Ein Serienmörder macht Bostons Frauenwelt unsicher: „Der Chirurg“ beraubt sie ihres weiblichsten Organs. Die Kripo ist ratlos, doch bald stößt sie auf ein überlebendes Opfer: eine Chirurgin.
_Die Autorin_
Tess Gerritsen war eine erfolgreiche Internistin, bevor sie mit dem Medizinthriller „Kalte Herzen“ einen großen Erfolg errang. Es folgten mehrere mittelmäßige Thriller wie „Roter Engel“, die durchaus spannend zu unterhalten wissen.
Mit dem Bestseller „Die Chirurgin“ ist ihr auch der Durchbruch in Deutschland gelungen, denn dieser Thriller ist noch eine ganze Klasse härter: Der Mörder entfernt seinen weiblichen Opfern die Gebärmutter. Die Fortsetzung trägt den Titel „Der Meister“, und [„Todsünde“ 451 ist der dritte Roman mit Detective Jane Rizzoli vom Boston Police Department.
Die Autorin lebt mit ihrem Mann, dem Arzt Jacob Gerritsen, und ihren beiden Söhnen in Camden, im US-Bundesstaat Maine.
_Handlung_
Es ist ein ungewöhnlich heißer und schwüler Sommer in Boston. Detective Thomas Moore ist schon auf dem Weg zu einem kühlen See in den Bergen, um dort Urlaub zu machen, als er zum Dienst zurückgerufen wird, um einen Aufsehen erregenden Fall zu übernehmen: Bevor das Opfer Elena Ortiz mit einem glatten Schnitt durch die Kehle getötet wurde, hat ihr Mörder sie einer gynäkologischen Operation nach allen Regeln der Kunst unterzogen. Ihr Martyrium hatte Stunden gedauert.
Sowohl der ruhige, über 40 Jahre alte Moore als auch seine extrem ehrgeizige Kollegin Jane Rizzoli fühlen sich bald an einen ähnlichen Fall aus der Vergangenheit erinnert: Die junge Diana Sterling, Tochter aus reichem Hause, war auf die gleiche Weise ermordet worden; auch sie wurde vor dem Gnadenstoß operiert. Den Polizisten wird klar, dass sie es mit einem Serienmörder zu tun haben: Er besitzt offensichtlich medizinische Fachkenntnisse und wird von der Presse bald „Der Chirurg“ genannt. Die Zeit drängt: Wahrscheinlich hat der Killer bereits sein nächstes Opfer auserkoren.
Eine Computerrecherche bringt das Ermittlerteam auf die Spur einer ähnlichen Mordserie, die aber bereits drei Jahre zurückliegt und sich im südlichen Savannah ereignete. Der Täter Andrew Capra wurde allerdings von seinem letzten Opfer in Notwehr erschossen. Dennoch suchen Moore & Rizzoli Dr. Catherine Cordell in der städtischen Klinik auf. In der Szene, in der wir sie kennen lernen, rettet sie einem gerade eingelieferten Verkehrsopfer das Leben. Offensichtlich verfügt sie über Nerven aus Stahl.
Doch die Polizisten haben herausgefunden, welche Qualen Catherine erlitt, als sie sich in der Gewalt des Savannah-Killers befand. Kein Wunder, dass sie zunächst unter keinen Umständen an jenes Geschehen erinnert werden möchte. Aber dann erfährt sie, dass Elena Ortiz Mitglied einer Selbsthilfegruppe im Internet war, der auch sie selbst angehört: Hier schildern vergewaltigte Frauen ihre Erlebnisse, in der Hoffnung, psychologischen Beistand und Verständnis zu finden, denn in der patriarchalischen Gesellschaft werden Vergewaltigungsopfer immer noch stigmatisiert und ausgestoßen. Solche Frauen schweigen lieber, statt sich zu offenbaren. Auch Catherine Cordell.
Merkwürdige Unstimmigkeiten treten in Catherines Alltag auf: Laborkittel und Stethoskop sind verlegt, und jemand scheint sie zu beobachten und ihren Dienstplan ganz genau zu kennen. Und der Beobachter scheint auch ihre Vergangenheit zu kennen: Aber Andrew Capra ist doch tot, oder nicht? Oder hatte er einen Partner, der ihn nachahmt? Falls ja, würde dieser Partner nicht danach streben, sich an Catherine für ihre Tötung Capras zu rächen?
Während sich Moore in Catherine verliebt und mit ihr schläft (was ihm eine Strafmission einbringt), macht Rizzoli eine aufregende Entdeckung und begibt sich in höchste Gefahr. Doch für Catherine, die schöne, nervenstarke Chirurgin, ist die Zeit abgelaufen: Der „Chirurg“ schnappt sie sich.
_Mein Eindruck_
Krimiautorinnen wie die britische Mo Hayder und die Amerikanerin Tami Hoag sind mit mir einer Meinung: Dies ist Krimistoff erster Güte, der nicht nur den Schlaf raubt, sondern auch Fingernägel in existenzielle Gefahr bringt. Ich habe das Buch in zwei Tagen durchgelesen – es geht sicher noch schneller.
|Glaubwürdigkeit|
Mal abgesehen von der raffinierten Konstruktion des Plots mit zwei Mordpartnern, von denen der eine in nächster Nähe des Hauptopfers arbeitet, baut die Autorin auf zwei wichtige Grundsteine: die authentische, geradezu akribische Schilderung des Chirurgenalltags einerseits und zweitens glaubwürdige, lebendige Figuren wie Catherine, Moore und Rizzoli. Daran hatte ich nicht das Geringste auszusetzen.
|Der Mörder|
Probleme hatte ich zeitweilig aber mit dem Täter. Seine Gedankengänge sind in beinahe aufsatzartigen Sequenzen dazwischengeschaltet. In diesen Gedanken und Fantasien scheint er sich und sein Tun zu rechtfertigen. Er verweist auf alte, antike Rituale wie etwa Agamemnons Opferung seiner Tochter vor dem Beginn des Trojanischen Krieges. Das scheint mir lediglich eine mythologisierende Überhöhung zu sein, um sein brutales Tun ins rechte Licht zu rücken. Außerdem begründet dies keineswegs, warum er seinen weiblichen Opfer die Gebärmutter entfernt: Trophäen?
Raffinierter sind da schon seine Beobachtungen von seinem Arbeitsplatz aus. Wir wissen lange Zeit nicht, wo er arbeitet und warum er so leicht und unerkannt an geeignete Opfer herankommt. Er erfährt von ihnen durch Aufträge von den Ärzten vergewaltigter Frauen, deren Blut auf Infektion mit HIV oder Geschlechtskrankheiten zu untersuchen.
Solche Frauen, so weiß der Killer, sind seelisch geschwächt: leichte Opfer. Auffallend ist der wiederholte Vergleich dieser Frauen mit Gazellen, die zur leichten „Beute“ des männlichen Raubtiers werden, das im Dschungel der Großstadt auf Pirsch geht. Auch dies ist in meinen Augen eine unzulässige, zumindest aber unangemessene Symbolisierung bzw. Metapher. Sie könnte sogar als sexistisch betrachtet werden: Der Täter ist hier immer ein Mann.
_Unterm Strich_
Man muss mit der Präsentation des Killers nicht hundertprozentig einverstanden zu sein, um diesen guten Thriller genießen zu können.
Zwar reicht er noch lange nicht an psychologische Meisterwerke wie „Das Schweigen der Lämmer“ heran, doch Gerritsen hat eine Kombination aus Psycho- und Medizinthriller geschrieben, die auf mehr hoffen lässt.
|Originaltitel: The Surgeon, 2001
Aus dem US-Englischen übertragen von Andreas Jäger|