Giordano, Giovanna – Zauberflug

_|Der kleine Prinz| von Abessinien_

Eine poetische Mischung aus „Der kleine Prinz“, „Jenseits von Afrika“ und Kriegsroman, so lautet der erste Eindruck nach rund 50 Seiten.

Doch ein zweiter Blick enthüllt, dass dieses Bild der Tiefe des Erzählten nicht ganz gerecht wird: Es geht um die Erfahrungen, die das Abendland in der Begegnung mit den Wundern Afrikas macht, genauer: die italienische Eroberung und Besetzung Äthiopiens von 1935 bis 1941.

_Die Autorin_

Es besagt einiges, dass die junge Autorin am Fuße des größten Vulkans Europas in Catania Ästhetik unterrichtet. Die Schönheit der Dinge, verteidigt und verehrt angesichts des ständigen Bedrohung, so begegnet auch Äthiopien der jungen Hauptfigur des Romans, dem Piloten Giulio von der Vulkaninsel Stromboli.

Die Danksagung der Autorin enthüllt, dass ihr Großvater der Präfekt der abessinischen Stadt Gondar war und ihr seine Aufzeichnungen überließ. Sie weiß also aus erster Hand, was in Gondar, dem Hauptschauplatz der Handlung, geschah. Gondar, das die Italiener als eine Art Utopia umgebaut hatten, fiel 1941 als letzte Festung in die Hand der anrückenden Briten. Da herrschte schon eine bittere Hungersnot, und Giordano schildert die Zustände sehr realistisch, ohne jedoch melodramatisch zu werden.

_Handlung_

1935 hat das faschistische Italien unter dem Duce, der hier schlicht „der Capo“ bezeichnet wird, beschlossen, seinen Traum von einem zweiten Imperium Romanum zu verwirklich. Folglich beschloss es, Äthiopien zu erobern, eines der letzten unabhängigen Königreiche Afrikas. Alle anderen gehörten entweder den Briten oder den Franzosen.

Pilot Giulio von der Insel Stromboli hat nun die zweifelhafte Ehre, die italienische Kriegserklärung zu überbringen und generell als Postbote zu fungieren. Sein Flugzeug heißt „Vita Nuova“, das ’neue Leben‘. Treu begleitet es ihn bis zum Schluss, um ihn über die Wunder der Landschaft des Bergkönigreichs zu tragen, zu fremdartigen Wesen und Völkern, die manchmal anmuten, als wären sie den antiken Reisebeschreibungen des Herodot entstiegen. Jeder Stamm ist anders als sein Nachbar, mal mit großen Köpfen, mal mit kleinen, mal ohne Füße und Hände (hält die Sklavenhändler fern).

Bei seiner Begegnung mit dem König der Könige, dem „Negus“ Haile Selassie, beschreibt Giulio zwar das Outfit des Herrschers und seines Hofstaats, tut dies aber in so märchenhaften Worten, dass man sich in einem Märchen aus 1001 Nacht wähnt. Dies ist das grundlegende Prinzip der Erzählweise: Mit der Unschuld eines Kindes und dessen Begeisterungsfähigkeit vermag sie selbst schönste, bitterste und schrecklichste Details zu berichten, ohne davor zurückzuschrecken oder kitschig zu wirken.

Giulio lernt einen weisen Meister, Beba, kennen und lieben und dessen sprechenden, ebenso weisen Papagei, Pappamondo (‚Vater der Welt‘). Der Negus lässt eine Weile seinen Hofnarren Meleku den weißen Italiener begleiten. Zahlreiche Begegnungen vermitteln dem Piloten einen Eindruck von der Klugheit der Äthiopier und bieten seinen Begleitern Gelegenheit, kluge Bemerkungen zu machen, wie sie wohl auch „der kleine Prinz“ hätte machen können. Natürlich geht es um das Steckenpferd der Autorin, die Künste, aber auch darum, was die richtige Lebensweise sei. Hier gibt’s viel Stoff für das Poesiealbum.

Als die italienischen Truppen einmarschieren, hagelt es Bomben, und der Kaiser flieht nach England. Die Dörfer werden zerstört, die Krieger in den Widerstand getrieben, Graf Graziani veranstaltet ein Massaker nach dem anderen und brennt die schöne Hauptstadt nieder. KZs entstehen, und Hunger breitet sich aus.

Doch Giulio findet während dieser Vorgänge, die er nur aus der Ferne beobachtet, die Liebe seines Lebens in der abessinischen Fee Tigist, die an einem See wohnt, wo Giulio einmal abgestürzt ist. Die beiden haben einen Sohn, Kalid, dem Giulio Papierdrachen bastelt. Zusammen leben sie in Gondar während der Besatzungszeit, wo Giulio die ersten Briefe seines Sohnes Nicola erhält, der bei seiner Familie in Stromboli lebt. (Natürlich war Giulio schon verheiratet, bevor er losflog.)

Die schöne Zeit endet, als Italien dem britischen Empire 1940 den Krieg erklärt und die Briten von allen Seiten einmarschieren. Der letzte Statthalter in Addis Abeba, der adlige Herzog von Aosta, gibt in seinen letzten Tagen in Freiheit eine geradezu Don-Quichotte-hafte Figur ab: der letzte Ritter auf verlorenem Posten. Giulio verliert alles: seine Freunde und seine Freiheit, doch Tigist und Kalid kann er nach Kenia in Sicherheit bringen.

_Mein Eindruck_

Dies ist wahrscheinlich der ungewöhnlichste und poetischste Kriegsroman, den man sich vorstellen kann. Wie schon gesagt, erzählt die Autorin die Wunder Afrikas und die Schönheiten und Seltsamkeiten, denen der junge Held begegnet, in einer anschaulichen Bildersprache. Mit einem gewitzten Kniff vermag sie auch schrecklichste und dramatischste Momente zu berichten, ohne übertrieben zu wirken: Sie setzt einen symbolischen Vorgang oder Eindruck als Entsprechung ein. Durch das Interpretieren des Symbols (der Metapher) vermag der Leser den angedeuteten eigentlichen Vorgang zu kommentieren und zu bewerten.

Im Zentrum des Gefühls der Freiheit und des Lebendigseins, das Giulio in Äthiopien erfüllt, steht das Fliegen: das Darüberhinschweben, das Erobern des Himmels, das Überblicken der Erde, aber auch das Durchmessen großer Entfernungen und das Überbringen geheimer und nicht so geheimer, aber umso liebevollerer Botschaften. Giulio ist kein Tourist, der vorbeischlendert, ohne sich auf das Land einzulassen. Er ist ein Reisender, der sich vom Land verwandeln lässt – und der einen kleinen Beitrag in dessen Not leistet.

Natürlich beschreibt die Autorin auch die Italiener, die nach Afrika gekommen sind, um erstens Krieg zu führen – das sind die Krieger – und zweitens um das neue Utopia zu errichten, besonders in Gondar. Den kampfgeilen Kriegern wie einem gewissen Uragano wird bald ihr verdientes Ende zuteil. Doch auch den Träumern – Astronomen, Architekten, Musikern usw. – geht es nach ein paar Jahren an den Kragen. Schließlich planen die Architekten selbst Gefängnisse, Städte unterm Meer und sogar Luftschlösser. Dann haben sie nichts mehr zu beißen und ergeben sich den Briten.

Auf diese subtile Weise übt die Autorin leise Kritik an den faschistischen Machthabern, die eine ganze Generation von Italienern zu blenden vermochten – so wie in Deutschland Hitlers „braune Horden“. Ich bin nicht darüber informiert, ob der italienische Staat jemals Wiedergutmachung an den äthiopischen Staat gezahlt hat. Doch eine Neubewertung der einst so brutal eroberten Kolonie ist der erste Schritt in die richtige Richtung: „the splendour that was Africa“.

Und wenn man Abessinien als stellvertretend für das restliche Afrika ansieht, so erkennt man, dass es an ein Verbrechen grenzt, Afrika sich seiner eigenen Selbstzerfleischung zu überlassen, so wie es aktuell geschieht.

Man sieht: Dieser so harmlos poetisch daherkommende Roman kann durchaus etwas im Leser bewirken: eine Sehnsucht zumindest nach jenen Wundern des Paradieses, die Äthiopien/Afrika vor dem Einbruch des Westens jeden Tag bereithielt – zumindest für jenen Reisenden, der dafür empfänglich ist. Es kommt nicht von ungefähr, dass das Titelbild des Buches eine tropische Flusslandschaft zeigt, wo sich zwischen blauen Bäumen und Pfauen nackte Badende erfrischen: das Urbild der Unschuld.

|Originaltitel: Un volo magico, 1998
Aus dem Italienischen übertragen von Christiane von Bechtolsheim|