George R.R. Martin – Lieder von Sternen und Schatten

Frühe Traumlieder vom Meister-Erzähler

In diesem Erzählband versammelte der heutige Starautor seine Kurzgeschichten aus der Mitte der siebziger Jahre. Nur zwei dieser Texte finden sich bislang auch in „Traumlieder I“ wieder. Deshalb lohnt sich ein Blick – für den Sammler.

Der Autor

George R. R. Martin, 1948 in Bayonne/New Jersey geboren, veröffentlichte seine ersten Kurzgeschichten im Jahr 1971 und gelangte damit in der Fantasy-Szene zu frühem Ruhm. Gleich mehrfach wurde ihm der renommierte Hugo Award verliehen. Sein mehrteiliges Epos „Das Lied von Eis und Feuer“ wird einhellig als Meisterwerk gelobt, dessen zehnter Band mittlerweile auf Deutsch erschienen ist. George R. R. Martin lebt in Santa Fe, New Mexico, und schreibt am nächsten Band. (erweiterte Verlagsinfo) 2014 und 2015 bringt Heyne seine Erzählungen in drei Bänden als „TRAUMLIEDER I-III“ heraus.

Die Erzählungen

1) Ein Turm aus Asche (This Tower of Ashes, 1976)

Auf Jamisons Welt hat sich der Jäger Johnny Bowen eine Heimstatt in einem alten Turm an der Meeresküste eingerichtet. Begleitet nur von seinem treuen achtbeinigen Kater Eichhorn begibt er sich nächstens auf die Jagd nach den Traumspinnen, die im nahen Wald ihre Netze aufspannen, um das Wild zu fangen und mit ihrem Gift zu betäuben. Dieses Gift verkauft Johnny an Krobec, den Händler aus der Hauptstadt Port Jamison, der es wiederum auf dem Drogenmarkt verhökert. So bringen die Spinnen den Menschen ferner Welten Visionen und Träume.

Eines Tages aber kommen Johnnys Exfrau Crystal und ihr neuer Lover Gerry zu Besuch. Sofort fühlt er sich angespannt und eifersüchtig, denn Gerry ist nicht zuletzt skeptisch gegenüber dem, was Johnny hier draußen treibt: Er würde am liebsten den ganzen Wald abfackeln, mit allem, was darin kreucht und fleucht. Nur der Kater, den Crystal sofort liebkost, bewahrt Bowen vor einem Wutausbruch. Beim Wein danach kommt er auf die Schnapsidee, den beiden die Spinnen zu zeigen. Und vielleicht finden sie sogar die Erbauer des Turms, wer weiß?

Doch die Expedition steht unter keinem guten Stern. Über der Schlucht, wo, wie Bowen weiß, ein Spinnenpaar haust (das Weibchen jagt, das Männchen macht das Netz klebrig), liegt quer ein Baumstamm, von dem aus sie das Netz und die Beute beobachten können. Johnny hält seinen Bogen schussbereit, denn wer weiß, wo das Weibchen gerade jagt?

Da rutscht Gerry auf dem Baumstamm aus und fällt ins Netz! Sofort beginnt das Männchen, auf ihn zuzukrabbeln. Bowen legt auf es an. Da schreit Crystal auf, und einen Moment später sieht Bowen, wie das Weibchen auf ihn zugekrochen kommt, um ihn zu beißen. Er zögert: Welches Tier soll er zuerst erschießen, wen zuerst retten, sich oder den verhassten Gerry oder die geliebte Crystal, die er zurückgewinnen will? Die rettende Idee kommt ihm wie ein Blitzschlag. Doch sein Zögern wirkt sich fatal für alle aus…

Mein Eindruck

Wie schon in „Song for Lya“ und „Wenn die Flamme erlischt“ drehen sich viele von Martins Geschichten um Beziehungen, insbesondere Dreiecksgeschichten. Das ist kein Wunder, findet er (laut Herausgeber), denn erstens ist das eine alte erprobte Konstellation, die jede Außenweltgeschichte auf ein menschliches Maß reduziert, und zweitens, wichtiger noch, bestimmt die Position in solch einer Beziehung das Verhältnis des Protagonisten zur Realität. Und um die Bestimmung der Realität bzw. deren Wahrnehmung geht es Martin vor allen Dingen.

Deshalb ist es nebensächlich, ob tatsächlich Aliens als Turmerbauer auftauchen oder ob Bowen eine oder beide Spinnen erschießt. Es kommt drauf an, wie das Ergebnis der Auseinandersetzung aussieht. Hat er es geschafft, Crystal zurückzugewinnen, gegen jedes bessere Wissen? Es darf verraten werden, dass die Geschichte wieder mal so ausgeht wie viele von Martins frühen Erzählungen, nämlich mit einer bitteren Enttäuschung. Der „Turm aus Asche“, in dem Bowen wohnt, ist ein Symbol für den Zustand seines Herzens.

Bemerkenswert ist jedoch, dass er im Augenblick der Entscheidung die Realität ganz anders wahrgenommen hat als seine beiden Begleiter. Und das sagt vielleicht mehr aus über ihn als der Rest der Geschichte. Ansonsten kommt die Story völlig ohne Technik und Wissenschaft aus. Crystal beispielsweise sammelt und beurteilt Kunstgegenstände von Fremdweltlern. Das ist einer der Gründe, der sie zu ihrem Johnny zurückführt. Wirklich nur einer, wer weiß?

2) Patrick Henry, Jupiter und das kleine Raumschiff aus Ziegelsteinen (Patrick Henry, Jupiter, and the Little Red Brick Spaceship, 1976)

Zwei Weltraumschrottsammler entdecken das ausgeschlachtete Wrack eines Raumschiffs namens „Challenger“. Leider müssen sie feststellen, dass außer der wertvollen Hülle praktisch nur die überdimensionalen Fusionsantribe verwertbar sind. Das leere Schiff muss alt sein, aber nicht älter als 60 Jahre. Wer mag es nur gebaut haben?

Peter Van Dellinore ist ein Rebell, aber einer, der es schafft, andere zu motivieren. Als er über ein Drittel des Vermögens seines Vaters, eines Konzernchefs, erbt, beschließt er, am Rennen zum Jupiter teilzunehmen. Er verkauft dem Vorstand den Bau seines Raumschiffs als grüße PR-Aktion, die positiv für die Konzernprodukte – Waffen, Schwermetall usw. – werben würde. Die NASA und die Russen bauen die Konkurrenzschiffe.

Allerdings setzt die NASA alle Tricks ein, um das Selbstbau-Raumschiff zu verhindern. Am Schluss gibt die Forderung nach einem „Weltraum-Visum“ Petes Projekt den Rest, und er wird verhaftet. Seine „Challenger“ treibt seitdem im Weltraum…

Mein Eindruck

Diese kurze Story ist der gescheiterte Versuch des Autors, seine eigene Version von Heinleins Jugend-SF-Roman „Starman Jones“ zu schreiben. Oder die Story war von Anfang als spöttische Satire angelegt. Wie auch immer: Für den Leser ist sie wenig unterhaltend.

3) Keine Rettung für die Station Greywater (Men of Greywater Water, mit Howard Waldrop, 1976)

Die Wissenschaftler der Forschungsstation Greywater sehen sich einer ungewöhnlichen Lage gegenüber: Der Planet will sie vernichten. Sie haben sich bereits gewundert, dass rings um den Turm der Station schlammiger Sumpf ist, doch der Schewamm, der sich darin befindet und ausbreitet, erweist sich zu ihrem Erstaunen als intelligent. Der Schwammpilz, verbreitet durch seine hochfliegenden Sporen, durchdringt alle Lebewesen, von Fledermäusen bis Glitschern, und koordiniert ihre Aktionen – und neuerdings ihre Angriffe aus die Menschen.

Als eine Raumfähre mit Soldaten in den Sumpf abstürzt, ahnt Delvecchio, der Leiter der Station, bereits, was das bedeutet: Die Überlebenden werden vom Schwamm infiziert, umgepolt und auf die Station losgelassen. Es ist nur noch eine Frage von Stunden. Doch der Funker Bill Reyns will nicht auf ihn hören. Er schnappt sich einen Flieger, bestückt ihn mit einer Laserkanone und startet, um den Abgestürzten zu Hilfe zu eilen. Riesenfledermäuse und Insekten stürzen sich auf ihn, bringen ihn zum Absturz – in den weltumspannenden Schwamm.

Schon bald werden die Totgeglaubten aus den Nebeln des Sumpfes erscheinen und sich auf die letzte Handvoll Überlebender stürzen, flankiert von unheimlichen Kreaturen. Haben die Verteidiger auch nur den Hauch einer Chance?

Mein Eindruck

Der Kampf gegen die Kreaturen des Sumpfes ist lang und hart. Die Auseinandersetzungen haben mehr Ähnlichkeiten mit der Schlacht um Monte Cassino, an der der Autor Walter M. Miller teilnahm, als mit einem Gefecht, das sich einfache Wissenschaftler mit den Wesen liefern, die sie eigentlich studieren sollen. Und wie wär’s mit ein wenig Kommunikation, schlägt einer. Gute Idee! Nur dass der Schwamm, der ja alle und alles durchdringt, sicherlich bereits auch die unglücklichen Menschen angezapft – und sie als feindlich eingestuft hat.

Die Novelle ist voll Action, aber auch gespickt mit langen Dialoggefechten zwischen den Forschern. Das ist ziemlich untypisch für George R.R. Martin, Das gilt auch für Delvecchios Alp-Träume, die in Form von Kurzberichten erzählt werden. Martin hätte mehr daraus gemacht. Es ist daher stark anzunehmen, dass diese Erzählung vor allem aus der Schreibmaschine seines Ko-Autors Howard Waldrop stammt. Sie stünde einem rechtsgerichteten republikanischen Autor wie Jerry Pournelle jedenfalls bestens zu Gesicht.

Nur das Ende ist aufgrund seiner bitteren Ironie Martin angemessen: Die Männer, die da aus dem Sumpfnebel kommen und beschossen werden, sind nämlich gar keine Zombies…


4) Nacht der Vampire (Night of the Vampyres, 1975)

Anno 1987 wird in Kalifornien ein Luftwaffenstützpunkt von Unbekannten angegriffen. Weil sich die Verteidiger auf die Hauptattacke konzentrieren, können die anderen Angreifer zwei Atombomber und sieben schnelle Jagdflugzeuge entführen. Sofort stellen sie ihre sechs Forderungen an US-Präsident Hartmann von der rechtsgerichteten Freiheits-Allianz, sonst drohen sie damit, die Hauptstadt mit zwei Wasserstoffbomben dem Erdboden gleichzumachen.

Sie unterzeichnen mit American Liberation Front (ALF). Diese „Alfies“ sind im Kongress die zweitstärkste Kraft. Die TV-Journalisten raufen sich die Haare und fragen sich, was die Partei damit erreichen will. Dieser Schuss kann nur nach hinten losgehen. Der Präsident erklärt die Alfies kurzerhand zu Hochverräter und beginnt, alle nacheinander zu verhaften. Schon bald gibt es Meldungen über „auf der Flucht“ erschossene Alfies. Milizen bilden sich, um die Alfies vor den Sturmtruppen des Präsidenten zu schützen. Chicago brennt, dann Washington…

Unterdessen stürzen sich die Verteidiger der Hauptstadt in ihren Düsenjets Marke „Vampir“ auf die sieben Kampfjets der Angreifer. Nach weniger als einer Stunde sind nur noch ein Bomber und ein Verteidiger übrig. Kampfpilot Reynolds wundert sich über die exzellenten Flug- und Kampfkünste der Angreifer. Als ihn der Strahl der feindlichen Laserkanone erfasst, feuert er seine letzten zwei Raketen ab…

Mein Eindruck

In einem packenden Wettlauf gegen die Zeit schildert die wie ein Drehbuch geschriebene Story einen rechtsgerichteten Staatsstreich nach dem Muster des Reichstagsbrandes des Jahres 1933, der zur Stärkung Hitlers und seiner Nazi-Partei führte. Was niemand weiß, können wir nur ahnen: Hartmanns Partei hat die Bomber selbst entführen lassen, um die ALF zu diffamieren und als Hochverräter anschließend auszuschalten. Nun kann er zusammen mit der Partei der Alt-Republikaner schalten und walten, wie es ihm beliebt: das ist der Sieg des Faschismus auf amerikanischem Boden, getarnt mit dem Mäntelchen der Bewahrung der Freiheit.

Die Story ist voll Action, die aber von den eingestreuten Hinweisen auf die politische Entwicklung auf leerer Heroismus desavouiert wird. Ähnlich wie bei „Der Held“ (1971) bleibt ein bitterer Beigeschmack zurück.

5) Die Verfolger (The Runners, 1975)

Privatdetektiv Colmer ist ein Lotmeister, d.h. er kann die Gedanken und Gefühle von Menschen ausloten. Des wendet sich auch Edward Bryllanti an ihn: Er fühle sich verfolgt, wisse aber nicht, aus welchem Grund ihn drei Leute beschatten: eine Blondine, ein dickes Mädchen mit einem hirnlosen Lächeln und ein finsterer Typ.

Colmer lotet Bryll aus und findet dessen Angaben bestätigt, stößt aber auch auf eine Barriere, die alles blockiert, was vor fünf Jahren geschah. Dafür hat Bryll keine Erklärung. Als er die junge Blondine das Lokal betreten sieht, ergreift er die Flucht Richtung Raumhafen. Colmer setzt sich zu der jungen Blondine, die ihn sofort unverfroren auslotet. Als sie ihm erklärt, dass Bryll selbst es war, der sie engagiert hat, hat Colmer ein kniffliges Verständnisproblem zu knacken…

Mein Eindruck

Ich weiß nicht, ob diese völlig überflüssige Kurzgeschichte Martins geschätzten Kollegen Edward Bryant meint, wenn Edward Bryllanti auftritt. Aber wo Bryant „bryllant“ ist, ist Martin einfach nur banal. Die Lösung des Rätsels lautet einfach: Bryll hält sich mit seinem Verfolgungswahn einfach nur selbst auf Trab. Moderne Sportprogramme sehen anders aus.

6) Nachtschicht (Night Shift, 1973)

Das Sonnensystem ist dabei, besiedelt zu werden, und Frachter bringen Güter wie Maschinen und Haushaltsgeräte von einem Planeten oder Jupitermond zum nächsten. Dazwischen liegt auf der Erde die ringförmige Fracht- und Umladestation. Dennison, der fürs Be- und Entladen zuständige Manager, tritt seine Nachtschicht an. Er muss den wenigen Ressourcen auskommen, die ihm zum Be- und Entladen zur Verfügung stehen. Er treibt sogar einen antiken, noch mit Benzin statt Strom betriebenen Gabelstapler auf, um seinen Termin zu schaffen.

Greg ist ein Ferienjobber-Student, der hier schon ein paar tage arbeitet. Die romantischen Vorstellungen, die Greg äußert, entlocken Dennison keineswegs ein müdes Lächeln, sondern Ärger: Wegen seiner Tagträumerei macht Greg ständig Fehler. Von wegen spanische Galeonen auf dem Ozean des Weltraums! Die Raumschiffe, sind einfach nur Laster, dämliche, rostende Laster…

Mein Eindruck

Was für ein Anachronismus! Schon acht Jahre später, also 1981, fegte C.J. Cherryhs Roman „Downbelow Station“ (dt. Titel „Pells Stern“) solche veralteten Konzepte wie eine Verladestation auf der Erdoberfläche ins Reich der Vergessenheit. Stationen werden nur noch in Umlaufbahnen eingerichtet, denn sonst wären die Kosten für Treibstoff viel zu hoch, der für den Ab- und Aufstieg in den Schwerkraftschacht einer Welt aufgewendet müsste. Als ich das Szenario las, traute ich meinen Augen kaum.

Der einzige Konflikte in dieser stinklangweilige Hardcore-SF-Story ergibt sich aus der gegensätzlichen Beurteilung von Dennisons Job. Gregs romantische Vorstellungen kollidieren mit Dennisons krass realistischen Erfahrungen. Und Walter M. Miller hätte garantiert noch eine Gewerkschaft und ein paar Parteimitglieder aneinandergeraten lassen (wie in „Der Kabelleger“ von 1957).

7) Ein Mann hört auf zu singen („…For a Single Yesterday“, 1975)

Nach dem atomaren Holocaust, der „Verwüstung“, bilden die jungen Überlebenden kleine Kommunen, die sich gegen die marodierenden Plünderer zur Wehr setzen können. Gary ist der Anführer eines solchen Grüppchens, und Keith ist der Sänger, der die jungen Leute allabendlich mit seinem Gitarrenspiel und seinen Liedern unterhält. Zum Abschluss singt er immer Gordon Lightfoots Ballade „Me and Bobby McGhee“. Sie enthält die wehmütige Zeile:

„And I’d give all my tomorrows
For a single yesterday
Holdin‘ Bobby’s body close to mine.“

Charakteristisch für Keith und seine Lieder ist die Orientierung an der Vergangenheit. Als Gary mal danach fragt, gibt Keith zu, Chronin zu nehmen, eine in einem Krankenhaus erbeutete Droge, mit der er angeblich Zeitreisen zu seiner verstorbenen großen Liebe Sandi unternimmt. Er hat mittlerweile nur noch wenige Trips übrig. Gary zweifelt an der Zeitreise, denn Chronin sei ja bloß eine Gedächtnisdroge. Keith widerspricht: Er treffe Sandi dort wirklich. Was soll man dazu sagen?

Das erweist sich als Problem, als Robert Winters sich mit seinem zwei Begleitern der Kommune anschließt und sie auf Vordermann bringt. Er ist ein Exsoldat und gewohnt, analytisch zu denken und vorauszuplanen. Wie soll er verstehen, dass Keith mit seinem kostbaren Chroninvorrat nur in der Vergangenheit lebt? Winters schlägt vor, das Chronin dazu zu verwenden, um verschüttete Erinnerungen an Fachwissen und Fundorte oder Kontaktpersonen freizulegen. Es kommt zur Krise – und zur Abstimmung: Vergangenheit oder Zukunft – was soll’s sein?

Mein Eindruck

Ach, die wunderbaren alten Balladen! „Bobby McGhee“, „Leavin‘ on a jet plane“, „Eve of Destruction“ und viele mehr, die der Protestgeneration von 1968/69 und den Post-Hippies (ab 1970) viel bedeuteten – selbst noch meiner Generation, die nach 1960 geboren wurde. Wir sangen die schönen Lieder aus kleinen Heften, die ein bestimmter Verlag zusammenstellte und herausgab – natürlich zur Klampfe und vorzugsweise am Lagerfeuer von Pfingst- und anderen Freizeiten. Das waren die Anfänge der Grünen und von Bündnis 90 und es nannte sich „Alternativkultur“ – also alles jenseits des Establishments, aber noch diesseits der APO und der RAF.

Die stimmungsvolle und kenntnisreiche Erzählung schildert den schmerzhaften Prozess des Abschiednehmens von dieser Vergangenheit, um für die Zukunft zu planen und zu bauen. Das wäre mit Hilfe von Winters kein Problem, wenn da nicht Keith wäre: Keith lebt die meiste Zeit in der Vergangenheit bei Sandi und bezieht daraus seine Energie, seine Zuversicht, die er an die anderen per Musik weitergibt. Ohne diese Wurzel und Energiequelle muss er zugrunde gehen. Daher kommt es zu einer tragischen Entwicklung, die sehr einfühlsam zum Leben erweckt wird.

Das einzige Problem, das ich mit dieser Story habe, ist der Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung: 1975 erscheint mir viel zu spät, das ist ja fast schon der Anfang des Punk 1977. Selbst Pink Floyd, immer die Trendbarometer, verabschiedeten sich schon 1973 und 1975 mit „Dark Side of the Moon“ und „Wish You Were Here“ von der Hippie-Seligkeit alter Tage. Die Erklärung für diese Verspätung ist wohl der schwierige Verkaufsprozess für eine solche Story, die kaum etwas mit SF zu tun hat. Sie erschien in der Anthologie „Epoch“ von Robert Silverberg, und solche Anthos brauchen immer mehr zeit, bis sie auf den Markt kommen.

8) Teufel, die Engel heißen (And seven times never kill man, 1975)

Der Sternenhändler Arik neKrol mag das friedliche Volk der Jaenshi, das in kleinen Sippen in den Wäldern dieser Welt Corlos lebt. Doch seit der Ankunft der Sternenkrieger vom Planeten werden die Jaenshi abgeschlachtet und ihre dunkelroten Pyramiden, die als Kirchen zu fungieren scheinen, regelmäßig mit Lasergewehren zerstört. Seit ein Jaenshi einen dieser „Stahlengel“ getötet hat, werden sie reihenweise massakriert und zur Abschreckung aufgehängt. Diese Spartiaten der Sterne machen keine halben Sachen.

Der Proktor der Sternenkrieger, Wyatt, erklärt seine Weigerung, die Jaenshi zu verschonen, damit, dass sie nach dem Glauben Bakkalons seelenlose Tiere sind und Seelenlose seien nun mal auszumerzen. Bakkalon ist als bleiches Kind mit einem Schwert in der Hand symbolisiert, und dieses Symbol hängt dem Proktor um den Hals. Die Krieger führen also eine Art heiligen Krieg. Als Arik neKrol die Sternenhändlerin Jannis Ryther um Hilfe für die Jaenshi bittet, gibt sie ihm heimlich gerade mal zwei Lasergewehre – längst nicht genug für einen Aufstand.

Der Händler weiß sehr wohl, dass die Jaenshi keine Tiere sind: Sie haben einen Glauben, sind ausgezeichnete Handwerker und Künstler und leben in Frieden miteinander. Der Älteste der Wasserfall-Sippe lehnt es ab, seinen Stamm mit einem Gewehr zu verteidigen, sehr zu neKrols Bestürzung. Wie lange wird er noch Jaenshi-Schnitzereien via Ryther verkaufen können?

Der lange Winter bringt eine Verschnaufpause, und Arik ergreift die Gelegenheit, sippenlose Jaenshi wie die Bittere in Menschendingen und Waffenkunde zu unterrichten. Schließlich hat er acht Sippenlose beisammen, als der Winter endet und die Stahlengel aus ihrer Festung ausschwärmen, um den Wald zu roden und die letzten Jaenshi auszumerzen.

Die Überlebenden der Sippen sammeln sich beim Wasserfall-Clan. Sie haben jedoch nicht Widerstand im Sinn, sondern Gebet. Alle legen ihre Hände auf die Pyramide ihrer Gottheit – um was zu erreichen, fragt sich Arik. Als die Stahlengel aus dem Wald hervorbrechen und drohen, alle umzubringen, ereignet sich ein Wunder: Bakkalon erscheint in der Pyramide…

Mein Eindruck

Das Thema dieser zunehmend spannenden Erzählung ist ziemlich amerikanisch: Die Eroberer von jenseits der Welt rauben das Land der Eingeborenen, was aber nicht ohne Ausrottung selbiger zu bewerkstelligen ist. Klingt doch stark nach der Conquista der beiden Amerikas durch Spanier, Portugiesen und Engländer, oder?

Die Eroberer verfügen zudem über die entsprechende Ideologie der rassischen Überlegenheit und göttlichen Sendung, die es ihnen erlaubt, die Eingeborenen einfach als „seelenlose Tiere“ abzustempeln. Diese „Tiere“ üben unbewaffneten Widerstand, wenn überhaupt. Sie könnten die unbewaffneten Massen darstellen, die Mahatma Gandhi auf die Straße brachte, um die Briten aus Indien zu vertreiben. Der Haken dabei: Die Jaenshi beten bloß – und schnitzen Figuren aus einer fernen Vergangenheit, deren Götter nicht einmal sie mehr kennen. Die Betpyramiden werden dezimiert. Worin liegt also eine berechtigte Hoffnung?

Der Clou an diesem tristen Szenario liegt in der Religion der beiden Seiten begründet. Als sich die Figuren der Jaenshi inner- und außerhalb der Betpyramide in Abbilder Bakkalons, des Götzen der Eroberer, verwandeln, zeigt sich, wie verwundbar die Stahlkrieger in Wahrheit sind. Sie nehmen die große Bakkalonstatue wie weiland ein gewisses Trojanisches Pferd in ihre Festung auf und verehren es. Auf einmal sind sie ganz friedlich und denken nicht mehr an Ausrottung und Eroberung. Wenn das der tapfere Arik noch hätte erleben dürfen…

Die Übersetzung

Dieser Storyband wurde von Tony Westermayr ins Deutsche „übertragen“, der für den Goldmann-Verlag dessen SF-Reihe herausgab – und völlig alleine übersetzte. Dabei ist zu beachten, dass Westermayr stets ein eigenartiges Verständnis an den Tag legte, was eine „Übersetzung“ ausmacht, so etwa auch Kürzungen, Raffungen und vieles mehr. Tippfehler finden sich häufig, was ein Hinweis darauf ist, dass nicht korrekturgelesen wurde.

S. 50: „I[n]solierstation“: Das N ist überflüssig.

S. 87: „Lasergewher“ statt „Lasergewehr“.

S. 89: „das Radio in Betrieb nehmen“: Gemeint ist ein Funkgerät.

S. 120: „Der Bomber senkte eine Rakete vom Himmel.“ Da der Bomber mit Laserkanone ausgerüstet ist, „sengt“ er die Rakete vom Himmel (indem er sie zum Explodieren oder Verglühen bringt).

S. 133: „Nachtdispatcher“: Gemeint ist ein Disponent oder Einsatzleiter.

S. 141: „Manifest-Umschlag“: Gemeint sind Ladepapiere, die detailliert die Ladung beschreiben. „manifest“ ist das englische Wort dafür, und Westermqayr hat es einfach stehen lassen.

S. 175: „überzuegt“ statt „überzeugt“.

S. 180: „Fuast“ statt „Faust“

S. 182: „Aber neKrol macht mir uns keine Geschäfte.“ Statt „mir“ sollte es „mit“ heißen“.

S. 193: „Der Wind (!) steht bevor, Proktor, und es ist viel zu tun.“ Gemeint ist nicht Wind, sondern Winter! Dann ergibt der Satz einen Sinn, und weiter unten ist dann vom Frühling die Rede. Dies ist ein typisches Beispiel für Westermayrs Unfug.

Unterm Strich

„Turm aus Asche“ und „Teufel, die Engel heißen“ sind die herausragenden Erzählungen dieser Sammlung. Sie bestechen durch ein emotionales Engagement, das seinen Ausdruck in einem Konflikt findet, an dem der Leser anteilnimmt, und in einer Sprache, die die Gefühle, die der Konflikt erzeugt, angemessen und überzeugend ausdrückt. Kein Wunder also, dass es diese beiden Stories in die Quintessenz von Martins Geschichtenwerk „Traumlieder I-III“ geschafft haben.

Aber es gibt auch einen actionorientierten George R.R. Martin, denn er ist ja bekanntlich ein Anhänger von Robert Heinleins Auffassung dessen, was die Aufgabe der Science Fiction ist: Konflikte aufgrund von Veränderungen finden nicht nur auf friedliche Weise und auf persönlicher Ebene statt, sondern vielfach auch auf nationaler oder globaler Ebene und werden auf kriegerische Weise gelöst.

„Keine Rettung für Station Greywater“ schildert den Abwehrkampf eines ganzen Planeten gegen die Eindringlinge von der Erde. Kämpfer, die eigentlich Forscher sind, geraten zwischen die Fronten, weil der Gegner sie zu Zombies macht – glauben jedenfalls die Verteidiger. Ein tragischer Irrtum, wie sich erweist.

In „Nacht der Vampire“ sitzen die Kampfpiloten in ihren Vampir-Jets ebenfalls einem großen Schwindel auf: Sie glauben Rebellen vor sich zu haben, doch in Wahrheit sind es „agents provocateurs“ der Regierungspartei. Mit diesem Coup à la Reichtagsbrand gelingt es dem aufstrebenden Diktator, die mäßigenden Kräfte auszuschalten und sich zum Alleinherrscher aufzuschwingen.

Die restlichen Erzählungen sind eher kleine Skizzen, die sehr mit Martins eigener Sehnsucht nach den Sternen zu tun haben, so etwa in „Nachtschicht“ und „Patrick Henry…“. Auch die Story „Ein Mann hört auf zu singen“ handelt von Sehnsucht – nach der Vergangenheit, in der eine Liebe endete, und die der Sänger nun nicht mehr loslassen will. Die Geschichte lässt sich auch als das Porträt zweier Generationen lesen: hier die zupackende, zukunftsorientierte Generation des Wiederaufbaus, dort die vergehende Protest- und Hippie-Generation, deren Songs bis heute gespielt werden – von Siebzigjährigen.

Die Freude an diesen Geschichten wurde mir etwas vergällt durch die allenthalben auftretenden Druck- und Stilfehler des Übersetzers. In „Traumlieder I“ wurden 99% aller Fehler ausgemerzt, aber leider nicht alle. Siehe dazu meine Rezension.

Taschenbuch: 220 Seiten
Info: Songs of Stars and Shadows, 1977
Aus dem US-Englischen von Tony Westermayr.
ISBN-13: 978-3442233311

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