Greg Egan – Teranesia

Evolution 2.0: Der Mensch als Schmetterling

Die nahe Zukunft: Auf der von Rebellen heftig umkämpften Molukken-Insel Teranesia treten bei Tieren merkwürdige Mutationen auf, die nicht natürlichen Ursprungs sein können. Unter Lebensgefahr versuchen Wissenschaftler herauszufinden, was die Ursache ist. Als die Veränderungen schließlich auch auf Menschen übergreifen, gerät die Lage außer Kontrolle. Gibt es in letzter Sekunde eine Lösung – oder muss alles Leben weiträumig vernichtet werden, um die irdische Ökologie zu retten? (Verlagsinfo)

Der Autor

Greg Egan (* 20. August 1961 in Perth, Australien) ist ein australischer Fantasy- und Science-Fiction-Schriftsteller. Zu Beginn seiner Karriere schrieb er hauptsächlich Fantasy-Kurzgeschichten, wandte sich später jedoch mehr und mehr der Science-Fiction zu, wobei er einen Schwerpunkt auf Biologie, Kybernetik und Physik legte.[1] Er ist unter anderem Locus- und Kurd-Laßwitz-Preisträger.

Viele von Egans Romanen und Kurzgeschichten behandeln komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge einer nicht sehr weit entfernten Zukunft. Typische Themen sind virtuelle Welten, künstliche Intelligenz oder biotechnologische Veränderungen, insbesondere auch des Menschen. Egan zeigt hier ein für Schriftsteller überdurchschnittliches Fachwissen in vielen naturwissenschaftlichen Disziplinen. (Quelle: Wikipedia.de)

Romane

An Unusual Angle, 1983
Quarantine, 1992
Quarantäne, übersetzt von Jürgen Martin, Bastei Lübbe, 1993, ISBN 3-404-24174-6

Permutation City, 1994
Cyber-City, übersetzt von Axel Merz und Jürgen Martin, Bastei-Lübbe, 1995, ISBN 3-404-24200-9

Distress, 1995
Qual, übersetzt von Bernhard Kempen, Heyne, 1999, ISBN 3-453-15643-9

Diaspora, 1997
Diaspora, übersetzt von Bernhard Kempen, Heyne, 2000, ISBN 3-453-16181-5

Teranesia, 1999
Teranesia, übersetzt von Bernhard Kempen, Heyne, 2001, ISBN 3-453-17927-7

Schild’s Ladder, 2002
Incandescence, 2008
Zendegi, 2010
The Clockwork Rocket, 2011
The Eternal Flame, 2012
The Arrows of Time, 2013

Kurzgeschichtensammlungen

Axiomatic, 1995
Our Lady of Chernobyl, 1995
Luminous, 1998
Dark Integers and Other Stories, 2008
Crystal Nights and Other Stories, 2009
Oceanic, 2009

Handlung

Im Jahr 2012 lebt der neun Jahre alte Junge Prabir Suresh mit seinen indischen Eltern und seiner kleinen Schwester Madhusree auf einer winzigen Insel im indonesischen Archipel der Molukken. Die nächste Provinzhauptstadt ist Ambon. Seine Eltern sind Insektenforscher und studieren die riesigen, andersartigen Schmetterlinge des abgelegenen Eilands, das Prabir „Teranesia“ getauft hat. Für seine Schwester, die keineswegs jedem seiner Befehle gehorcht, erfindet er Wassermänner und andere Wesen wie etwa Feueradler, vor denen sie Angst bekommt, und dann läuft oder schwimmt sie in die gewünschte Richtung.

Der Wandel

Als Prabir neun wird, belauscht er seine Eltern: Sie wolle ihn auf eine gute Schule schicken, doch wohin? Jakarta, Kalkutta, Darwin oder lieber zur Kusine in Toronto? Entweder ist sie zu weit entfernt oder zu teuer. Aus Beklemmung hinsichtlich seiner Zukunft erklettert Prabir den Vulkan, wo die Feueradler leben, und erreicht fast dessen Spitzen. Am gleichen Abend erfährt ihm sein Vater, dass es in Ambon einen Staatsstreich des Innenministers gegeben habe, der sich zum „Interimsministerpräsidenten“ erklärt habe. Deshalb würden wohl in nächster Zeit keine Fähren mehr kommen, um Proviant, Medikamente und Geräte. Ob Prabir sich wohl um den neuen Gemüsegarten kümmern könne? Der Junge sagt gerne zu.

Der Angriff

Als Prabir eines Nachts eine der Schmetterlingspuppen vergiftet, hört er das Geräusch eines niedrig fliegenden Düsenflugzeugs. Erst am nächsten Morgen wird ihm klar, dass dieses Flugzeugs Minen abgeworfen hat. Sein Ziel war die Hütte mit der Aufschrift „ILMUWAN“ – Wissenschaftler. Dass es Minen gewesen sein müssen, ergibt sich aus der Tatsache, dass Vater beide Beine abgerissen worden sind. Nun will Mutter ihn retten, doch auch sie wird zerfetzt. Metallsplitter rasen brennend in Prabirs Gesichtshaut. Er muss fliehen. Ohne Madhusree etwas von dem Unglück zu sagen, packt er sie in das Boot und verlässt mit ihr die Insel. Auf der Nachbarinsel einen Tag entfernt nehmen Rebellen sie auf und bringen sie in ein Camp bei der australischen Stadt Darwin. Ein halbes Jahr später gelangten die beiden Kinder nach Toronto, wo Tante Amita lebt.

Toronto

Tante Amita lebt nicht mehr mit ihrem Ex Keith zusammen. Beide sind ziemlich gewöhnungsbedürftige Wissenschaftler, findet Prabir, denn die feministische Amita will sogar die Sprache der Mathematik verweiblichen. Aber Prabir hält die Klappe, denn er will nicht schon wieder ein heim verlieren. Stattdessen geht er auf die High School, wo man ihn zu seinem Erstaunen nicht verprügelt, weil er diese Narben im Gesicht hat, das von dunkler Haut bedeckt ist. Da er sich mit Informatik gut auskennt, geht er anschließend in die IT-Abteilung einer Bank, um dort digitale Anlageberater zu programmieren. Privat weiß er längst, dass er homosexuell ist, und gemeinsam mit seinem Freund Felix tüftelt er Szenarien aus. So etwa jenes, dass sein Leben einer Aue gleiche, einem stillgelegten Flussarm, in dem sich die Evolution auf andere, aber dennoch sinnvolle Weise entfaltet.

Im Jahr 2030

Madhusree, die mittlerweile eine 18-jährige Studentin ist, wird von ihren Dozenten an der Uni Toronto als eine von nur zwei Studierenden eingeladen, an einer Biologen-Expedition in den Molukken-Archipel teilzunehmen. Es wurden neue Mutanten gesichtet. Als sie Prabir davon informiert, reagiert er äußerst ablehnend. Hat er sie einst gerettet, nur dass sie schon wieder in die Krisenzone reist? Angeblich ist der Bürgerkrieg längst vorbei. Dennoch gibt er ihr kein Reisegeld. Sie besorgt es sich bei Felix – und verschwindet grußlos. Auch ein Suizidversuch ist keine Lösung, erkennt Prabir im letzten Moment. Er beschließt, ihr nachzureisen. Wird sie die Leichen ihrer Eltern finden?

Darwin; die Molukken; Teranesia

Darwin ist voller Expeditionen aus aller Herren Länder, und alle wollen „Teranesia“ erforschen. Die Fähre bringt ihn nach Ambon. In Ambon, der Hauptstadt der Molukken, schafft es Prabir, an Bord der Motorjacht zu gelangen, die die Biologin Martha Grant von ihrem Sponsor, einem Pharmakonzern, geliehen bekommen hat. Er verdingt sich als Koch, Mechaniker, Hilfsbiologe. Zusammen erkunden sie Insel um Insel und stoßen dabei auf so manches Rätsel. Findet hier eine Rückwärtsentwicklung statt oder eine Reaktivierung von verdrängten Genen? Vögel, Frösche und sogar Pflanzen entwickeln neue Formen, Beziehungen, Symbiosen und Parasiten.

In einem Mangrovensumpf wird Prabir fast das Opfer einer 20 Meter langen Würgeschlange, die ihn unter Wasser zieht. Nur das Eingreifen einer einheimischen Frau, die die Schlange mit Schlägen betäubt, rettet. Als Martha Grant Prabirs Namen nennt, lacht Ojany: Er muss der Bruder von Madhusree sein, zu deren Expedition sie gehört. Ja, leider. Und er stecke in ernsthaften Schwierigkeiten! Und er hatte gedacht, die Aussicht, als Schlangenfutter zu enden, stelle eine „ernsthafte Schwierigkeit“ dar. Falsch gedacht…

Mein Eindruck

Das Auffallendste an diesem Roman sind seine genau gezeichneten, tiefen Hauptfiguren. Prabir, dessen Blickwinkel wir teilen, hat seine eigene Entwicklung durchzumachen, und die ist eng mit dem Schicksal seiner Schwester verknüpft. Als Fremder in Kanada, der sich in einen Mann verliebt hat, erinnert er sich an seine aufopferungsvollen Eltern und an die dramatischen Ereignisse, in denen er sie verlor. Für diesen Verlust gibt er sich selbst die Schuld, wie der Leser allmählich erstaunt herausfindet. Allmählich wird klar, dass der wahre Grund für seine Reise zu seiner Heimatinsel nicht die Entdeckung neuer Arten ist, sondern etwas völlig anderes: Um seine vermeintliche Schuld zu tilgen, will er sich selbst töten. Das ist ein Plot von ziemlich emotionaler Wucht.

Die Expedition

Mehrere Dinge kommen dazwischen, und es sorgt für eine faszinierende Lektüre, wie Prabir diese Hindernisse bewältigt und sich weiterentwickelt. Da ist zum einen die Expedition, auf die er sich mit Martha Grant begibt. Sie entdecken überentwickelte Stachelsträucher, fleischfressende Orchideen, Kakadus, Fruchttauben und die riesigen Schmetterlinge, die einst seine Eltern studierten (und von denen er einen tötete). Alle diese Wesen sind verändert. Grant schickt alle ihre Befunde per Funk und Internet an verschiedene Laboratorien.

Das SPP

Eines in Sao Paulo liefert eine ziemlich schräge Erklärung. Die Veränderungen, die das sogenannte Sao-Paulo-Gen und sein Protein SPP an der DNS der jeweiligen Kreatur vornehmen, seien nicht bloß Reaktivierungen alter Gensequenzen, sondern Testreihen, mit denen das Gen den Organismus auf eventuell noch folgende Gefahren vorbereitet. Nicht nur das: Durch Quanteneffekte spielt das Gen alternative Realitäten durch und testet diese durch. Manche bieten dem Organismus einen Vorteil in der hiesigen Realität, manche nicht. Die Fachgespräche, die Martha Grant mit Prabir darüber führt, zeugen von hoher Sachkenntnis und fordern ihrerseits den Leser heraus, auf gleich hohem Niveau mitzudenken. Vielleicht sollte man vorher einen Genetik-Grundkurs belegen.

Konflikte

Die Molukken waren schon immer umkämpft. So tauschten die Holländer im 17. Jahrhundert eine dieser winzigen Inseln für ein Eiland ein, das sie auf den schönen Namen „Manhattan“ getauft hatten. Der Gouverneur Peter Stuyvesant fand danach andere Aufgaben. Mit den Gewürzen wie Muskatnuss, Pfeffer, Zimt und vielen anderen machten die Holländer ein Vermögen, aber die japanische Invasion setzte ihrem Imperium im 2. Weltkrieg ein Ende. Den Japanern war bekanntlich kein langer Aufenthalt beschieden, und die siegreichen Amis übergaben die Inseln an die Indonesier in Jakarta.

Die nahe Zukunft: Dem Putsch folgen Verfolgungen, Minen, ein Gegenputsch der Republik RMS und schließlich die Invasion der „Lord’s Army“ aus Papua-Westguinea. Auf diese ungehobelten Soldaten stoßen Prabir und Grant bei ihrer Rückkehr von Teranesia. Zum Glück sind sie keine Muslime, denn auf diese haben es die christlichen Milizionäre abgesehen. Zum guten Teil ist der Roman also auch ein Polit-Thriller.

Transformation

Die Wissenschaftler geben im Plot nicht immer ein gutes Bild ab. So sind die Harvard-Typen ziemlich von sich selbst überzeugt und dozieren gerne. Martha Grants Jacht wird demoliert, sie selbst medizinisch untersucht. Doch während sie OK ist, stellt sich heraus, dass Prabir sind mit dem SPP infiziert hat – Stacheln und Mücken gab es ja genug. Was wird nun mit ihm geschehen, was macht das Gen mit ihm? Glücklicherweise hat sich Madhusrees Gruppe von Forschern im Dschungel verstecken können und besiegt nun die Milizionäre.

Auf ihrer Reise zurück nach Ambon und Darwin beginnt sich Prabir zu verwandeln. Zuerst entdeckt seine Schwester, die diesmal die Reise organisiert, dunkle Flecken auf seiner Haut. Es ist kein Krebs, sondern etwas anderes. Das SPP hat ihn im Griff, und ihr Bruder verwandelt sich, als wäre er eine Schmetterlingspuppe. Aber in was?

Die Übersetzung

Bernhard Kempen ist ein Garant für hohe Qualität, was die Übersetzung angeht, so auch hier. Der Fachjargon von Genetik und Mathematik ist gut wiedergegeben, aber leider ohne jede Fußnote. Der einzige Fehler, den ich finden konnte, scheint auf S. 352 vorzuliegen.

S. 352: „Aber wenn es [das SPP] die Gelegenheit erhielt, die genetische Landschaft des Menschen umzugestalten, würden noch viel mehr Dinge als die Au[g]en verschwinden.“ Das G fehlt. Von „Auen“ ist jedenfalls im ganzen Buch nirgends die Rede.

Unterm Strich

Es gibt etliche SF-Romane über die spontane oder geplante Verwandlung von Geschöpfen, angefangen bei „Frankenstein“ (1818) über „Die Insel des Dr. Moreau“ von H.G. Moreau bis zu den grotesken Verwandlungen bei H.P. Lovecraft und Jules Verne („Reise zum Mittelpunkt der Erde“). Da aber Mutter Natur selbst eine Agentin des Wandels ist, die die Faktoren Mutation und Selektion einsetzt, braucht man sie bloß bei der Arbeit zu beobachten.

Die passende Metapher ist die der Verpuppung eines Schmetterlings. Diese geflügelten Segler durchziehen das gesamte Buch, bis sich der Beobachter und Erzähler selbst zu verpuppen scheint. Da er stellvertretend für die Menschheit steht, stellt sich die Frage, ob das Ergebnis seiner Verwandlung durch das SPP-Gen positiv oder negativ bewertet wird. Die Beurteilung überlässt der Autor indes dem Leser.

Emotionale Wucht

Dieser wissenschaftliche Plot ist eng verknüpft mit Prabirs persönlicher Entwicklung. Diese ist nicht nur sexueller Natur (er ist schwul), sondern von psychologischer, und zwar so intensiv, dass der Leser Anteil an seinem Werdegang nehmen kann. Das ist auch notwendig, denn an einem bestimmten Punkt löst sich Prabir von seiner Schwester, und der Leser stellt sich die Frage, warum und wozu Prabir zur Insel seiner Eltern zurückwill. Die Wahrheit, die der Autor allmählich enthüllt, ist ziemlich schockierend. Zum Glück kann seine Begleiterin ihn davon abhalten, sich umzubringen. Die Verarbeitung des Traumas ist erstaunlich einfühlsam und komplex gelöst. Dies ist mit Sicherheit kein Roman, den man einem jugendlichen Menschen in die Hand drücken würde.

Polit-Thriller

Der wechselnde politische Hintergrund erscheint zunächst als überflüssig, aber schließlich muss sich der Leser doch fragen, wodurch Prabirs erste Flucht ausgelöst wurde und wohin ihn seine Rückkehr letztlich führen würde – angesichts einer Region, die politisch in ständigem Umbruch ist. Und da der Wandel sowieso das Generalthema des Buches ist, passen Soldaten, Milizen und Bombenflugzeuge durchaus ins Bild. Sie spiegeln den religiösen Konflikt in dieser Region wider, bilden aber auch eine Bedrohung: Wenn herauskommt, was das SPP-Gen mit Menschen (wie Prabir) anstellt, wird womöglich eine Atombombe abgeworfen.

Spirale

Ich habe den Roman in nur wenigen Tagen gelesen. Es spricht nicht nur inhaltlich einiges für das Buch, sondern auch die simple Tatsache, dass der Inhalt in nicht weniger als sechs Teile aufgeteilt wurde. jeder ist zwischen 60 und 80 Seiten lang. So kann sich der Leser laufend auf das Ende des jeweiligen Spannungs- und Entwicklungsbogens freuen. Die inhaltliche Entwicklung ähnelt auf den ersten Blick einem Zyklus: Prabir und seine Schwester wachsen auf Teranesia auf, flüchten und kehren viele Jahre später zurück. Doch was Prabir als Endpunkt für sich geplant hat, ist in Wahrheit eine Weiterentwicklung, denn Teranesia bzw. dessen Mutationsgen wird auch ihn verändern. Und sofern es nicht entdeckt wird, trägt er das neue Gen in den nichtsahnenden Rest der Welt…

Manko

Das einzige Manko ist de anspruchsvolle Jargon der Wissenschaftler. Dem Leser ist dringend zu empfehlen, sich in Biogenetik, Mathematik und Quantenmechanik fit zu machen. Aber wenn die Typen von einem „Hilbert-Raum“ reden, hört der Spaß auf, zumal sich der Übersetzung nicht die Mühe gemacht hat, Erklärungen in Fußnoten beizufügen.

Taschenbuch: 382 Seiten
Originaltitel: Teranesia, 1999
Aus dem Australien-Englischen von Bernhard Kempen.
ISBN-13: 9783453179271

www.heyne.de

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