Greg F. Gifune – Finstere Nacht

Eine kollektive Gedächtnislücke löst sich zum Entsetzen der Betroffenen allmählich auf und enthüllt die Heimsuchung durch Geistwesen, die ihre Opfer als Botschafter des Schreckens missbrauchen, um über sie die Menschheit unter ihre Knute zu zwingen … – Die Invasion aus einer fremden Dimension wird von Greg Gifune wortreich heraufbeschworen; wie bei Stephen King trifft das Grauen ‚normale‘ und von der Situation überforderte Menschen. Allerdings tritt die Story oft auf der Stelle oder schlägt stimmungsfeindlich ins Pseudodramatische um: an sich spannend und gruselig aber eher umständlich als anspruchsvoll.

Das geschieht:

Ray, sein älterer Bruder Seth und dessen Kumpels Louis und Darian möchten auf dem walddichten Gull’s Peak, US-Staat Maine, ein frauen- und kinderfreies Winter-Wochenende in einer einsamen Hütte verbringen. Der geplante Freizeitspaß im US-Stil – Saufen und Ballern – fällt aus, denn aus der Wildnis stolpert eine junge, blutverschmierte Frau. Christy gibt an, entführt und vergewaltigt worden zu sein. Nachdem sie ihren Peiniger in Notwehr umgebracht hat, konnte sie entkommen.

Ein Schneesturm hält die Freunde und ihren ‚Gast‘ in der Hütte fest. In der Nacht verschwindet Christy spurlos. Was außerdem geschah, ist den Zurückbleibenden unklar. Nur rudimentär können sie sich an grässliche Ereignisse voller Gewalt und übernatürliche Schrecken erinnern. Konkrete Spuren gibt es nicht, weshalb man beschließt, den Vorfall zu vergessen.

Doch die Ereignisse jener Nacht suchen die Männer heim. Schreckliche Visionen und Angstattacken plagen sie in den folgenden Monaten. Der Stress hinterlässt Spuren und stellt Ehen und Freundschaften auf harte Proben. In seiner Not sucht Seth eine Ärztin auf, die erwartungsgemäß psychische Probleme zu erkennen glaubt. In der Tat haben Seth und besonders Ray eine schwere Kindheit erlebt. Der Jüngere fühlte sich im Schlaf verfolgt und bedroht. Er hat nie darüber gesprochen, dass er seherisch begabt ist und in die Zukunft blicken kann.

Im Gegensatz zu seinen Begleitern weiß Ray genau, was in der besagten Nacht geschehen ist: Kreaturen aus einer realitätsparallelen Sphäre haben sich in ihren Hirnen eingenistet. Seit es Menschen gibt, werden Pechvögel immer wieder von diesen Wesen besessen, die sich an der Furcht ihrer Opfer laben. Nun planen die Geschöpfe die Unterwerfung der gesamten Menschheit. Seth und seine Freunde gehören zu denen, die diese Invasion unfreiwillig vorbereiten sollen. Verzweifelt versuchen sie Widerstand zu leisten, obwohl Ray vorausgesehen hat, dass sie scheitern werden …

Die unsichtbare Welt gleich nebenan

Der Mensch glaubt – offenbar seit jeher – an quasi ‚unsichtbare‘ Welten, die parallel neben der gelebten Realität existieren sowie bewohnt sind. Während man die Kreaturen aus diesen Reichen ursprünglich nicht sehen konnte, weil sie sich den Menschen fernhielten, führten die modernen Naturwissenschaften zu einer Verfeinerung dieser Theorie. Vor allem die Physik sorgte ab 1900 für immer neue und sensationelle Entdeckungen, die allerdings der breiten Mehrheit rätselhaft blieben und erst vielfach gefiltert bzw. trivialisiert ihr Publikum erreichten. Auf diese Weise wurde Albert Einstein ein früher Star, obwohl nur eine Handvoll Menschen die Relativitätstheorie und ihre Auswirkungen begreifen konnten.

Auch für die unterhaltenden Medien waren diese Forschungen fruchtbar. Die junge Science-Fiction profitierte von einer Realität, die offensichtlich wesentlich komplexer war, als sie sich dem Menschenauge präsentierte. In die sich nunmehr auftuenden Nischen – die gern mit dem Begriff „Dimensionen“ weniger beschrieben als beschworen wurden – platzierten erfindungsreiche Autoren phantastische Parallelwelten, in denen sie bewährte Spannungselemente aufleben lassen konnten.

Wenn die Zeit ‚relativ‘ war, musste der Raum erst recht variabel sein. Da wir Menschen nur einen kleinen Ausschnitt überblicken, lag die Vermutung nahe, dass buchstäblich jenseits unserer Wahrnehmung Wesen existierten, die ihre eigenen Leben führten. Was wäre, wenn wir sie nicht aber sie uns sehr wohl sehen könnten? Diese Annahme barg spannende Möglichkeiten. Schriftsteller wie Algernon Blackwood, William Hope Hodgson oder H. P. Lovecraft spielten schon früh entsprechende Begegnungen durch und beschrieben mit beachtlicher Wortgewalt x-dimensionale Parallel-Realitäten, deren Bewohner in der Regel üble Invasionspläne schmiedeten bzw. umzusetzen versuchten, sobald sie die Grenze überschritten. Da man diese Gegner ohne (meist technische) Hilfsmittel wie gesagt nicht entdecken konnte, war das Spektrum daraus resultierender Übeltaten breit. Da in jenen Fremdwelten zudem die bekannten Naturgesetze aufgehoben waren, durften Geschichtenerzähler fabulieren; eine Freiheit, die erst recht geschätzt wurde, als die Bilder laufen lernten.

Trockener Ernst im blühenden Blödsinn

Der Kreis schloss sich dort, wo die ‚Erklärungen‘ für diese Jenseitswelten sich den wissenschaftlichen Fakten zumindest wieder näherten. Wo es gelingt, beide miteinander zur Deckung zu bringen, WIRKT das Ergebnis zumindest überzeugend und entwickelt daraus zusätzliche Spannung.

Greg Gifune dreht in dieser Hinsicht ein großes Rad. Er entwickelt eine allgemeine Parallelwelt-Theorie, die sämtliche Inkarnationen menschlicher Mythologien und Religionen zu Manifestationen transdimensionaler Wesenheiten erhebt. Engel, Dämonen, Geister, Fabelwesen, die meisten ‚Außerirdischen‘: Sie entspringen nach Gifune einer gemeinsamen Quelle. Dieses Konzept schuf (nicht nur aber besonders detailliert) der bereits erwähnte Lovecraft in seinem „Cthulhu“-Zyklus: Die Menschheit steht recht weit unten auf der Leiter derjenigen Intelligenzen, die das Universum erfassen, formen und beherrschen. Normalerweise ahnen wir nichts von diesen ‚Über-Wesen‘ die an bekannte räumliche und dimensionale Einschränkungen nicht gebunden sind.

Gifune übernimmt von Lovecraft die Annahme, dass diese Wesen nicht per Definition ‚böse‘, sondern primär fremd sind, weshalb wir ihre Intentionen nicht verstehen. Was sie den Menschen antun, begreifen sie entweder nicht als feindseligen Akt, oder es interessiert sie nicht. Während Lovecraft diese Verständnisdiskrepanz überzeugend darzustellen wusste, bleibt Gifune allerdings der Erfolg versagt. Die von ihm entfesselten Kräfte wechseln schwammig zwischen nüchterner Planung und theatralischer Bösartigkeit, während sie ihre Invasion der Menschenwelt vorantreiben.

Viele Worte, wenig Handlung

Dennoch funktioniert der Plot, was er vor allem im Anfangsteil und auf dem Weg ins Finale unter Beweis stellt. Hier konzentriert sich Gifune auf die Story, nachdem er sie in einem schier endlosen Mittelteil unschlüssig umkreist und beinahe totgeschwätzt hat. Das Grauen beginnt in den Wäldern von Maine – ein erster Verweis auf Stephen King, der in diesem Staat lebt und schreibt. King ist noch immer der Maßstab, wenn es darum geht, Schrecken über betont ‚normale‘ Mitmenschen zu bringen, die gleichzeitig Identifikationsfiguren für die Mehrheit der Leser darstellen.

Doch wo King meist (wenn auch nicht immer) Charaktere ins literarische Leben ruft, mit denen man tatsächlich zittert oder die man hasst, schickt uns Gifune Pappkameraden. Er füllt Seite um Seite mit Hintergrundgeschichten, die uns vor allem Seth und Ray an Herz legen sollen, und erstickt uns stattdessen mit Informationen, die nur Seifenschaum statt Spannung erzeugen.

Dazu passt eine Handlung, die nach vielversprechendem Auftakt entweder auf der Stelle tritt oder sich im Kreis dreht. Mindestens 100 Seiten könnte man problemlos aus dem Mittelteil streichen. Gifune überspannt den Bogen weiter, wenn er immer wieder und schematisch jenseitiges Grauen beschreibt, das aufgrund seiner Übertreibung zudem ins Lächerliche umschlägt, statt jene Mischung aus ‚realer‘ Bedrohung und Paranoia zu schaffen, die ihm vorschwebt: Sind die Hirninvasoren echt, oder resultieren die Probleme der Hauptfiguren aus den sehr diesseitigen Problemen, mit denen der Autor sie schlägt?

Lesefutter mit Sägemehl-Zusatz

Mehr als 400 engbedruckte Seiten münden in ein erstaunlich oder enttäuschend traditionelles Grusel-Finale; es kommt auf das Urteil des Lesers an. Viel Papier wurde für eine insgesamt innovationsarme Geschichte bedruckt. Gifune ist kein filigran erzählender Autor, er hat aber den Ehrgeiz, sein Garn auf mehreren Verständnisebenen zu spinnen. Er ist dort am besten, wo er Horror-Routinen bedient und sein durchaus vorhandenes handwerkliches Geschick einsetzt.

Die deutsche Fassung ist übrigens ein schön gestaltetes sowie gut übersetztes Buch. Für den Leser stellt beides in einer Gegenwart, die den klassischen Verlag in eine lektorenfreie Zone zu verwandeln droht, keine Selbstverständlichkeit mehr dar, weshalb diesbezügliche Sorgfalt eine lobende = anspornende Erwähnung verdient.

Autor

Greg F. Gifune wurde am 12. November 1963 in Framingham, Middlesex County (US-Staat Massachusetts), als Sohn eines Lehrer-Ehepaars geboren. Er wuchs in Boston auf und deckte beruflich eine erstaunliche Bandbreite unterbezahlter Jobs ab – u. a. als Sprecher und Produzent für Radio und Fernsehen, als Journalist und in der Werbung -, eher er sich ab 2001 einen Namen als Autor von Thriller-, Krimi- und Horrorliteratur zu machen begann. Bevor er hauptberuflicher Schriftsteller wurde, gab Gifune außerdem das „New-Age“-Magazin „The Edge“ heraus und war für den Verlag „Delirium Books“ tätig.

Mit seiner Frau lebt und arbeitet Gifune heute in Marion, einer Kleinstadt in der Nähe von Boston. Über seine Arbeit informiert er auf www.gregfgifune.com.

Paperback: 428 Seiten
Originaltitel: Children of Chaos (North Webster/Indiana : Delirium Books 2006)
Übersetzung: Kalle Max Hofmann
Cover: Michael Potrafke
luzifer.press

E-Book: 1655 KB
ISBN-13: 978-3-95835-088-5
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