornat seiner Zunft auftreten, also mit Maske, Mantel und Schwert. Ob er wohl bereit wäre, auch eine Exekution mit bloßen Händen auszuführen? Kein Problem. Wer das Subjekt sein soll, werde er beizeiten erfahren.
Alle im nächtlichen Palast sind maskiert, eine buntgemischte Gruppe von Frauen, Männern und Andersartigen. Da sieht er eine Frau stehen, die ganz im der scharlachroten Tracht der Pelerinen auftritt. Severian eilt sofort auf die Frau zu, die sich als Cyriaca vorstellt. Nein, sie sei keine Nonne vom Orden der Pelerinen, sondern bloß so verkleidet, sei aber mal eine gewesen, vor ihrer Heirat. Sie erzählt von ihrem Onkel, der umfangreiche Kenntnis vom großen Archiv der Vorzeit habe, und von der Glanzzeit und dem Untergang der Maschinen.
Außerdem verführt sie ihn nach Strich und Faden, während er ihr von seinem weit zurückliegenden Abenteuer in den Steinstadt erzählt, wo eine Hexe einen Toten namens Apu Punchau wieder zum Leben erweckte (siehe Band 2 und Band 5). Nach ihrem verborgenen Stelldichein (inklusive Ehebruch Cyriacas) verabschieden sie sich mit einer Geschichte über Nekromanten, als kein Geringerer als der Archon selbst sie ertappt. Da wird Severian klar, wer seine Zielperson ist: Cyriaca selbst.
Der Salamander
Schon mehrere Tage hat Severian Berichte der Burgwachen und Stadtsoldaten erhalten, in denen eine Serie von ruchlosen Morden in der Stadt die Rede ist. Die Soldaten sind in Alarmbereitschaft, auch in dieser Nacht. Aber sie lassen Severian durch, dessen Ziel die Hütte an der Klippe ist, in der das Mädchen im Sterben liegt. Ihr Bruder, der ein entzündetes Auge aufweist, liegt träumend neben ihr. Die Klaue leistet ganze Arbeit und heilt beide. Bemerkenswert findet Severian, dass das Mädchen glaubt, er habe helle Kleidung an, dabei ist seine Zunftkleidung nachtschwarz.
Er eilt hinunter in die Innenstadt und stößt dort auf eine dramatische Szene. Die Wirtin, bei der er Dorcas untergebracht hat, bangt um ihr Leben, denn ein Wesen ist unterwegs, das andere mithilfe eines Werkzeugs in Brand setzt. Severian hat ein Aufblitzen gesehen und ist vorgewarnt. Auf einmal kommen von beiden Seiten der Straße berittene Soldaten herbeigeeilt und nehmen das Feuerwesen in die Zange. Es „schießt“ erneut, das gibt Severian die Chance, mit der halb ohnmächtigen Wirtin die Flucht zu ergreifen: Sein Schwert hilft ihm hier nichts.
Doch das Feuerwesen, das Dorcas später als „Salamander“ bezeichnet, folgt den beiden in eindeutiger Absicht. In einem Hof gestellt, dringt Severian in eine bewohnte Hütte ein, die in mehrere Zimmer unterteilt ist. Der Salamander folgt ihm, eine Spur von verbrannten Leichen hinter sich lassend. Als er die Klaue zückt und emporhält, stoppt dies seinen Feind ausreichend lange, dass der ein Loch in den hölzernen Boden brennt und in die Tiefe stürzt.
Ein Vivimant
Die Wirtin kennt den Weg zurück in ihre Schänke, und dort schläft immer noch Dorcas. Als sie endlich am Morgen erwacht, zeigt sie auf den Inhalt einer Schublade: Sie habe zwei Bleikugeln erbrochen, und das könne nur eines bedeuten: Mit Bleikugeln, wie man sie für Schleudern verwendet, werden Tote beschwert, bevor man sie in einem Gewässer versenkt. Doch Severian habe ihren, Dorcas‘, Leib nicht nur aus jenem See heraufgeholt, sondern unbewusst auch mithilfe der Klaue sie, Dorcas, wieder zum Leben erweckt…
Da erzählt er ihr, was er mit Cyriaca NICHT getan hat: Statt sie zu erwürgen und in den Fluss zu werfen, ließ er sie gehen. Da er nun ein Verräter sei, müsse er Thrax verlassen und in den Norden gehen. Cyriaca habe gesagt, dass es dort, an der Kriegsfront, Pelerinen gebe, die die Verwundeten versorgten. Dorcas aber will ihren Weg in den Süden fortsetzen, um in Nessus ihre wahre Herkunft – sie erinnert sich an eine eigene Familie – zu suchen. So trennen sich ihre Wege. Für immer?
Flucht
Inzwischen ist die gesamte Burg und der Palast in Alarm versetzt worden, überall wird der Verräter gesucht. Alle Ausgänge der Stadtmauern sind versperrt, registriert Severian, so dass es nur noch einen einzigen, sehr unwahrscheinlichen und zudem etwas gruseligen Weg gibt, um der Umklammerung in die Freiheit der Berge zu entkommen…
Aus Theclas Buch der Fabeln: Die Geschichte vom Knaben Frosch
Die Göttin namens Frühsommer (Juno) lässt sich von einer Blume befruchten und bringt Frühlingswind hervor (Mars). Dieser wiederum ehelicht eine Prinzessin namens Vogel des Waldes (Rhea Silvia), sie haben Zwillinge, die sie Frosch und Fisch nennen. Doch um sie in Sicherheit vor Feinden zu bringen, legt sie sie in einen großen Korb, den sie dem Fluss anvertraut.
Zwei Schwestern finden den Korb und die Säuglinge, nehmen sie bei sich auf, um sie aufzuziehen. Doch nach einem Jahr müssen sie Frosch den Wölfen zur Adoption übergeben, die den Zwilling gegen einen Säbelzahntiger verteidigen. Dieser ruft den Senat der Wölfe an, weil er Anspruch auf den Nicht-Wolf Frosch erhebt. Es steht zwei zu eins GEGEN Frosch, als der schwarze Mörder auftritt und für Frosch einen Sack voll Gold bezahlt. Frosch darf leben.
Frosch, von den Wölfen im Jagen und Kämpfen ausgebildet, errichtet eine Stadt, die er verteidigt. Schließlich darf er das Reich des alten, kinderlosen Königs erben, muss es aber mit seinem Zwilling Fisch teilen. Fisch nimmt sich die Stadt und die Äcker, Frosch aber das wilde Bergland. Dort zieht er einen Graben, um dahinter eine Mauer zu errichten.
Fisch aber spottet nur darüber und springt über den Graben. Die Bewohner erschlagen ihn, wie es die Prophezeiung Frohsommer geweissagt hat. Frosch befiehlt, Fisch in den Graben zu werfen, auf dass er das Korn nähre, wie es Brauch ist. Denn das hatte ihn der Nackte bzw. Wilde gelehrt, der im Rat der Wölfe für ihn gesprochen hatte: Fische nähren den Mais.
Mein Eindruck
Severians Entwicklung schreitet im Eiltempo voran. Nachdem er einen Berg überwunden hat, stößt er auf eine Familie, die bereits die Tochter und den Vater an ein sonderbares Monster verloren hat: an das Alzabo. Dessen perfide Überredungskraft besteht darin, die Stimme eines seiner Opfer gezielt einzusetzen, um die anderen Familienangehörigen hervorzulocken, damit es sie verspeisen kann. Severian wird von der Restfamilie im Stich gelassen und muss das Ungeheuer (das irgendjemand auf ihn angesetzt haben muss) mit seinem Schwert zu bekämpfen. Hier trifft er auch Agia aus Saltus wieder, und die greift ihn gleich mit dem Messer an. Sie ist folgerichtig auch die erste, die abhaut.
Nachdem alle anderen tot sind, bleibt nur der junge Sohn der Familie übrig, und der heißt ebenfalls Severian. Der Senior nimmt ihn an Vaters Statt an und überquert die Berge, bis sie einen Zirkel von Zauberern erreichen. Hier muss Severian seinen Adoptivsohn verteidigen – mithilfe von vorgespiegelter „Magie“. Das zeigt, dass der Folterer ein verantwortungsvoller Zeitgenosse geworden ist. Das ist eine notwendige Voraussetzung für das Erreichen seiner Bestimmung: der nächste Autarch der Republik zu werden. Aber er könnte noch viel mehr werden: Er könnte der Schlichter werden und das von allen ersehnte Licht der Neuen Sonne.
Nachdem alle anderen tot sind, bleibt nur der junge Sohn der Familie übrig, und der heißt ebenfalls Severian. Er nimmt ihn an Vaters Statt an und überquert die Berge, bis sie einen Zirkel von Zauberern erreichen. Hier muss Severian seinen Adoptivsohn verteidigen – mithilfe von vorgespiegelter „Magie“. Das zeigt, dass der Folterer ein verantwortungsvoller Zeitgenosse geworden ist. Das ist eine notwendige Voraussetzung für das Erreichen seiner Bestimmung: der nächste Autarch der Republik zu werden. Aber er könnte noch viel mehr werden: Er könnte der Schlichter sein und das von allen ersehnte Licht der Neuen Sonne bringen.
Viele Vorbilder
Ein Begleitbuch zu diesem Zyklus (das ich hier noch vorstellen werde) verortet Severians Erlebnisse zwischen einer hohen, dramatischen und einer niederen, komischen Ebene. Die hohe Ebene folgt Jesu Fußstapfen, indem er vom Widersacher einer Versuchung und unmäßigen Forderung ausgesetzt wird. Jesus dient als Vorbild hinsichtlich des Lichts der Welt, der Schlichter, der Sohn des Increatus (Gott). Severian selbst breitet diese Theorie und ihre vielen Widersprüche vor dem Leser aus. Denn wenn ein Mensch nur den Willen Gottes auszuführen hätte wie eine Marionette, wo bliebe da sein freier Wille?
David Lindsay
Neben der Bibel bildet auch David Lindsays metaphysischer Roman „Eine Reise zum Arcturus“ eine wichtige Vorlage. Der Protagonist durchläuft auf einer fremden Welt zahlreiche Begegnungen mit Menschen, Halbgöttern und Göttern. Anfangs erschlägt er, ohne mit der Wimper zu zucken, einen Mann nach dem anderen. Doch er wird geläutert und ein anderer, ein Wahrheitssucher und Pilger. Ebenfalls durchwandert er wie Severian ein hohes Gebirge und gelangt an eine ferne Küste.
Cugel der Schlaue
Die komische Seite von Severians Schicksal spiegelt sich in den skurrilen Abenteuern Cugels des Meisterdiebes und Gauners in Jack Vances Roman „Die Augen der Überwelt“ (1966). Tatsächlich geht Gene Wolfe so weit, eben diese Augen im vorliegenden Roman zu materialisieren. Allerdings sind sie keine Kontaktlinsen mit magischen Eigenschaften, sondern die Augenöffnungen einer gigantischen hohlen Statue, die mit einem teuflischen Mechanismus ausgestattet ist.
Hier findet Severians „Versuchung in der Wüste“ statt, denn ein doppelköpfiger Riese namens Typhon fordert von ihm zwar die „Klaue des Schlichters“, bietet ihm aber Entkommen und Wohlergehen bis ans Ende seiner Tage (also nicht ganz die Weltherrschaft). Severian reagiert ablehnend und zahlt es Typhon heim.
Frankenstein
Severian wird durch eine List der Uferbewohner des Sees Diuturna (= Genezareth) die Klaue des Schlichters gestohlen, die sie dem Bewohner eines Turms am anderen Seeufer übergeben. Unser Held will das magische Juwel zurückhaben und es gelingt ihm, die Bewohner der schwimmenden Inseln für seine Sache zu gewinnen, um gemeinsam diesen Turm anzugreifen. Der Showdown wartet mit einigen Überraschungen auf: Es ist kein anderer als der Android Dr. Talos (aus Band 2), der ihm die Tür öffnet, und es stellt sich heraus, dass Dr. Talos von dem Riesen Baldanders erschaffen wurde, der nach Dr. Talos‘ Bühnenstück für so viel Aufruhr gesorgt hatte.
Hier stellt der Autor die vertraute Konstellation aus Mary Shelleys Roman „Frankenstein oder Der neue Prometheus“ aus dem Jahr 1818 auf den Kopf: Der ungeschlachte Riese ist nicht das Ungeheuer, sondern der Schöpfer selbst, und Dr. Talos ist eine seiner Kreaturen. Der Riese gibt das Juwel nicht ohne Kampf auf, sondern greift mit einer speziell ausgestatteten Keule an, die in einer gewaltigen Explosion Severians Schwert „Terminus Est“ zerbricht.
Damit nicht genug, wirft der Riese das Juwel aus dem Fenster. Severian findet es nach langer Suche in den Uferfelsen, doch es ist in tausend Scherben zerbrochen. Da erkennt er, dass nicht das Juwel magisch ist, sondern die spitze Klaue, die darin eingeschlossen war. Diese Kralle nimmt er an sich, sein zerbrochenes und nutzloses Schwert wirft er wie weiland Artus seine Klinge Excalibur in den See.
Außerirdische
Beim ersten Anblick sieht Baldanders‘ Turm wie ein Fliegenpilz aus, weil nämlich gerade eine Fliegende Untertasse darauf parkt. Severian hält sie zunächst für ein Luftschiff, denn Raumschiffe pflegen selten seinen Weg zu kreuzen. Aber er weiß von Außerirdischen, die man gemeinhin abwertend als „Cacogens“ bezeichnet. Es sind drei maskierte Typen, die in weiße Roben gehüllt sind, eine davon erweist sich als weiblich und ziemlich sympathisch.
Sie wollen nach ihren hiesigen Kreaturen, den Menschen, sehen und Handel treiben, sprechen aber viel in Rätseln, Baldanders bietet ihnen die Klaue des Schlichters an, sie finden sie lediglich „interessant“. Sie stellen Severian auf eine Probe, die er aber nicht besteht. Als sie wieder abreisen, bewegt sich ihr Raumschiff nicht in eine der bekannten Himmelsrichtungen, sondern in eine weitere Dimension, und das kann nur die Zeit sein: Ihr Schiff ist eine Zeitmaschine. Eine schöne Hommage an H.G. Wells, den Erfinder der „Zeitmaschine“ (1895).
Die Übersetzung
Die Übersetzung muss mindestens so anspruchsvoll gewesen sein wie der Wortschatz dieses Zyklus. Chapeau! Aber die Zeit – oder die Technik des Jahres 1984 – hat offenbar nicht ausgereicht, ein Glossar und eine Personenliste anzulegen und damit das Gedächtnis des Lesers zu unterstützen. Erst in dem Zyklus „Das Buch der Langen Sonne“ bequemte sich der Heyne-Verlag dazu, beide Listen beizufügen.
Die Karte von Nessus ist zwar beigefügt, nützt aber rein gar nichts, da die Action nicht mehr dort stattfindet, sondern an Orten nördlich der Hauptstadt, also in Thrax und noch weiter im Norden.
S. 140: Was sind „latschige Eingeborenenstämme“?
S. 156: Der Sinn ist gar dunkel: „Man sollte und könnte einen Menschen nicht zwingen, wie ein Mensch zu handeln.“ Zuvor war von Hunden die Rede, die sich wie Menschen aufführen, also ergibt es einen Sinn, wenn man wie folgt formuliert: „wie ein Hund zu handeln“. Ganz klar ein Fehler des Übersetzers.
S. 190: „Er beachtete mich[t] nicht…“: Das T ist überflüssig.
S. 207: „Neuankömmling“: Gemeint ist das vorrückende Eis der Antarktis. Ein deutlicher Hinweis auf den Klimawandel auf der Urth.
S. 240: „am Abend des zweites Tages“: Korrekt sollte es „des zweiten Tages“ heißen.
S. 242/43: Dem folgt ein philosophischer Exkurs. Der Übersetzer belastet den Leser nicht mit einem so unvertrauten Begriff wie „Amshapands“, wie er im original steht. Wenigstens hat er Begriffe wie „Empyreum“ (vgl. Dantes „Inferno“) und „Ylem“ (Ursubstanz) dringelassen.
S. 244: „Es war dieser [See Diuturna] gewesen, dachte ich, und nicht des Meer“: Es müsste „das Meer“ heißen.
S. 257: „ve[r]nichtet“: Das R fehlt.
S. 270: „wie wurde mir da[s] wundersam zumute!“ Das S ist überflüssig.
S. 275: „bedeckte ihm mit der Hand“: Statt „ihm“ (Dativ) sollte es „ihn“ (Akkusativ) heißen.
S. 323: „eine Rednerin“: Im Original steht „Phoebad“. Diese Bezeichnung gibt es nicht. Da hat der Autor eine Phöbas gemeint, also eine Priester des Phöbos Apollo. Dieser Gott spielt im philosophischen Diskurs dieses Kapitels eine zentrale Rolle, und ebenso sein „Jünger“, der Philosoph Sokrates.
Das Titelbild
Das Cover, das erneut Don Maitz superb gestaltet hat, zeigt wider Erwarten tatsächlich eine Szene aus dem Roman. Severian kämpft mit seinem Schwert gegen den Riesen Baldanders, der sich in seinem Labor einiger unorthodoxer Kampfmethoden bedient: Hier bricht er gerade einen Stein aus der Turmmauer, bevor er ihn auf seinen Gegner schleudert. Auch das Detail des Nebels, der einer kleinen Maschine entsteigt, hat der Illustrator nicht vergessen. Und wie so häufig trägt Severian eine Maske.
Unterm Strich
Auch dieser dritte Band reiht sich nahtlos in den großen Reigen des Zyklus „Das Buch der Neuen Sonne“ ein. Zumindest die ersten vier Bände bilden einen umfangreichen Roman von rund 1300 Seiten (plus Karten und Anhänge). Wie ich jetzt erkannt habe, sollte man sie zügig nacheinander lesen, denn wie in Band 3 häufig festzustellen ist, verweist die Hauptfigur nicht nur ständig auf frühe und früheste Geschehnisse aus den Vorgängerbänden, sondern zieht diese auch heran, um ein Argument anzuführen.
Ständige Begleiterin
Hinzukommt, dass er seit Band 2 ein zweites Bewusstsein in seinem Kopf mit sich führt. Es handelt sich um Thecla, die schöne Gefangene aus der Burg der Folterer, der er den Suizid ermöglicht hat. Thecla gehörte zu den Oberen Zehntausend der Hauptstadt Nessus, hatte offenbar auch Kontakte zum Autarchen in seinem „Haus Absolut“ (das Severian in Band 2 besuchte). Thecla ist eine der vielen Frauengestalten, die in Severians Leben durchweg eine große Rolle spielen. Sie ist als ständige Begleiterin genauso wichtig wie Cyriaca, Dorcas, Jolenta und Agia.
Die vielen Einflüsse und Vorbilder habe ich bereits oben erwähnt. Sie heben die Geschichte aus den Niederungen der Pulp Fiction weit darüber hinaus auf eine Ebene, auf der symbolische Handlungen und philosophische Diskurse möglich sind. Sie haben seitdem vielen Literaturwissenschaftlern als Forschungsgegenstand gedient. Eine Forscherin untersuchte sogar die Familienbeziehungen Severians, was ein wenig erstaunt, denn der Folterer ist eine Vollwaise. (Ob er seine Eltern wiederfindet, muss ich erst noch in Band 4 herausfinden.)
Mein Leseerlebnis
Meine Lektüre konnte ich zügig gestalten, denn der Autor versteht es, Severians Reisen sehr unterhaltsam zu gestalten. Es passiert immer irgendetwas, und für gewöhnlich ist so eine Szene sorgfältig und spannend aufgebaut. Wenn Severian doch mal stillsteht, wie etwa als Liktor in Thrax, begeht er garantiert einen Fehler des Ungehorsams: Statt Cyriaca zu töten, wie der Archon verlangt, verhilft er ihr zur Flucht. Das zwingt ihn selbst dazu, Thrax schnellstmöglich zu verlassen.
Vivimant und Gauner
Dieser Severian ist ziemlich sympathisch, auch wenn er uns manchmal anschwindelt: Sein Gedächtnis keineswegs hundertprozentig korrekt und lückenlos, wie er behauptet. Dies wird aber nur dem aufmerksamsten Leser auffallen. Aber wer könnte einem Vivimanten, der Tote oder Todkranke zum Leben erweckt, so etwas verübeln? Zumal er auch eine übermütige Überschläue wie Jack Vances Obergauner Cugel aufweist, die selten ungestraft ausgeübt wird. Komödie und Drama, Philosophie und Action findet man hier ganz nah beieinander.
Für die vielen Fehler gibt es Punktabzug.
Taschenbuch: 330 Seiten.
O-Titel: The Sword of the Lictor, 1981.
Aus dem Englischen von Reinhard Heinz.
ISBN-13: 9783453310100
www.heyne.de
Der Autor vergibt: