Der Reiz halber Entblößung und völliger Nacktheit vor halb verblasstem Interieur – welcher Nostalgie-Gourmet könnte da widerstehen? Wir wissen nicht, ob es ein professioneller, geschäftstüchtiger Fotograf war oder ein Liebhaber, der erstmals eine nackte Frau auf die Platte bannte. Sicher ist hingegen, dass die Möglichkeiten, geheime Reize beliebig oft reproduzieren zu können, wenn man nur ein williges Objekt für sein Objektiv fand, um die (20.) Jahrhundertwende eine Schar erotomaner Fotoaspiranten auf den Plan rief.
Aus der Fülle ihrer Beute schöpfte ein Sammler – aus dessen Fundus wiederum die schönsten Fotos für den vorliegenden Band ausgewählt wurden. Die schönsten erotischen Fotos der Jahrhundertwende. Die Einführung verfasste sehr kenntnisreich und elegant Wolfgang Mohrhenn, der zahlreiche zeitgenössische Quellen zitiert.
Die Einführung
Frauen hatten sich im 19. Jahrhundert streng zu verhüllen, um als „züchtig“ zu gelten. Ein Strumpf unter Rocksaum sorgte für emporschnellende Augenbrauen. Noch 1888 kannte der Brockhaus das Fremdwort „Orgasmus“ als eine „emotionale Wallung“. Als diese Fotos zwischen 1890 und 1914 entstanden, galt Nacktheit nicht nur moralisch als Sünde, sondern vor allem von Rechts wegen. Justitia dies- und jenseits des Rheins hatte ein scharfes Auge auf „unzüchtige Darstellungen“. Doch was war denn „unzüchtig“? Darüber gingen die Ansichten auseinander, und die Fotografen ließen sich einiges einfallen, um diesem Vorwurf zu entgehen.
Drei Methoden
Die erste Möglichkeit nach der Erfindung der Fotografie im Jahr 1839 bestand darin, „anatomische Studien“ anzufertigen, insbesondere an frischen Luft. Wissen hatte Vorrang vor Anzüglichkeit, gestanden die gestrengen Richter zu. Die zweite Methode bestand darin, einen Kunstanspruch zu erfüllen, den das jeweilige Land individuell definierte. Kunst hatte keusch zu sein, besonders in der freien Natur. Was kann an „Naturwahrheit“ schon anzüglich sein, fragte beispielsweise René La Bègna 1898.
Doch wo hört Kunst auf und fängt Pornografie an? Darüber wird auch heute noch gestritten, die Wächter sind die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, die amerikanische Zensurinstitution MPAA und sicher gibt es auch in Frankreich eine entsprechende Behörde.
Die dritte Methode ist eine Art Mittelweg: Das nahezu textilfreie Modell wird quasi dokumentarisch begleitet, wenn es vor dem Toilettentisch schminkt, schmückt und frisiert. Diese Darstellung ist auf den Pinup-Fotos abgebildet, und strategisch günstig platzierte Objekte wie etwa ein Blumenstrauß oder die Hand eines männlichen Verehrers verdecken die Zonen zentralen Interesses, v.a. also die Vulva. War letztere mal zu sehen, so war sie garantiert derart mit Winterpelz behaart, dass sicherlich nichts Wesentliches zu entdecken war.
Die Distribution
Die vielfach kunstvoll inszenierten Fotos sind das eine, doch das in hoher Stückzahl verbreitete Foto in der Hand des männlichen Betrachters ist etwas ganz anderes. Da Nacktheit Sünde war und folglich ihre Darstellung und Verbreitung ein Verbrechen, mussten die Aktfotografen Mittel und Wege ersinne, um ihr Publikum zu erreichen. Die Lösung bestand in der Bildpostkarte, besser bekannt als „Französische Karte“ oder „Piquanterie„.
Ihr Erfinder war Léon Besnardeau, ein ehrbarer Buchhändler in Paris, der Kulturhauptstadt der Welt. Zahllose Touristen wollten nach Hause schreiben, und was bot sich Anschaulicheres als eine Bildpostkarte von den schönsten Motiven, die die Lichterstadt zu bieten hatte? Es blieb nicht bei Einzelkarten, sondern bald wurden Serien gedruckt: Es waren 120 Millionen Karten im Jahr 1910. Und selbst da, wo es nur eine einzige Serie gibt, stellen sich garantiert bald auch Sammler ein, die sie komplettieren wollen.
Postkarten in solch rauen Mengen herzustellen, drückte die Druckkosten und machte sie für jedermann und jederfrau erschwinglich. Noch wichtiger: Sie waren klein, gut unter dem Mantel zu verstecken und, ebenso wichtig, daheim leicht vor neugierigen Augen zu verbergen. Wie leicht war es um den guten Ruf geschehen, das konnte die Kündigung, die Scheidung, womöglich sogar die Enteignung und Enterbung nach sich ziehen.
Daher stellten die Verbreiter der erotischen Postkarten eigens Leute, die ihre verbotenen Druckerzeugnisse in düsteren Durchgängen und Kellern feilboten. Der Kunde durfte sich nur nicht erwischen lassen. Ein Glück, dass der Staatsanwalt nur anklagen konnte, was die Augen der Polizisten entdeckt hatten, etwa bei Razzien.
Kein Wunder, dass in der Folge, alles, was an Medien – Fotos, Karten, Bücher, Filme – kam, automatisch „mit dekadenter Erotik“ assoziiert wurde. Selbst die Millionenstädte Wien, London und Berlin konnte da nicht mithalten. Vorerst.
Der feine Unterschied
„Was machte denn das „Pikante“ erotischer Postkarten, den feinen Unterschied zu „künstlerischen“ Aktstudien aus?“, fragte Mohrhenn (auf S. 11). Der entscheidende Unterschied ist offenbar der Grad der Enthüllung des weiblichen Körpers. Ist dieser zu hundert Prozent enthüllt, handelt es sich entweder um Kunst oder eine Anatomiestudie. An diesen „legalen“ Präsentationen kann es also nicht liegen. Vielmehr ist es der Grad der VERhüllung, der den Betrachter angeblich so aufreizte.
Posen
Die häufigste Pose ist ohne Zweifel der Rücken und seine natürliche Verlängerung – siehe das Titelbild (weitere Fotos dürfen aus Copyright-Gründen nicht gezeigt werden). Sie erfüllen Vorlagen der klassischen Malkunst: „die liegende Schöne“, das „doppelte Lottchen“ im Spiegel, die „verruchte Maskierte“ und viele Typen mehr: Madonna oder Hure. Kaum ein Mädchen ließe sich als deutsches „Gretchen“ ansehen.
Vielfach spielen theatralische Accessoires wie Blumen, Paravents („Spanische Wand“ genannt) und Hüte eine Rolle. Selbstverständlich müssen Dessous aller Art um den Alabasterkörper – weiße Haut war das Schönheitsideal – drapiert werden. Gegen Ende der Belle Époque finden sich sogar Sportgeräte wie etwa Tennisschläger. Mit diesem Mädchen möchte Mann mal eine Partie spielen – wenn er sie nicht gerade auf Knien anbetet.
Die Frauen
Und die Modelle? Darüber lässt sich der Autor des Vorworts auffallend wenig aus. Vielleicht weil die Antwort ganz einfach und banal ist: Es sind Mädchen aus dem horizontalen Gewerbe der Prostitution, die sich in jeder Art von Etablissement betätigten. Aber könnten es nicht auch Frauen aus den Dienstberufen wie etwa Gouvernanten, Kindermädchen, Näherinnen, Hutmacherinnen usw. gewesen sein? Das ist denkbar, aber sie hätten ihre Stellung riskiert, so wie es die Käufer der französischen Postkarten taten. Die Welt wartete offensichtlich noch auf Fotomodelle, die vom Film kamen. Eine Frau sieht aus wie Mary Pickford (1892-1979) – die Unschuld vom Lande.
Taschenbuch: ca. 100 Seiten
ISBN-13: 9783453016163
www.heyne.de
Der Autor vergibt: