Goddard, Robert – Schatten von Aberdeen, Die

_Das geschieht:_

Nach vielen Jahren kehrt der in Kanada lebende Harry Barnett in seine englische Heimat zurück, um den Nachlass seiner verstorbenen Mutter zu ordnen. Die Einladung zu einem Treffen ehemaliger RAF-Kameraden ist ihm eine willkommene Ablenkung. Vor fünfzig Jahren hatte Harry als Soldat an einem obskuren militärischen Projekt teilgenommen: Junge Soldaten wurden in Kilveen Castle, einem unweit der schottischen Stadt Aberdeen gelegenen Außenposten der Royal Air Force, auf ihre Lernfähigkeit überprüft. Mit 14 Kameraden hatte Harry 1955 drei angenehme, weil drillfreie Monate in der alten Burg verbracht. Dorthin lädt Johnny Dangerfield, der im Ölgeschäft reich geworden ist, nun ein. Kilveen Castle wurde inzwischen zum Luxushotel umgebaut, sodass sich die im Rentenalter befindlichen Kameraden nicht lange bitten lassen.

Auch Harry fährt, obwohl er weiß, dass sein ehemaliger Freund und Geschäftspartner Barry Chipchase ebenfalls kommen wird. Nach der Pleite einer gemeinsam betriebenen Werkstatt geht man sich tunlichst aus dem Weg. Auch andere alte Kameraden hat Chipchase inzwischen um Geld geprellt, sodass Harry sich nicht wundert, dass Barry Kilveen Castle letztlich meidet.

Ohnehin ist das Treffen kein Erfolg. Schon während der Anreise verschwindet einer der alten Soldaten; seine Leiche wird später gefunden. Mord ist möglich, und als in kurzem Abstand zwei weitere Teilnehmer des Treffens sterben, wird die Polizei unangenehm. Ausgerechnet der biedere Harry wird zum Hauptverdächtigen. Zu ihm gesellt sich der aus der Versenkung aufgetauchte Chipchase. In ihrer Not tun die beiden Männer sich zusammen und stellen eigene Nachforschungen an. Sie führen in die eigene Vergangenheit zurück, die sie zu unfreiwilligen Opfer eines obskuren Experiments machte. In der Gegenwart sind die Polizei, der Geheimdienst und diverse Killer dem Duo auf den Fersen …

_Ein Buch als nicht ganz einfach zu hebender Schatz_

Die Konstruktion eines Rätsels, das auch den lese- und filmerfahrenen Zeitgenossen fesseln kann, ist im 21. Jahrhundert wahrlich kein einfaches Unterfangen. Uns wurden alle möglichen (und unmöglichen) Intrigen in unzähligen Varianten bereits präsentiert, sodass wir in der Regel wissen, wohin der Hase läuft.

Deshalb ist durchaus eine besondere Erwähnung angebracht, wenn es einem Autoren doch gelingt zu überraschen – einem Autoren zudem, der einem als Kandidat nicht unbedingt einfallen würde. Robert Goddard hat sich mit mysteriösen Ereignissen der (jüngeren) Vergangenheit, die sich in der Gegenwart meist gewalttätig zu neuem Leben melden, zwar einen Namen gemacht, der indes durch ein Zuviel an unterhaltsamen, aber zunehmend schematisch gestrickten Geschichten an Glanz verloren hat. Zumindest der Rezensent hätte Goddard ein Kabinettstück wie „Die Schatten von Aberdeen“ nicht (mehr) zugetraut!

Es zu finden, ist nicht ganz einfach, denn obwohl Goddard zu den Stammautoren des |Goldmann|-Verlags gehört, werden seine Werke optisch völlig lieblos und mit auswechselbaren Stock-Covern quasi gut getarnt in die deutschen Buchladen-Ketten gepresst.

_Menschen altern, Geheimnisse reifen_

Sehr schade ist das, denn die Geschichte vom alten Soldaten, der in eine monströse Verschwörung gerät, ist ungemein unterhaltsam. Zwar ist das dem Komplott zugrunde liegende Rätsel nachträglich betrachtet nicht gerade originell. So denkt der Leser freilich in 99 von 100 entsprechenden Fällen. Der Weg ist der Ziel, und der ist reich an scharfen Kurven und unerwarteten Hindernissen, während die Geschichte gemächlich beginnt, aber bald gefährlich an Fahrt aufnimmt. Dabei muss man mehr als einmal an Alfred Hitchcock selig und hier explizit an sein frühes Meisterwerk „The 39 Steps“ (1935; dt. „Die 39 Stufen“) denken, das ebenfalls eine wilde Flucht vor unsichtbaren, aber mörderischen Verfolgern durch schottische Moor- und Heidelandschaften und ein vertracktes Rätsel thematisiert, von dessen eigentlich unmöglicher Auflösung das Leben der ratlosen Hauptfiguren abhängt.

Auch Harry Barnett ist eine Figur, die Hitchcock gefallen hätte – ein Jedermann, der in seinem ruhigen Leben keine Turbulenzen erfahren und überstanden hat, die ihn auf das vorbereiten könnten, was ihn im Land seiner Väter erwartet. Folgerichtig ist Harry alles andere als ein Held und – obwohl schon zweimal in kriminelles Treiben verwickelt – in echten Krisensituationen überfordert. Schon sein Alter verbietet ihm Action-Einlagen, und für sein Naturell ist es charakteristisch, dass ihn bereits die Handhabung eines Handys überfordert; keine Idealvoraussetzungen für eine Flucht, die kreuz und quer durch Schottland und England führt und in der nördlichen Ödnis der Neuen Hebriden ihren Höhepunkt findet.

_Nimm’s mit Humor, auch wenn die Kugeln fliegen_

Hitchcock zum Dritten: Obwohl Mord und Totschlag mehr als eine Szene von Harrys Odyssee prägen, schlägt Autor Goddard einen sehr leichten Ton an. „Die Schatten von Aberdeen“ besticht durch einen stets präsenten, nie albernen oder aufdringlichen, sondern britisch trockenen Humor, der die Übersetzung erfreulich gut überstanden hat. Für einen politisch unkorrekten Oneliner sorgt auch in kritischen Situationen zuverlässig Luftikus Barry Chipchase, den Goddard wohlweislich dem blassen Harry an die Seite stellt.

Barry ist ein Betrüger, dem kein Coup jemals wirklich gelang. Wieso das so ist, erfahren wir schnell, denn für eine Hetzjagd auf Leben und Tod ist er eigentlich nicht der richtige Partner. In der Tat ist es die blanke Not, die unsere ungleichen ‚Helden‘ zusammenschweißt: ein Klischee, das Goddard wundersam mit neuem Leben erfüllt.

Natürlich hat Barry das Herz auf dem rechten Fleck. Wenn man weiß, welche Knöpfe man bei ihm zu drücken hat, schwingt er sich zu ungeahnten Höhenflügen auf. Harry ist hartnäckig, aber zurückhaltend, Barry unkonventionell. Gemeinsam sind sie nicht unbedingt unschlagbar, aber sie entwickeln eine Gegenwehr, die nicht aus bisher verborgenen Superkräften, sondern logisch aus der Handlung erwächst. Das zu verfolgen, macht einfach Spaß, zumal Goddard mit Überraschungen nie geizt. Selbst das etwas zu happy geratene Ende passt zu dieser Geschichte, die Routine mit Raffinesse mischt – in welchem Verhältnis dies geschieht, mag der Leser/der Kritiker selbst entscheiden.

_Der Autor_

Robert Goddard wurde 1954 in Fareham, Hampshire, geboren. Als Student der Universität zu Cambridge erwarb er einen akademischen Grad als Historiker: eine Ausbildung, die ihm später nützlich war, obwohl er sich zunächst mit den in diesem Metier üblichen Beschäftigungsproblemen konfrontiert sah. Ein Versuch, als Journalist Fuß zu fassen, scheiterte recht bald, und auch als Lehrer konnte Goddard nicht glänzen. So wählte er den letzten Ausweg und ging in die Verwaltung.

Während er für das „Education Department“ des Devon County Councils tätig war, schrieb er in seiner Freizeit einen ersten Roman. „Past Caring“ (dt. „Dein Schatten, dem ich folgte“) erschien 1986 und entwickelte sich sogleich zu einem großen Erfolg. Der gleichzeitig vertrackte und spannend entwickelte, dabei aber den Regeln des Genres stets verpflichtete und massenlesertaugliche Thriller um diverse Schatten aus ferner Vergangenheit, die in der Gegenwart zu neuem, unheilvollen Leben erwachen, wurde zur Blaupause der meisten Romane, die seither in zügigem Tempo und regelmäßig folgten. Die Leser scheint es nicht zu stören, jedes Goddard-Werk entert die Bestsellerlisten; nicht bis zur Spitze, aber – auch in Deutschland – hoch genug, um dem mit seiner Gattin heute in Truro, Cornwall, lebenden Schriftsteller ein behagliches Auskommen zu garantieren.

Die Harry-Barnett-Serie erschien zuletzt im |Wilhelm Goldmann Verlag|:

(1990) Into the Blue („Mitten im Blau”) – TB 41310
(1996) Out of the Sun („Die Zauberlehrlinge”) – TB 44273
(2006) Never Go Back („Die Schatten von Aberdeen“) – TB 46400

_Impressum_

Originaltitel: Never Go Back (London : Bantam Press 2006/New York : Delta Trade Paperbacks 2007)
Übersetzung: Peter Pfaffinger
Deutsche Erstausgabe: Juni 2007 (Wilhelm Goldmann Verlag/TB Nr. 46400)
411 Seiten
EUR 8,95
ISBN-13: 978-3-442-46400-5
http://www.goldmann-verlag.de

_Außerdem von Robert Goddard auf |Buchwurm.info| zu finden:_

[„Bedenke, dass wir sterben müssen“ 1605

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