Gottesstaat Iran

Im Zuge der Globalisierung und der damit verbundenen weltweiten Informationsgesellschaft treffen Kulturen frontal aufeinander, weswegen der interkulturelle Dialog notwendiger ist als je zuvor. Dem gegenüber gibt es allerdings Kräfte, deren Interesse ein klares Feindbild „Gut“ gegen „Böse“ aufrechtzuerhalten versucht. Für die westliche Gesellschaft ist das „Böse“ das Schreckgespenst des Islams, jedenfalls in Form der Vorstellung der islamischen Utopien für einen „Gottesstaat“. Ungeachtet des pathologisch kranken Fundaments der islamischen Religionsvorstellung, welches aber genauso auch in den anderen monotheistischen Buchreligionen der Christen und Juden besteht, erscheint es viel zu einfach, den Islam auf eine bestimmte Ideologie festzulegen. Die Strömungen innerhalb dieser Religion sind genauso vielfältig, facettenreich und unterschiedlich zueinander wie in anderen Systemen auch.

Im Koran selbst findet sich keinerlei Hinweis auf die Gestaltung eines Gottesstaates, denn dieser gilt erst möglich, wenn der letzte Imam sich aus seiner Verborgenheit sichtbar manifestiert. Philosophisch steht dahinter der Gedanke, dass solches in einer weltlichen Realität überhaupt nicht möglich ist. Der heilige Krieg ist synonym mit der Rückkehr ins Paradies und der Erkenntnis, dass ein Paradies auf Erden nicht möglich sei. Im Grunde ist dies also dieselbe Idee wie der christliche augustinische Gottesstaat, der nur im Himmelreich verwirklicht werden kann. Dennoch gibt es die Bestrebungen, einen solchen Gottesstaat zu verwirklichen, und die Bemühungen dahingehend lassen sich am besten am Beispiel des Iran aufzeigen, da dieser das einzige islamische Land ist, wo dies versucht wurde zu verwirklichen. Dabei gehört die Staatsidee selbst schon zur Moderne, was vom Westen gerne ignoriert wurde.

Die Verfassung des Iran, die auf demokratischen Ideen beruht, ist nun bereits einhundert Jahre alt und war schon damals ein Zeichen dafür, dass Moderne und Tradition sich zu vermischen begannen. Angehalten wurde dieser Prozess durch den Staatsstreich 1921 von Reza Khan und die Einführung der Monarchie, was die Bevölkerung zwar unterdrückte, aber genauso auch mit westlichem Denken infiltrierte. Erst mit der Revolution 1979 wurde diese Diktatur beendet und die erste islamisch-klerokratische Staatsform unter Homeyni eingeführt. Der anfangs vom Westen zu Recht geächtete Fundamentalismus hat seitdem viele Entwicklungen durchlebt und sich längst wieder liberalisiert. Selbst unter dem „Revolutionsrat“ zu Homeynis Zeiten gab es aber – ähnlich vielleicht wie unter den vielfältigen unterschiedlichen Gruppierungen unserer NS-Zeit – völlig konträre Sichtweisen.

Diese zu kennen und differenzieren zu lernen, gehört eigentlich zur Pflicht, wenn man in der Gottesstaats-Debatte mitreden möchte. Denn es ist sehr profan zu glauben, dass die islamischen Geistlichen als Urheber solcher Visionen ins tiefste christliche Mittelalter zu rücken wären. Im Gegenteil handelt es sich um eine politische Philosophie auf höchstem Niveau, die sich sehr wohl auch fundierteste Kenntnisse der westlichen Philosophie angeeignet hat. Demokratie, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, Bürger- und Menschenrechte spielen in den religiösen Diskussionen eine große Rolle. Wie erwähnt, ist im Offenbarungstext des Koran auch keine Stelle zu finden, mit der ein politisches Mandat der Religion eindeutig begründet werden könnte. Natürlich gibt es schon seit dem frühislamischen Kalifat ein „dualistisches“ System mit Aufteilung politischer und religiöser Aufgaben, aber historisch ist das sowohl bei den Sunniten mit dem Tod des 4. Kalifen als auch bei den Schiiten mit dem Entschwinden des 12. Imam aufgehoben.

Das islamische Gesellschaftsbild ist utopisch und lässt sich nicht politisch, sondern nur weltanschaulich definieren. Die Schiiten erkennen außer den zwölf Imamen keine rechtmäßigen Herrscher an und auf Mohammed selbst kann sich mangels Äußerungen von ihm sowieso kein Mohammedaner beziehen. Die Meinungen gehen bereits seit seinem Tod erheblich auseinander, weswegen es eine große Vielzahl religiöser Gruppierungen und Richtungen gibt. Die Herrschaft des „einfachen“ Menschen wird – da er göttlichen Ursprungs ist – solange akzeptiert, bis irgendwann der zwölfte Imam als rechtmäßiger endzeitlicher Herrscher wieder erscheint. Auch im Islam es am naheliegendsten, deswegen den islamischen Staat auf freier Wahl und Volksherrschaft zu begründen.

Die Errichtung eines islamischen Staates ist eigentlich nur der Versuch, die kulturelle Eigenart bewahren zu können. Es handelt sich dabei um eine Sache der Vernunft. Eine islamische Identität der Muslime ist im Grunde ein Zeichen der Verwestlichung, um überhaupt eine gewisse Geschlossenheit der islamischen Welt in politisch und religiös-geistlicher Hinsicht präsentieren zu können. Obwohl die Grundrichtung dadurch schon immer antiwestlich ist, wurde die Notwendigkeit der Aneignung der modernen Wissenschaft und des westlichen Denkens auch immer als notwendig betrachtet. Die islamischen Philosophien gingen sogar so weit festzustellen, dass die Europäer mit der Praxis der Freiheit, der Gleichheit und der bürgerlichen Gesetze eher dem Islam folgten als die Muslime selbst. Seit der Verfassungsschaffung von 1906 im Iran setzten sich die religiösen Führer für modernes Bildungssystem, moderne Wissenschaft und politische Erneuerung ein, wobei sie aber den Parlamentarismus immer wieder ablehnten. Modernisierung und Verwestlichung wurden immer klar unterschieden, aber dessen, dass Modernisierung nicht vollkommen ohne Verwestlichung machbar ist, war man sich ebenso bewusst. Es gab jedoch keine Alternative zur Modernisierung, denn für den Fortschritt ist es unabdingbar, dass Armut und Elend im Volk beseitigt werden.

Schlüssig bleibt auch dabei die Bemühung, eigene Werte von denen der westlichen Zivilisation abzugrenzen. Soziale westliche Gedanken und deren Wissenschaften haben nichts mit Religion zu tun und stehen nicht in Widerspruch zu ihr. Vertreter des Gottesstaates sehen in ihrem Modell ein demokratisches und nicht-aristokratisches System. Die Schiiten sehen im Islam selbst eine revolutionäre Bewegung gegen die Schia der sunnitisch islamischen Mehrheit. Aber nie legten die Anhänger der 12-Imam-Lehre es auf einen Kampf gegen die so genannten unrechtmäßigen sunnitischen Herrscher an, wobei die schiitische Auffassung vom idealen Zweck der Religion im Kern die revolutionäre Aktion begünstigt, was 1978 auch zur Revolution von Homeyni führen konnte. Im Iran steht seitdem allerdings die Erneuerung der islamischen Gesellschaft auf der Tagesordnung, die ursprünglichen Ziele, diese Revolution zu exportieren, wurden fallen gelassen und die derzeitigen Reformbestrebungen sind auch nicht mehr radikal.

_Geschichtlicher Verlauf der religiösen Staatsentwicklung im Iran_

|1. Seyh Hadi Nagm`abandi (1834 – 1902)|

… befasste sich mit Vernunft und Glauben und entwickelte die „Kritik der religiösen Vernunft“, die in der Geschichte der iranischen „Erwachsenenbewegung“ maßgeblich war. Er stand in enger Beziehung zu den Freimaurern und somit Reformern. Seine Werke gelten als „neue spekulative Theologie“ mit dem Menschen als „vernünftigem Wesen“ im Mittelpunkt. Vor allem stellte er die Legitimation der Überlieferung in Frage, die ohne rationale Überprüfbarkeit nicht akzeptiert werden könne. Aus menschlicher Vernunft heraus betrachtet er den ersten Propheten. Mit ihm hätte ein authentischer islamischer Humanismus begründet werden können, wenn dies nicht nach Scheitern der späteren Staatsverfassung und Wiedereinführung der Monarchie verdrängt worden wäre.

|2. Seyyed Asadollah Harquani (1839 – 1936)|

Er befürwortete die Modernisierung im Land, aber bekämpfte die Kolonialmächte. Unter Moderne verstand er die technologische Modernisierung; die politischen, rechtlichen, ethischen und gesellschaftlichen Aspekte ließ er dem Islam vorbehalten. Die Moderne sollte sich dem Islam anpassen. Im Islam sah er den Geist der Freiheit, Gleichheit, Wohltätigkeit und Brüderlichkeit und da dies im islamischen Gesetz auch verankert ist, sah er die islamische Demokratie gegenüber der unvollkommenen, begrenzten Gleichheit westlicher Länder als die vollkommenere an. Aber in der Verbreitung der Demokratieversuche in der westlichen Welt sah er ein Indiz, dass die Erscheinung des verborgenen zwölften Imam näher rücke. Während der Verfassungsrevolution 1906 saß er im Revolutionskomitee und machte sich dort besonders für Re-Islamisierung stark. Herrschaftsgewalt war auch bei ihm nicht vererbbar, sondern von der islamischen Gemeinschaft gewählt.

|3. Mirza Mohammed Hoeyn Na´ini (1860 – 1906)|

Von ihm stammt der Entwurf zur Errichtung eines islamischen Staates nach westlichem Muster (1906), der sich zwar mit eigenen zivilgesellschaftlichen Strukturen und eigenen kulturellen und religiösen Werten von westlich fremden Werten abgrenzen sollte, aber nicht die Herrschaft der religiösen Rechtsgelehrten anstrebte. Eine Verfassung neben der Scharia war für einen Teil der schiitischen Herrscher eine menschliche Rechtsordnung neben der göttlichen Ordnung. Er konstruierte eine moderne religiös-politische Lehre, die einen Bruch mit der Tradition bedeutete und vom Revolutionskonzept Homenys wieder aufgegriffen wurde. Der Geistliche Na`ini sah keine Unvereinbarkeit zwischen Religion und Politik bzw. Islam und modernem Staatssystem. Religion und Staat bilden in der islamischen Gesellschaft eine Einheit, die Errichtung eines islamischen Staates ist aber eigentlich aufgrund der Abwesenheit des heiligen Imam nicht möglich. Aus rationalem Denken heraus erschien eine Staatsbildung trotz dieser Tatsache dennoch notwendig.

Na`ini war überzeugt, dass das abendländische Christentum die moderne Wissenschaft und Zivilisation der islamischen Kultur verdanke. Die europäische Gesellschaft habe zuvor in Barbarei und Wildnis gelebt und ihren unzivilisierten Zustand durch die Begegnung mit der islamischen Welt überwunden und bezieht sich dabei auf Ansichten Rosseaus. Zu seiner Zeit sah er das aber umgekehrt, dass nämlich inzwischen Barbarei und Unterdrückung den Islam ergriffen haben. Deswegen setzte er auf den Staat, der bis zur Rückkehr des Endzeit-Imams provisorische Natur ist, und den Despotismus der konservativen islamischen Rechtsgelehrten beenden solle. Diese vergleicht er mit dem Despotismus der Päpste des Mittelalters, die ebenfalls die Menschen ihrer Freiheit beraubten. Durch einen Staat bekämen die Menschen ihre Freiheit zurück. Na´ini propagierte die Autonomie des Volkes, eine Gleichberechtigung zwischen Volk und politischen Akteuren und ließ dabei die herrschende und politische und religiöse Hierarchie außer Acht. Die islamische Religion, die immer als Religion der Vernunft betrachtet wurde, muss sich der „modernen Vernunft“ der Aufklärung anpassen.

|4. Seyyed Mohammad Hoseyn Tabataba`i (1902 – 1982)|

Er ist der wichtigste Theologe der Schia im 20. Jahrhundert, dessen Koraninterpretationen heute die stärkste Beachtung finden. Auch er ist von westlicher Philosophie inspiriert, stellt die Vernunft über Emotionen und sieht eine Staatsgründung als zum Menschsein gehörende Entwicklung an, die ein friedliches Miteinander ermöglicht. In seiner Soziallehre lässt sich nur ein Unterschied zu Hobbes‘ Philosophie feststellen, nämlich, dass die so genannte „Machtlehre“ Hobbes den metaphysischen Aspekt nicht berücksichtigt. Tabataba`i ist überzeugt, dass nur religiöse Gemeinschaften die einzig wahren Gesellschaften seien, weil sie eine Diesseits- wie Jenseitsperspektive bieten.

Die Frage der Herrschaft kann nicht im Rahmen der islamisch-schiitischen Rechtswissenschaft gestellt werden, sondern nur im Rahmen eines sozialphilosophischen Prinzips im Islam. Herrschaft ist eine „vormundschaftliche Betreuung“. Solch eine Gesellschaft für die Zeit der Verborgenheit des Imams zu definieren, gelingt ihm aber ebenso wenig wie den übrigen Geistlichen. Ein Mehrheitsprinzip, das Vorgänger von ihm vertraten, lehnt er ab, denn für ihn muss die Wahrheit der Maßstab sein. Das Prinzip der Humanität gehört für ihn zum Wahrheitsgemäßen. Die von demokratischen Gesellschaften ausgehende Kolonialisierung und Ausbeutung, unter denen die islamische Welt gelitten hat, sind für ihn ein Zeichen dafür, dass die westlichen Werte zu Entfernungen von den von Gott gegebenen Prinzipien der Natur führen. Aber er distanziert sich genauso auch davon, die religiösen Rechtsgelehrten in der „Zeit der Verborgenheit“ explizit als höchste Instanz der durchführenden und gesetzgebenden Gewalt zu bezeichnen.

|5. Seyh Mortaza Motahhari (1920 – 1979)|

Der führende Ideologe und Wegbereiter der islamischen Revolution 1978/79 beschäftigte sich stark mit der marxistischen Philosophie und wandte diese auch an. Beim Aufstand Homeynis 1962 kam er kurzzeitig in Haft, stand aber bis zur Revolution 1978/79 in ständigem Kontakt zu Homeyni, den er ideologisch und finanziell unterstützte. Während der Revolution gehörte er dem geheimen Führungsrat an, der nach dem Sieg weiterhin die Führung der islamischen Republik innehatte. Kurz nach dem Sieg der Revolution wurde er von der religiösen Gruppe „Forqan“ ermordet. Als Schüler Tabataba`is stand er ganz auf dessen Linie, transportierte diese Ideen aber in die intellektuelle Öffentlichkeit. Er vermittelte eine theologische Weltsicht der Scharia, die sich nicht direkt einer traditionellen theologischen Schule zuordnen lässt. Als Reformer verfolgte er das Ziel, die islamische Lehre von jeglichen eklektizistischen Ansätzen zu säubern. Nach dem Motto „Zurück zu den Wurzeln“ versuchte er, den Glauben zu seinem Ursprung zurückzuführen. Dies geht mit einer „Entwestlichung“ einher.

Für ihn ist der Islam die Religion der Praxis und nicht der illusionären Bestrebungen und demnach vertritt er einen revolutionären Islam. Dieser ist eine politische neuplatonische Einheit-Vielheits-Lehre, aus welcher heraus die soziale Einheit postuliert wird. Die absolut klassenlose Gesellschaft erscheint ihm utopisch, da er Unterschiede zwischen den Menschen und ihren Fähigkeiten erkennt. Seine Gesellschaftsutopie ist eine, in welcher es keine Diskriminierung gibt. Herrschaft darf nicht durch Gewalt erlangt werden, aber auch nicht durch Wahlen. Der Herrschaft wird der göttliche Maßstab vorangestellt, und sie ist kein republikanische, sondern eine vormundschaftliche. Keine Herrschaft des Volkes über das Volk wie in westlichen Demokratien, sondern eine Herrschaft des Volkes für das Volk. Er betrachtet dabei den islamischen Staat nicht als einen von Geistlichen regierten Staat.

|6. Seyyed Ruholla Homeyni (1902 – 1989)|

Er strebte schon früh den Rang eines Großayatollahs an. 1962 wurde er wegen seiner öffentlichen Kritik an Mohammed Reza Schah und dessen Reformmaßnahmen verhaftet und nur durch Vermittlung Kazem Sari`at Madaris vor der Hinrichtung gerettet. Darauf ging er in die heilige schiitische Stadt Nagaf im Südirak ins Exil und setzte von dort aus seine Aktivitäten gegen das Schahregime fort und formulierte erneut seine politische Lehre von einer islamischen Regierung in der Zeit der Verborgenheit des Imams. Unter seinen Schülern gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Herrschaft der religiösen Rechtsgelehrten, größtenteils auch viel differenzierter betrachtet als durch ihn. Aber zu seiner Zeit hat niemand anderes diese Ideen mit solchem Nachdruck vertreten. Islam ist für ihn politisch, und allen Geistlichen, die das anders sahen, erklärte er: „Ihr könnt rituelle Gebete verrichten, so viel ihr wollt. Sie wollen euer Erdöl. Was kümmern sie eure rituellen Gebete? Sie wollen unsere Bodenschätze. Sie wollen, dass unser Land zu einem Absatzmarkt ihrer Ware wird. Deswegen verhindern ihre Handlanger die Industrialisierung unseres Landes“.

Der Monarchie, die im Iran von den religiösen Gelehrten über Jahrhunderte zum Teil geduldet, zum Teil als notwendig erklärt wurde, spricht er jede Legitimität ab. Dafür propagiert er den islamischen Staat, denn selbst wenn der Imam erst in hunderttausend Jahren erscheine, dürfe nicht das Chaos regieren. Er stellt die religiösen Gelehrten sowohl bezüglich ihrer politischen Verantwortung als auch bezüglich der Quelle ihrer Macht mit den heiligen Imamen gleich. Historisch hat aber keiner dieser Imame, außer dem dritten (dem unsterblichen Märtyrer, der bei Kerbala getötet wurde), ernsthaft ein solches „Führungsamt“ angestrebt. Alle Imame begnügten sich mit geistlicher Macht. In Homeynis Weltanschauung stehen dagegen gesellschaftliche, politische, ökonomische und kulturelle Fragen im Vordergrund, die gottesdienstlichen Handlungen sind nur als gering zu veranschlagen. Mit Homeyni hat die Anfangsphase der göttlichen Herrschaft und die Erscheinung eines Mahdi, des letzten Imams, begonnen.

Seiner Meinung nach bestand der schiitische Islam nur noch aus mythischen Ritualen und einem fanatischen Märtyrer-Kult. Dies versuchte er mit der Revolution 1978/79 und Gründung der islamischen Republik zu ändern, aber diese vollzog sich anders als die theokratische Herrschaft im „Goldenen Zeitalter“ des Frühislams. Das Volk ist an der Herrschaft beteiligt und die Struktur der islamistischen Republik trägt eklektische Züge: Traditionelle und dynamische religiöse Vernunft, schiitische, sunnitische und politische Einflüsse der Moderne sind enthalten. Zwar bekennt sich die Verfassung zur absoluten Souveränität Gottes, aber Begriffe wie Freiheit, Gleichheit, öffentliche Meinung, Volkswillen, Wahlprinzip, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, nationale Sicherheit, relative Religionsfreiheit, moderne Wissenschaft und Industrie sind ebenso enthalten. Es ist keine rein islamische Herrschaftsstruktur, sondern jeder ist vor dem Gesetz gleichgestellt und Gott und Volk sind gleichermaßen wichtig. Entschieden wird im Parlament, diese Entscheidungen aber vom Wächterrat der geistlichen Führer auf Übereinstimmung zur Scharia überprüft. Genauso kann die oberste religiöse Instanz durch den vom Volk gewählten „Expertenrat“ vorgeschlagen wie auch abgesetzt werden.

|7. Seyh Ali Tehrani (geb. 1925)|

Ein Anhänger Homeynis, der sich gleich nach der Revolution 1978/79 weigerte, sich der religiösen Elite zu unterwerfen. Schon vor der Revolution arbeitete er mit den gemäßigten und linksprogressiven religiösen Denkern und national-liberalen Politikern zusammen. Zwar war er einer der Lieblingsschüler Homeynis und Revolutionsrichter, aber 1981 flüchtete er in den Irak und kündigte seine Loyalität zur islamischen Republik. Zu der Zeit stand er den Volksmudschahedin nah und befürwortete deren bewaffneten Kampf gegen das System. Heute lebt er allerdings wieder in Teheran. Seine Kritik richtet sich allein ans Vetorecht der Geistlichen. Wie auch die Mehrheit der modernen religiösen Denker sieht er die Herrschaft in der Zeit der Verborgenheit des unteilbaren Imams als eine Volksherrschaft. Im Grunde sind seine Vorstellungen die der Demokratie, stark beeinflusst von Platon und Aristoteles, mit modernem sozialistischem Gedankengut. Der Unterschied zur westlichen Demokratie ist der, dass es keinen Despotismus der Mehrheits/Minderheitenverhältnisse gibt – da das islamische Gesetz dem übergeordnet steht – und Materialismus natürlich verurteilt bleibt. Er sieht im Islam einen „islamischen universalen Sozialismus“.

Mittlerweile ist der Iran wider sehr ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. Manche haben Angst vor einem iranischen Atombombenprogramm, vor allem ist aber zu befürchten, dass die USA nun auch noch nach Afghanistan und Irak in den Iran einfallen werden. Auch wurden die letzten iranischen Wahlen kritisch beobachtet wegen des Ausschlusses oppositioneller Politiker. Was den antiwestlichen und antikolonialistischen Aspekt betrifft, besteht allerdings kein Unterschied zwischen iranischen linken und gemäßigten Politikern gegenüber der radikalen religiösen Elite. Dennoch lohnt es sich auch, abschließend noch die Vertreter des neues geistigen Potenzials vorzustellen, die einen neuen politischen und religiösen Diskurs begonnen haben. Wie bisher festgestellt wurde, vollzieht sich diese Entwicklung aber bereits über hundert Jahre hinweg.

|8. Aqa Mahdi Ha´eri Yazdi (1923 – 1999)|

Er studierte westliche Philosophie an den amerikanischen und kanadischen Universitäten Georgetown, Harvard, Michigan und Toronto und schloss mit dem Doktorgrad ab. Nach der Revolution 1979 kehrte er in den Iran zurück. Er legt eine systematische Staatslehre aus islam-philosophischer Sicht dar, was in der herkömmlichen Tradition der islamischen Philosophie selten ist. Die politischen Ideen richten sich nicht mehr nach dem antiken Staatsdenken, sondern stützen sich vor allem auf die moderne westliche politische Philosophie. Damit führt er neue Ansätze und Modelle in die islamische Philosophie ein, aber prinzipiell setzt er an die Blütezeit der islamischen Zivilisation um das 9. – 11. Jahrhundert an, die später im 17. Jahrhundert ebenfalls schon im Iran als „Lichtphilosophie“ („Schule des Illuminismus“) weit gepflegt worden war.

Ähnlich wie Kant stehen bei Ha`eri die Philosophie als höchste Wissenschaft, die Existenz des universalen Archetypus als wahre Natur der Dinge und die Einheit der Existenz im Mittelpunkt. Nicht ganz eindeutig ist bei ihm, ob man von einer islamischen Philosophie überhaupt noch sprechen kann, denn dem Islam als Religion kann dieses Philosophieverständnis nicht entnommen werden. Alle Philosophien sind im Grunde von indischem, chinesischem, altiranischem, platonischem, neuplatonischem und aristotelischem Gedankengut durchdrungen. Ha`eris Werk ist aber das einzige in der Philosophiegeschichte des Islams, das sich nicht explizit der Metaphysik zuwendet, sondern sich umfassend der politischen Philosophie widmet. Er zeigt die unversöhnliche Beziehung zwischen Philosophie und Theologie und macht deutlich, warum die Theologie mit all ihren religiösen Wissenschaftszweigen für die Herrschaftslehre nicht zuständig ist.

Da Politik respektive Herrschaft zu den erfahrbaren und erfassbaren Dingen gehören, dürfen sie nicht von der Theologie behandelt werden. Er spricht sich gegen jegliche Form der Diktatur, d. h. gegen Despotismus, Totalitarismus und Autoritarimus aus. Denn die ideale politische Lebensführung und das menschliche Zusammenleben sind nur möglich, wenn man sich der Vernunft verpflichtet. Dabei bezieht er sich auf Vers 38 der Sure 42 des Koran und den Begriff „Sura“ (Beratung), der auf das Recht der Bürger hinweist, über eigene Angelegenheiten selbstständig zu beraten und Lösungsvorschlägen zu unterbreiten: „D. h. die menschliche Angelegenheiten sollen durch gegenseitige Beratung und Abstimmung gelöst und geregelt werden, nicht jedoch durch Offenbarung und die göttliche Gesandtschaft“.

Nach Ha`eris Philosophie negieren sich im Iran das Prinzip der Herrschaftsgewalt der Rechtsgelehrten und das Wahlprinzip einander gegenseitig. Er meint, dass man sowohl das Volk im Iran als auch die internationale Öffentlichkeit in die Irre geführt habe. Die religiöse Herrschaftsgewalt werde im Sinne eines juristischen Aufsichtsorgans lediglich als „Wächteramt“ verstanden. Die tatsächliche Bedeutung dieses Konzepts sei nicht nur eine Okkupation des entmündigten Volkes, sie sei auch eine Okkupation der göttlichen Souveränität. Ha´eri trennt politische und religiöse Fragen. Aus dieser Trennung folgt, wie in modernen westlichen Demokratien üblich, dass keine politische und staatliche Entscheidung rechtskräftig werden darf, wenn das Volk nicht selbst beteiligt ist. Ha`eri glaubt jedoch, dass dieses säkulare Verhältnis in der islamischen Welt nicht notwendigerweise mit einer Angleichung an die säkulare westliche Welt gleichgesetzt werden kann. Er kritisiert diejenigen islamischen Denker, die beim Versuch, den Islam zu stützen, den Islam entweder mit der Demokratie in Einklang bringen wollen oder ihn in Gegensatz zu anderen politischen Systemen stellen. Denn dies führe entweder dazu, den Ideen anderer bedingungslos zuzustimmen oder sie von vornherein als subjektiv und irrational abzulehnen. Ha`eri zieht es deswegen vor, von zwei Formen des kulturellen und gesellschaftlichen Gefüges zu sprechen, anstatt islamische und demokratische Herrschaftsformen zu vergleichen.

Der Islam ist für ihn weder ein politischer Entwurf, noch hat er der Islam die Absicht, eine politische Herrschaft zu stiften, die dem Menschen die Mündigkeit entziehe. Ha`eri betont die „die Gottesebenbildlichkeit des Menschen“ im Koran, den Menschen als „Abbild und Gleichnis“ Gottes, eine Sicht, die auch in der christlichen Theologie besteht. Im Koran spricht Gott den Menschen als ein autonomes Individuum an. Deswegen kritisiert Ha`eri die moderne Gesellschaft, in der die Demokratie einerseits auf die Souveränität, Freiheit und Individualität seiner Bürger stolz ist, und andererseits seine Bürger als willenlose Mitglieder seiner Gesetze und seiner vereinbarten Anordnungen ansieht. Seine Staatstheorie ist ein Mittelweg zwischen Sozialismus und Kapitalismus auf der Basis, dass nur der freie Wille und die persönliche Freiheit zählen. In der islamischen Welt gibt es nicht nur den staatlichen Pluralismus, sondern auch eine individuelle Pflicht dazu. Der Mensch als Individuum ist im Islam gegenüber seinen Mitmenschen, seien es Ungläubige oder Glaubensbrüder, zu jeder Zeit und an jedem Ort in sozialen, ethischen, ökonomischen und menschlichen Beziehungen überhaupt in die Pflicht genommen.

|9. Mohammad Mogtahed Sabestari|

Er wurde in Täbris in der Hauptstadt der Provinz Aserbaidschan geboren. Nach einem theologischen Studium in der heiligen Stadt Qom, wo er sich auf Philosophie und spekulative Theologie spezialisierte, mit Doktorgrad abgeschlossen, leitete er vor der islamischen Revolution das schiitische islamische Zentrum in Hamburg. Dabei lernte er die deutsche Sprache und beschäftigte sich mit der christlichen Theologie. Heute unterrichtet er an der Universität in Teheran. Er sieht als wichtigsten gesellschaftlichen Faktor in der Weltpolitik nicht die Machtlosigkeit des Islams, sondern in den gegenwärtigen Kriegen und Feindseligkeiten sieht er als Ursache die „Ungleichheit“, die hauptsächlich auf materielle Verhältnisse zurückzuführen ist und nicht auf kulturelle Unterschiede. Das Problem der gegenwärtigen Menschheit sind Sklaverei, Feudalismus, religiöse Kriege, Nationalismus sowie der moderne Kapitalismus und Kolonialismus. Die Menschheit ist in eine schwache Mehrheit und eine starke Minderheit aufgeteilt.

Heute mobilisieren sich massiv die Kräfte der Menschen gegen diejenigen Minderheitsvertreter, die die Wächter von Diskriminierung und Kolonialisierung sind. Es wird der Ruf nach einer weltweiten Einheit der Menschen und nach Gleichheit unter den Menschen aus allen Ecken der Welt laut. Sabestari setzt dabei auf internationale Organisationen wie die UNO. Die westliche Welt hat bei der Verwirklichung von Einheit und Gleichheit versagt, da ihre Organisationen unfähig und krank sind. Was heute als Frieden bezeichnet wird, ist eine instabile und unsichere Gleichgewichtsstrategie, die auf der Basis des Schreckens beruht. Rüstungswettlauf, Ausbeutung der Entwicklungsländer, Vetorecht für die starken Länder, verschiedene Militär- und Verteidigungsbündnisse wie das nordatlantische, sowjetische und asiatische Bündnis, die zunehmende Armut, ungleiche Arbeits- und Einkommensverhältnisse, Rassendiskriminierung usw. sind Beweise für die Unfähigkeit der westlichen Mission.

Nächstenliebe ist für Sabestari die grundsätzliche Bedingung für das friedliche Zusammenleben zwischen den Nationen. Aber keine der Nationen ist mehr bereit, auf den geringsten ihrer Vorteile zu verzichten, auch in Angelegenheiten, die für andere als lebenswichtiges Thema zur Debatte stehen. Jegliche fundamentale Veränderung muss im Denken, in den Überzeugungen, den Ethiken und den Gesellschaftsnormen, eben allem, was die geistige Kultur einer Gesellschaft ausmacht, beginnen. Aus diesem Grund benötigt der Wandel der Welt hin zu einer Weltregierung fundamentale Veränderungen in den Kulturen aller Nationen der Welt.

Sabestari stellt einen Entwurf einer „Weltgesellschaft und Weltreligion“ aus islamischer Sicht vor. Dies nennt er das „islamische internationale Völkerrecht“. Die Art und Weise, wie er seine islamische Weltgemeinschaft konstruiert, hat einen besonderen Charakter, den man bei den meisten seiner Zeitgenossen nicht findet. Er verzichtet darauf, auf die Verträglichkeit bzw. Unverträglichkeit der islamischen Gebote mit einem zeitgemäßen Rechtsdenken bzw. einer zeitgemäßen Rechtspraxis einzugehen. Stattdessen konzentriert er sich auf die Fundamente des „islamischen Internationalismus“ nach dem Muster der französischen Menschenrechtserklärung und des sozialistischen Internationalismus. Aus seiner Charta: „1. Beseitigung jeder Form geistiger Unterdrückung, Kampf gegen die Ursachen der geistigen Versklavung der Menschen, Schaffung einer freien geistigen Atmosphäre für die Masse. 2. Befreiung der unterdrückten Gruppen und Individuen von erbärmlichen Ketten und Abhängigkeiten, welche sie immer unter der unterdrückenden und ausbeuterischen Herrschaft bestimmter Klassen oder Personen halten, Schaffung von Freiheit, damit diese Gruppen den richtigen Weg des Lebens aus freiem Willen heraus wählen können“.

Nach seiner Auffassung kann das ohne Gewalt und nur mit Hilfe der revolutionären Zielsetzung in der Welt durchgesetzt werden. Rassismus, der Missbrauch der religiösen Gefühle und der übertriebene Nationalismus sind die drei geistigen Missbildungen, die von der politischen und wirtschaftlichen Expansion des westlichen Imperialismus und Neokolonialismus geerbt wurden. Der Islam könne mit einem „revolutionären Humanismus“ dieses schwere westliche Erbe beseitigen. Das islamische Weltgemeinschaftskonzept orientiert sich nicht an der Machtfülle, sondern an der Veränderung. Das Konzept verfolgt vier Ziele: freie Glaubens- und Gewissensüberzeugung, freundliche und humane zwischenmenschliche Beziehungen, rationaler und logischer Umgang im Diskurs und Kampf gegen den Fanatismus.

Eine religiöse Gesellschaft kann nur dann einsichtig und rechtgeleitet sein, wenn sie vor den Gefahren der Erstarrung und des Aberglaubens bewahrt bleibt, so dass die religiöse Empirie in jener Gesellschaft überdies auf gnostischer und empirischer Grundlage in eine Denkform mündet, die analysierbar und kritisierbar ist. Sabestari kündigt die Geburt eines neuen Geistes der islamischen Theologie an. Politik soll „technisch“ und „eine Kunst“ sein, nämlich die Staatskunst. Ihr Ziel ist das Gemeinwohl. Dies bedeutet für ihn aber auch die Entmonopolisierung der religiösen Rechtswissenschaft in ihrer traditionellen Form. Er steht mit seinem Denken auch sehr dem „Ich-Du“-Verhältnis in der chassidischen Lehre Martin Bubers nahe. Ohne Freiheit kann es keinen Glauben geben. Das heißt, dass die Menschen durch die destruktiven Wahrheitsansprüche, die das Wissensmonopol erhoben hat, der tatsächlichen Wahrheit entfremdet wurden. Sabestari versucht, „Transzendenz“ und „Immanenz“ miteinander zu verbinden, um den Absolutheitsanspruch der religiösen Wahrheiten nicht verloren gehen zu lassen. Die Religion soll ihren Wahrheitskern bewahren, indem sie immer als Substanz der evolutionären Erkenntnis erhalten bleibt.

|10. Abdolkarim Sorus|

Er versucht eine neue Begegnung mit den religiösen Weltanschauungen hervorzurufen, widmet sich dabei den Ideen der vorrevolutionären religiösen Reformer wie Tabataba`i und Motahhari und versucht, einen „Entideologisierungsprozess“ voranzutreiben. Wenn die Religion zu einer Ideologie werden will, so hat sie sich zum Provisorium verurteilt und auf ihre Ewigkeit verzichtet. Er erinnert dabei an den Marxismus und seine Ideologiekrise. Dabei setzt er sich mit vielen modernen westlichen Gesellschaftstheoretikern wie Karl Marx, Emil Durkheim, Max Weber, Peter Winch, Karl Popper und Jürgen Habermas auseinander. Er kommt zu dem Schluss, dass die Ideologie ein Gedankengebilde ist, das entweder nicht begründet werden kann oder falsch ist, vor allem unter dem empirischen Aspekt des kritischen Rationalismus. Im Gegensatz zu Ideologien haben Religionen gar keinen Absolutheitsanspruch. Diese Behauptung stellt das genaue Gegenteil einer weit verbreiteten Auffassung von Religion dar. Sorus versucht damit, den Unterschied zwischen dem Absolutheitsanspruch der Religionen und dem der Ideologien zu kennzeichnen.

Sein Entideologisierungsprozess ist in Wirklichkeit eine Entideologisierung der religiösen Lehren, nicht jedoch der Religion selbst. Der Kern der Religion, der nach seinem Konzept in verschiedenen Bezeichnungen wie Religion, Scharia, Wahrheit und Offenbarung vorkommt, kann tatsächlich nicht interpretiert werden. Die Religion ist demzufolge schweigsam und stumm. Sie ist unabänderlich bzw. konstant. Die Unveränderbarkeit ihrer Fundamente setzt er mit Naturgesetzen gleich. Aufklärung kann positiv und negativ interpretiert werden. Nach der positiven Definition stellt sich die Aufklärung als eine an der „Diesseitsgestaltung orientierte Humanität“ dar, die unter anderem religiöse Toleranz fordert. Dies ist der Kern des intellektuell-religiösen Ziels von Sorus bei seinen Bemühungen, Religion und Demokratie zu verbinden. Er möchte in seiner neuen Staatsform beides vertreten sehen.

Toleriert wird in erster Linie nicht die Religion, sondern die Demokratie. Denn diese Staatsform bringt keine Enttheologisierung der Naturrechte mit sich. Diese Form der religiösen Demokratie steht für eine neue Theologisierung, welche die alte theologische Elite durch eine neue zu ersetzen versucht. Die wahre Demokratie braucht hohe ethische Maßstäbe. Die Ursachen für eine negative Entwicklung der Gesellschaft liegen in der „Unwissenheit“ der Menschen. Die Gesellschaft benötigt aber für ihre menschenwürdige Gestaltung Werte. Seine These ist letztendlich einfach: Die Gesellschaft Irans ist religiös. Jede Herrschaftsform ist Teil der jeweiligen Gesellschaft und stimmt daher mit ihr überein. Eine Herrschaft im Iran ist also zwangsläufig eine religiöse Herrschaft. Sollte im Iran die Herrschaft anderer Natur als religiös sein, so muss daraus der Schluss gezogen werden, dass die iranische Gesellschaft entweder eine areligiöse Gesellschaft oder die Herrschaft illegitim, d. h. undemokratisch ist.

Diese zehn Beispiele aus hundert Jahren schiitischer Theologie im Iran, welche natürlich nur sehr rudimentär dargestellt werden konnten, zeigen, dass sich im dortigen Islam eine „Glaubenswissenschaft“ zu entwickeln begann, die die Aufgabe hat, Freiheit und Glaube miteinander zu versöhnen. Trotz der homogenen religiösen Strukturen in Theorie und Praxis sind in der Gegenwart Veränderungen bezüglich der Religion zu beobachten, die unter der geistigen und politischen Übermacht der Moderne in Erscheinung treten. Die Moderne zwingt die Religion, zu neuen Fragen Stellung zu nehmen und ihre Fähigkeit unter Beweis zu stellen, Verantwortung zu übernehmen, Probleme zu lösen. Die religiösen Bestrebungen im heutigen Iran werfen neue politischen Fragen auf. Zwar ist die „religiöse demokratische Regierung“ keine echte Innovation und hat auch noch kein politisches System. Mit ihrer Theorie bahnt sie sich aber den Weg zurück zur Tradition und macht gleichzeitig den Weg frei für eine Annäherung an die moderne Demokratie. Die Idee der religiösen Herrschaftsgewalt, die einen Bevormundungsstaat bevorzugt, wurde zunehmend als unzeitgemäß erkannt. Der Legitimationsanspruch der Theologenherrschaft wird nicht nur bezweifelt, sondern als unvereinbar mit dem Islam gewertet. Derzeit dominiert im Iran aber noch die Tradition. Die Zukunft kann aber nur einen Weg zeigen, den in die offene Gesellschaft. Es sei denn, die US-Amerikaner vereiteln mit einem Krieg gegen den Iran erneut alle unabhängigen Entwicklungen in ihrem eigenen Herrschaftsinteresse.

Berthold Röth

|Quelle:
Reza Hajatpour, Iranische Geistlichkeit zwischen Utopie und Realismus.
Zum Diskurs über Herrschafts- und Staatsdenken im 20. Jahrhundert,
387 S., geb., Reichert Verlag 2002, ISBN 3-89500-264-X |

|Weiterführende Informationen bei wikipedia:|
[Iran]http://de.wikipedia.org/wiki/Iran
[Islam]http://de.wikipedia.org/wiki/Islam
[Schari’a]http://de.wikipedia.org/wiki/Scharia
[Ruhollah Chomeini]http://de.wikipedia.org/wiki/Ruhollah__Chomeini