In der Nähe von Grenoble wird in einer Felswand eine Leiche gefunden. Der Mann wurde stundenlang gefoltert, seine Augen fehlen. Wenige Stunden später findet der Pariser Hauptkommissar Pierre Niemans im Gletscher über dem Dorf Guernon eine zweite, ähnliche zugerichtete Leiche. Hat er es mit einem Serienmörder zu tun? Doch so einfach ist der Fall nicht.
Der Autor
Jean-Christophe Grangé stammt aus einer Reporterfamilie und hat schon früh mit dem Recherchieren von Fakten angefangen. 1996 beschäftigte er sich mit dem Thema Genetik. Aus dem Gedankenspiel eines abgeschlossenen Experimentierfeldes entstand der vorliegende Roman, der zu einem nationalen Bestseller wurde und den Franzosen ihr eigenes Thrillergenre bescherte.
An diesen Erfolg schloss der beredte und gebildete Grangé mit „Der Flug der Störche“, „Der steinerne Kreis“ und zuletzt mit „Das Imperium der Wölfe“ an. Wider Erwarten stammt „Der Pakt der Wölfe“ nicht von ihm, sondern von Pierre Pelot.
Handlung – im Vergleich zum Film
Der PROLOG des Buches fehlt im Film. Regisseur und Hauptdarsteller hatten sich wegen der Brutalität dieser Szene dagegen ausgesprochen. Außerdem hätte sie dem Zuschauer einen falschen Eindruck vom Rest der Handlung vermittelt.
In einem Pariser Fußballstadion findet ein Pokalendspiel zwischen zwei ausländischen Mannschaften statt. Danach randalieren die Hooligans von der britischen Insel in den Straßen. Die Polizei ist gerüstet. Eigentlich soll Kommissar Pierre Niemans, ein Bulle von einem Kerl und verhinderter Soldat, nur für den Überblick sorgen, doch schon bald stürzt er sich ins Getümmel, wo er durch wütende Brutalität Furcht und Schrecken verbreitet.
Bei der Verfolgung zweier Bewaffneter tötet er einen von ihnen beinahe. Fortan liegt der Mann im Koma und Niemans wird vom Dienst auf der Straße abgezogen. Sein Chef, der ihn während der Untersuchung aus der Schusslinie haben will, schickt ihn in die Provinz: nach Guernon in der Nähe von Grenoble. Niemans stöhnt, kann aber nichts gegen die „Degradierung“ unternehmen.
Anders als im Buch übernimmt Niemans vor Ort die Ermittlungen und gibt jene Anweisungen, die im Film Dahmane, der Chef der Gendarmerie, erteilt. Im Gegensatz zum Film ist also Niemans ständig im Mittelpunkt des Geschehens und auf dem Laufenden. Hier ist er kein Außenseiter und Besserwisser, auch kein Professor, sondern nur ein stinknormaler Kommissar mit einem verhängnisvollen Innenleben: Wird er in die Enge getrieben, reagiert er mit unkontrollierter Gewalt. Und er hat wirklich Angst vor Hunden. Das ist der Grund, warum er beim Wehrdienst untauglich geschrieben wurde. Da war er 17. Seitdem hat er es weit gebracht: Die Gendarmerie kennt ihn als Star, als Verfolger von Mördern und Dealern.
Die erste Leiche ist Rémy Caillois, 25, Chefbibliothekar an der Elite-Universität von Guernon, einer der ältesten Unis in Europa. Der Wanderer wird hoch oben in einer Schlucht entdeckt, aber nur weil sich seine Leiche im Wasser des Flusses spiegelte. Die Entdeckerin ist Fanny Ferreira, 25, eine Professorin für Geologie und Glaziologie, die auf dem Fluss Kajak fahren wollte. Als Ersten vernimmt Niemans den Uni-Rektor Vincent Louize, der praktisch über das ganze Tal herrscht. Wichtiges Detail: Manche der Lehrer sind auch an der Klinik der Uni tätig. Das traf bis 1982 auch für den Augenarzt Edmond Chernezé zu, der später eine wichtige Rolle spielt. Im Film liefert er bereits ganz zu Anfang entscheidende Hinweise. Im Buch taucht er jedoch erst spät auf.
Der wichtigste Helfer Niemans‘ ist jedoch eine Figur, die im Film überhaupt nicht vorkommt: Der junge Gendarm Eric Joisneau bewundert Niemans und gibt ihm den wichtigen Hinweis, dass an der Uni etwas nicht stimmt: Es gebe hier in Gestalt der Professorenkinder eine regelrechte Elite von Menschen. Auch Fanny Ferreira, die Niemans vernimmt, gehört zur Elite. Sofort empfindet er Sympathie für die robuste und hochintelligente Schöne und baggert sie ganz unverhohlen an. Der Gegensatz zwischen der Härte ihrer Worte, der Robustheit ihrer Bewegungen und der Sanftheit ihrer ausgeprägten Kurven zieht ihn an. Verschüttete Gefühle brechen sich Bahn …
Die Witwe des Ermordeten, Sophie Caillois, ist ebenfalls intelligent, aber auf streitlustige, abwehrende Weise – kein Wunder: Sie hält sich für das nächste Opfer. Sie verrät, dass ihr Rémy an einer Doktorarbeit über das altgriechische Ideal des Athlon, des geistig gebildeten Olympiakämpfers, schrieb und darin Ansichten seines Vaters Etienne übernahm, der ja ebenfalls Chefbibliothekar gewesen war. Sophie wirft Niemans beinahe hinaus, was diesen wütend macht. Er erfährt, dass Caillois schizophren und gewalttätig war.
Zur gleichen Zeit, 200 Kilometer entfernt: Der Marokkaner Karim Abdouf, 29, ausgebildeter Scharfschütze und nun zum Provinzbullen degradiert, wird wegen einer Grabschändung und einem Einbruch in die Dorfschule von Sarzac, Departement Lot, gerufen. Es ist das Grab eines Jungen (!) namens Jude Itéro, 1972 bis 1982. Im Grab wie auch in der Schule fehlen die Bilder des Jungen. Sein Chef Crozier setzt ihn auf die falsche Fährte von Skinheads als Tätern. Nach einer Schlägerei, die es auch im Film zu sehen gibt, erhält er den Hinweis auf einen weißen Lada, der in der fraglichen Nacht am Friedhof gesehen wurde.
Im Gegensatz zum Film ist die katholische Nonne, die er besucht, nicht die Mutter Judes, sondern Schwester André, die für Fabienne Pasquot, die Mutter, versucht die Fotos zu stehlen und alle zu vernichten. Wie im Film erzählt sie von den „Teufeln“, die Mutter und Kind verfolgt hätten, weil das Gesicht des Jungen sie verrate. Sie liefert den Hinweis auf einen Rummelplatz, zu dem der Junge immer gegangen sei, als er zwei Jahre in Sarzac lebte. Dort fällt Karim praktisch aus allen Wolken: Ein Feuerschlucker erinnert sich gut an „Jude“, denn er brachte „ihr“ das Feuerschlucken bei. Wieso „ihr“? Na, Jude war ein Mädchen! Es dauert noch weitere Stunden, bis Karim auf den Trichter kommt: Jude Itéro klingt im Französischen genau gleich wie Judith Hérault!
Unterdessen verhilft das Regenwasser in René Callois‘ Augenhöhlen Niemans zu einem Hinweis: Der saure Regen muss schon vor Jahren gefallen sein. Beim Anblick der Bergriesen ringsum kommt ihm die Erleuchtung: Das Wasser stammt aus einem Gletscher! Er schnappt sich die Eisforscherin und Bergsteigerin Fanny und steigt mit ihr ins Innere der Gletscherwelt hinab. Sobald die Sonne aufgeht, beginnt das Eis zu schmelzen und das Schmelzwasser als Bach und Wasserfall zu Tal zu rauschen. (Diese Szene ist äußerst spannend inszeniert und weiß auch im Film zu faszinieren.) Trotz der zunehmenden Gefahr entdeckt Niemans eine zweite Leiche, allerdings sieht er zunächst ihr Abbild im Eis – ähnlich wie bei Callois. Diesmal handelt es sich um den Klinikpfleger Philippe Sertys, 26. Welche Verbindung gibt es zwischen den Morden?
Sertys gehörte der weiße Lada, der in Sarzac gesehen wurde. Diese Spur führt nun Karim Abdouf nach Guernon, gegen den Widerstand seines Chefs. Es sieht so aus, als müssten sich die beiden degradierten Außenseiter Niemans und Abdouf zusammentun, um das Rätsel dieser Morde zu lösen. Und dadurch und mit Joinnots Hilfe stoßen sie auf ein weit größeres Geheimnis, das das Ende der Universität bedeuten könnte.
Mein Eindruck
Die Handlung des Romans ist wesentlich vielschichtiger und verzweigter als die des Films. Im Film sind nicht nur Figuren weggefallen, sondern ganze Ermittlungsketten. Die Mutter von Judith Hérault erscheint im Buch als eine wirklich kluge und raffinierte Beschützerin, der mehrere falsche Fährten auslegte, die (zunächst) auch einen abgebrühten Kriminaler wie Karim in die Irre führen. Wer hätte gedacht, dass Judith als Junge beerdigt wurde! Und wer käme darauf, dass ihr Sarg statt einer Leiche zahllose Rattenskelette enthält?
Endlich wird hier die so genannte Hintergrund-Story der Verbrechen in Guernon deutlich und verstehbar. Sie wird im Film nur bruchstückhaft sichtbar. An einer Stelle, als Niemans und Kerkerian im Auto fahren, gibt Niemans Erkenntnisse wieder, die zuvor nicht an ihn weitergereicht worden waren – deshalb erscheinen sie völlig aus der Luft gegriffen. Der Leser des Romans, der Hörer des Audiobooks aber weiß Bescheid.
[SPOILER]
Ist der Schluss wirklich „enttäuschend“?
Was aber die Kritiker dem Buch immer vorgeworfen haben, ist der enttäuschende Schluss. Sowohl der inzwischen verdoppelte Täter als auch die Hauptfigur, die uns von Anfang an begleitet hat – nicht Abdouf – müssen dran glauben. Aber warum? Wollte es sich der Autor leicht machen und einfach alle Hauptfiguren abservieren und nur einen Zeitzeugen übriglassen? Das wäre eine (zu?) billige Art und Weise, um sich aus der Affäre zu ziehen.
Vielmehr ist es ja so, dass sowohl Abdouf als auch Niemans zu den beiden Schwestern unabhängig voneinander eine Liebesbeziehung aufbauen. Für Abdouf wird Judith für 24 Stunden zu einer Art Märtyrerin wird, die er gut zu kennen glaubt: von ihrer geheimnisvollen Geburt über „den kleinen Jungen“ bis hin zum traumatisierten, aggressiv gewordenen Mädchen. Was Niemans im Film sagt: „Nicht sie!“, müsste eigentlich Abdouf sagen. Aber das passiert ja auch mit anderen Figuren so.
Niemans hingegen ist ein ausgebranntes Wrack, am Ende der Fahnenstange angelangt, ein „Opfer seiner Phantome“. Und so trägt er selbst die Schuld am grausamen Tod des jungen Polizisten Joinot, der ihn bewunderte und ihm den Weg zum finsteren Geheimnis der Elite-Uni Guernon zeigte. Niemans war Joinot und seinem wichtigen Hinweis auf den Augenarzt Chernezé nicht nachgegangen, ließ ihn im Stich: Chernezé, ein Teil der Verschwörer aus der Hintergrundgeschichte, tötete Joinot ohne Skrupel und löste seine Leiche im Säurebad auf – zu starker Tobak selbst für diesen Thriller (im Gegensatz zu „Das Schweigen der Lämmer“).
Als sich also Niemans in die attraktive Fanny Ferreira verliebt (siehe oben), trifft ihn das Liebesglück völlig unverhofft. Anders als im Film wird diese Liebe nicht durch Blicke angedeutet – Fanny dreht sich vor ihrer Haustür zu ihm um -, sondern zu einem erotischen Ereignis aufgebaut. Die Liebe wird vollzogen. Deshalb bedeutet es für den beglückten Niemans eine Art Weltuntergang, als er herausfindet, dass er nicht nur Joinots Tod auf dem Gewissen hat (wie kann er mit dieser Schuld leben?), sondern auch in Fanny eine der beiden Killerinnen liebt. Für das Trio, das in dieses Verhängnis verstrickt ist, scheint es keinen Ausweg mehr zu geben.
Man kann sich aber fragen, warum auch Fanny dran glauben muss. Sie erzählt Abdouf die ganze Geschichte, wie sie und Judith zusammenkamen und sich fortan eine einzige Existenz teilten. Wie ging das zu, fragen die Kritiker. Herrje, heutzutage fallen viele Menschen in die Anonymität und es kümmert niemanden. Doch Guernon und seine Uni waren eine eng zusammengewachsene Gemeinschaft, in der das Doppelleben Fannys auffallen musste. Das ist ist letzten Endes ein Problem, das der Autor nicht befriedigend löst. Worin aber besteht Fannys Schuld, die sie in den Augen des Autors zum Tode verurteilt? Es muss wohl ihre Mitwisserschaft, wenn nicht sogar Mittäterschaft sein.
Dieser ganze Komplex existiert im Film nur als winziger Abglanz. Der Regisseur hat dafür den Showdown auf den Gletscher verlegt, was an sich schon symbolisch ist: Die Wahrheit muss ans Licht des Tages. Sie macht Fanny und den sie liebenden Niemans frei, während Kerkerian sozusagen ihren Schutzengel spielt. Mir gefällt der Filmschluss wesentlich besser als die Ausweglosigkeit, in der die Leben von Niemans und den beiden Schwestern enden. Und wenn das Ende an den Haaren herbeigezogen erscheint, so sollte man sich mal nach dem Realismus der restlichen Geschichte fragen: Sie ist ja lediglich ein Gedankenexperiment des Autors über Genetik und Eugenik.
[SPOILER Ende]
Unterm Strich
Die „purpurnen Flüsse“, die die Verschwörer von Guernon „beherrschen“, sind nicht nur die Blutadern, sondern auch die genetischen Erblinien, die in Guernon manipulativ weitergeführt werden. Eigentlich wollten die Verschwörer ein Ideal erreichen: den „Athlon“ wiedererschaffen, den Athleten mit einem gebildeten Geist. Das ist ihnen ironischerweise auch gelungen: die modernen „Bill Gates“, wie Kommissar Dahmane im Film sagt.
Leider ist etwas schief gelaufen und nun ein Preis zu zahlen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Roman nicht sehr von moralischen Märchen über verrückte Wissenschaftler, die in B-Filmen der fünfziger Jahre in amerikanischen Matinee-Kinos zu sehen waren. Doch diesmal erfolgt die Rache auf eine so vertrackte Weise, noch dazu von Seiten der Frauen, dass sich das Buch über die Masse der B-Movies erhebt und sich dem Niveau von „Das Schweigen der Lämmer“ annähert. Der Film erreicht dieses Niveau nicht ganz, keine Frage, aber das Buch, das man nun auch hören kann, ist schon verdammt nah am Hannibal-Level dran. Dass die Hintergrundstory so verzwickt ist, daran trägt der Autor die Schuld. Am besten macht man sich ein paar Notizen, um den Überblick zu behalten.
Taschenbuch: 413 Seiten
Originaltitel: Les rivières pourpres, 1997.
ISBN-13: 978-3404259182
www.luebbe.de
Der Autor vergibt: