Denk wie ein Maolot: Kognitive Reise in die Ökologie
Die Siedler auf der erdähnlichen Welt Everon halten sich für ihre Herren, doch als ein Junge von der Erde zusammen mit seinem Everon-Tier, einem Maolot, eintrifft und beginnt, nach seinem verschwundenen Bruder, einem Chef-Ökologen, zu suchen, zeigt sich, dass die Umwelt des Planeten keineswegs unterworfen wurde. Für die Menschen, die sich „Herren von Everon“ nennen, stellt sich die Frage, ob sie sich mit den wahren Herrschern arrangieren oder untergehen werden.
Der Autor
Gordon R. Dickson wurde am 1. November 1923 in Kanada geboren, studierte an der University of Minnesota und begann 1950, Science Fiction zu schreiben. Seitdem hat er in fast fünf Jahrzehnten rund 40 Romane und mehrere hundert Kurzgeschichten geschrieben. Zu seinen bekanntesten Büchern gehören die zahlreichen Bände des Childe-Zyklus, die bei Moewig veröffentlicht wurden. .
Sein erster Ausflug in die Fantasy stellt „Die Nacht der Drachen“ dar und war ein voller Erfolg. Der Roman wurde mehrfach ausgezeichnet. Diesem Roman ließ Dickson noch zahlreiche weitere „Drachen“-Romane folgen, die allesamt bei Heyne erschienen sind. Zusammen mit Poul Anderson schrieb er auch witzige Satiren, die bei Moewig unter dem Titel „Des Erdenmannes schwere Bürde“ veröffentlicht wurden.
Handlung
Der 15-jährige Junge Jef Aram Robini fliegt als junger Wissenschaftler zur Siedlerwelt Everon, die sich bereits in ihrer zweiten, der Verfeinerungsphase, befindet. Jef hofft, doch einen Hinweis auf den Verbleib seines verschwundenen Bruders Will, des planetaren Chef-Ökologen, zu finden und hat einen Hinweis auf seinen letzten gesicherten Verbleib. Der ist aber schon vier Jahre alt, als Jef endlich eintrifft.
Mit an Bord des Raumschiffs ist auch ein Passagier namens Martin Curragh, der sich Ökologischer Kontrolleur ausgibt. Er steht Jef bei, als die anderen Passagiere dagegen protestieren, dass Jef ein Tier mitgebracht, das sie auf Everon nur als furchteinflößenden Räuber kennen – einen Maolot. Nur dass „Mikey“, wie Jef seinen Begleiter getauft hat, blind ist und in einem irdischen Zoo aufwuchs. Jef mag es, wenn Mikey sich verhält, als könne er die Gefühle und Empfindungen seines „Herrchens“ genau nachvollziehen. Jef muss dabei an Empathie denken.
Verkehrte Welt
Martin Curragh verhilft Jef zu einer Einladung zum Abendessen beim planetaren Polizeichef, dem Konnetabel Avery Armage. Bei dieser Gelegenheit bekommt Jef nicht nur Kost und Logis geschenkt, sonders auch Einblick in die oberste Gesellschaftsschicht. Zwei wichtige Damen halten affenähnliche, intelligente Haustiere an der Leine, die sie „Jimis“ nennen. Jef ist befremdet. Hier erfährt er auch, dass genetisch nachgezüchtete Büffel in den Ebenen grasen und Antilopenzüchter ihre Tiere im Wald grasen lassen. Auch das kommt Jef verkehrt vor, denn auf der Erde sind Antilopen Savannenbewohner und Wisente Waldbewohner. Außerdem findet er einen Weg, in Curraghs Zimmer einzubrechen und dessen wahre Identität festzustellen.
Ins Gebirge
Curragh redet mit dem Konnetabel und verhilft Jef und Mikey zu einem Flug im Hubschrauber, der beide in kürzester Zeit ins weit entfernte Oberland transportiert. Bei der Landung bleibt der Pilot jedoch zehn Meter über dem Boden und lässt seine Passagiere mit einer Art Lift zum Boden hinab. Wovor er Angst hat, verrät er jedoch nicht. Mithilfe eines Navis kommt Jef gut voran, um Posten 50 zu erreichen, den Ort der letzten Sichtung seines Bruders.
Eine Amazone
Doch schon am ersten Abend wird er im Wald beinahe erschossen. Die Armbrust der jungen Waldläuferin, die sich als Jarji Hillegas vorstellt, ist eine beeindruckende Hochleistungswaffe. Sie richtet sich auf den Neuankömmling, weil er unbefugt und unangekündigt auf Land in Privatbesitz eingedrungen ist. Hillegas ist Antilopenzüchterin und hält ihn für einen Spion der Büffel-Rancher, die immer mehr Wald an sich reißen. Nach einer Weile gelingt es Jef, seine Unschuld ebenso wie seine völlige Ahnungslosigkeit zu belegen. Er und Jarji wundern sich, warum der Konnetabel Jef in Gefahr gebracht hat, indem er sein Kommen nicht ankündigte – genauso wenig wie die Tatsache, dass Jef einen jungen Maolot dabei hat.
Der Herrscher
Nachdem er von Jarji grünes Licht für die Weiterreise bekommen hat und sie verschwunden ist, hat Jef wenig Hoffnung, den letzten Zeugen, der seinen Bruder lebend sah, wiederzufinden. Posten 50 soll verlassen sein. Doch bevor er dorthin gelangt, muss sich Jef dem größten Raubtier des Planeten stellen, vor dem Mikey schon die ganze Zeit gezittert hat: einem ausgewachsenen männlichen Maolot, in dessen Revier sie eingedrungen sind…
Mein Eindruck
In einer genau berechneten Abfolge solcher kritischen Begegnungen befindet sich Jef Robini zusammen mit seinem Maolot auf einer kognitiven Reise. Sie müssen das Rätsel knacken, das immer deutlicher spürbar ist. Auf der einen Seite kämpfen Büffel-Rancher gegen Antilopenzüchter, auf der anderen einheimische gegen eingeschleppte Tierarten.
Eigentlich sollte es ja die Rolle der Ökologen wie des verschwundenen Will Robini sein, diese Interessen auszugleichen, doch nichts dergleichen scheint der Fall zu sein. Allmählich wächst in Jeff der finstere Verdacht, dass Polizeichef Armage seine Hand auf der falschen Seite aufhält und er überhaupt kein Interesse daran hat, dass irgendeine Seite den ökologischen Gesetzen der Erde entspricht, solange er nur seinen Schnitt dabei macht.
Viele Feinde
Der Mittelteil bringt zwar nicht die finale Lösung des Rätsels, wohl aber eine Serie abwechslungsreicher Begegnungen. Die Expedition geht, wie so häufig bei diesem tollen Outdoor-Autor (er ist immerhin Kanadier), in den Wald, wo man immer auf Überraschungen gefasst sein muss, besonders auf solche, die das leben des unachtsamen Wanderers bedrohen. Jarji ist ein wehrhaftes Frauenzimmer, eine Amazone, die ihn mit jedem Recht der Wildnis erschießen könnte.
Nachdem sie ihm seine unwahrscheinliche Story abgenommen hat, bringt sie ihn in ein verborgenes Lager der Bergbewohner. Dort lässt man sich nicht von ihm täuschen, sondern plant, ihn abzumurksen. Als er dann auch noch die Kommunikation mit einem illegalen Frachtraumschiff, das sich in der Umlaufbahn befindet, mithört, ist er seines Lebens nicht mehr sicher. Doch die mitgehörten Funksprüche haben ihm eine weitere Ebene der Realität von Everon offenbart: Diese Welt ist alles andere als isoliert, sondern hängt eng mit der Erde und dem galaktischen Handel zusammen. Aber welche Bedeutung hat dies für Everon?
Die wahren Herren
Die Begegnung mit einem ausgewachsenen Maolot ist der Anfang einer Reihe von Treffen mit diesen Raubtieren der obersten Hierarchie-Ebene in der ökologischen Kette. Ebenso wie Mikey sind die großen, löwenartigen Wesen zu Empathie-basierter Kommunikation fähig, die keiner Worte bedarf. Jef ist wohl der einzige Mensch auf Everon, der ebenfalls zu dieser Kommunikation fähig, dank seines Aufwachsens an der Seite von Mikey.
So mancher Leser mag sich wundern, wie ein Maolot mit geschlossenen Augen seine Umgebung „sehen“ kann. Jef kommt allmählich dahinter. Mikey – und alle Maolot-Artgenossen mit ihm – dringen in den Geist aller anderen Lebewesen ein und triangulieren mithilfe von deren Sinneseindrücken die Position jedes gewünschten Objekts, sei dies nun Sehen, Riechen oder Tasten. Natürlich nimmt Mikey auch die Sinneswahrnehmung seines Seelenbruders Jef in Gebrauch. Da er bei der Begegnung mit dem erwachsenen Maolot auch Jefs Angst vor dem großen Raubtier mitbekommt, „spricht“ er beschwichtigend auf den Maolot-Mann ein. Solange, bis dieser sich trollt. Bemerkenswert daran: Mikey hat noch nie zuvor mit einem Maolot-Mann kommuniziert, denn er wuchs ja auch der Erde auf.
Das oberste Gericht
Nachdem er allen Gefahren entkommen ist, trifft Jef wieder auf Jarji und Martin Curragh, den dubiosen Mann von der Erde. Was haben die beiden miteinander zu tun, fragt sich der Junge, der mittlerweile, wie Mikey, zu einem ausgewachsenen Mann herangewachsenen ist. Nach ein paar sehr ernüchternden Fakten über die äußerst begrenzte Handlungsfähigkeit von Chef-Ökologen lässt sich Jef von seinem besten Gefährten ins Hochgebirge führen.
Er gelangt in ein verborgenes Felsental, wo aufragende Steine aussehen wie Throne. Auf ihnen sitzen erwachsene Maolot-Männer. Sobald auch Jarji und Curragh eingetroffen sind, beginnt eine Gerichtsverhandlung der Maolots. Was soll mit den Eindringlingen von der Erde geschehen – und mit deren Herren auf der Erde, die nichts als Eigennutz im Sinn haben? Jef Robini sieht sich der anspruchsvollen Aufgabe gegenüber, seine Existenz ebenso rechtfertigen zu müssen wie die der gesamten menschlichen Rasse. Sollte er darin versagen, würde diese Rasse auf telepathischem Wege ausgelöscht werden…
Die Übersetzung
Rosemarie Hundertmarck war bis zu ihrem viel zu frühen Ableben eine der besten Übersetzerinnen von phantastischer Literatur. Sie zeichnet beispielsweise für die Neuübersetzung von Robert Heinleins Future History „Methusalems Kinder“ (bei Heyne und Bastei Lübbe) verantwortlich, einem Textkonvolut (ca. 1000 Seiten) von zentraler Bedeutung in der klassischen Science Fiction.
S. 57: „Martin [es] hatte dann nicht gesehen, dass sie ihn brauchten…“ Zumindest das „es“ erscheint überflüssig. Vielleicht stimmt aber auch der Satzbau nicht.
S. 112: „Ich habe Sie gesehen.“ Gemeint ist aber kein Gegenüber („Sie“), sondern die Papiere von Jef. Das S muss also kleingeschrieben werden.
S. 179: „eine Ferse über Mikey[s] breites Rückgrat zu haken.“ Das S fehlt.
S. 182: „so dünkte es ihn jetzt“. Dieses altertümliche Verb (Dünkte) verstehen heute nur noch Philologen – und benützen würde es eh keiner mehr.
S. 182: „so folgte ein[e] neuer Gedanke“. Das E ist überflüssig.
S. 217: „dass ich diesen Ort wieder verlasse[n].“ Das N ist überflüssig.
S. 246: „auf der Landetreppe[n] des Raumschiffes“. Das N ist überflüssig.
S. 250: „eine einzelne Spezies gegen den Rest seiner (!) eigene ökologischen Kette gewandt hatte und sie zu seinem (!) privaten Nutzen kannibalisch verschlang.“ Die Spezies ist weiblich, daher müssen auch die Possessivpronomina „seiner“ und „seinem“ weiblich sein: „ihrer“ und „ihrem“.
S. 250: „die Menschen – nun keine[n] Menschenaffen mehr, sondern echte Menschen -…“ Das N ist überflüssig.
Unterm Strich
Man sollte das deplatzierte Titelbild einfach mal ignorieren. Der Jugendroman schildert nämlich auf sehr intelligente und doch spannende Weise die kognitive Suche und Reise (Queste) eines Erdenjungen auf einer fremden Welt. Er denkt, er sucht nach seinem Bruder, doch dabei ist es umgekehrt: Sein Bruder hat ihn als Teil eines Experiments zusammen mit einem Everon-Wesen aufwachsen lassen, um eine Alternative zu finden – eine Alternative zu den erheblichen Kämpfen zwischen einheimischen und eingeschleppten Spezies. Doch was können ein fünfzehnjähriger Junge und ein blinder Maolot zur Lösung der Konflikte beitragen, fragt sich der Leser verwundert.
Parzival
Jefs kognitive Suche sorgt für eine permanente Spannung, die die Handlung trägt und schließlich ihren logischen Endpunkt in der Gerichtsverhandlung findet. Auf dem Weg dorthin begegnet Jef wie ein unerfahrener Ritter Parzival (nur ohne eine rote Rüstung) allerlei fragwürdigen Typen: einer kratzbürstigen Amazone, zwielichtigen Polizeichefs, rebellischen Bergbewohnern, furchteinflößenden Maolot-Männern und vielem mehr. Er erlebt eine Stampede in der Prärie und die Zusammenkunft der wahren Herrscher Maolots. Alle diese Erfahrungen und Erkenntnisse reichen jedoch letzten Endes nicht aus, muss er erkennen, um die Existenz einer so räuberischen Rasse wie die der Menschen in der Galaxis zu rechtfertigen. Alles hängt nun von Jefs Intelligenz ab, um die ultimative Katastrophe abzuwenden.
Humor und Romantik
Als junger „Ritter“ stößt Jef auf allerlei Seltsamkeiten, darunter eine Amazone namens Jarji. Diese ist von seinen andauernden Fragen total genervt und würde ihn allein schon deswegen am liebsten über den Haufen schießen. Man sieht also, dass es keineswegs an Dramatik mangelt, aber auch nicht an ironischem Humor. Nur wird hier selten gelacht, dafür hat der Leser, der die Situationskomik erkennt, viel zu schmunzeln haben. In diesem Punkt ist der Jugendroman wesentlich unterhaltsamer als der ähnlich gestrickte Roman „Wolf und Eisen“, in dem ein Wolf den Maolot als Gefährten des Protagonisten ablöst.
Die finale Frage
Der Leser, der die Beschreibung bis hierher verfolgt hat, dürfte sich nun zu Recht fragen, ob denn Jef nun seinen Bruder Will gefunden hat. Hat er. Die Antwort auf dieses Rätsel befindet sich direkt vor der Nase des Lesers. Er muss nur zwei und zwei zusammenzählen und sich mal fragen, warum dieser Martin Curragh immer wieder auftaucht und viel zu viel über Jefs Leben weiß…
Taschenbuch: 256 Seiten
Originaltitel: Masters of Everon, 1979
Aus dem Englischen von Rosemarie Hundertmarck
ISBN-13: 9783811835139
Pabel Moewig
Der Autor vergibt: