Gribbin, John – Schiff der Visionen, Das

_Die Truman-Show der Wissenschaft_

Noch ein Mythos von der Eroberung und Entdeckung der Welt! Vision und Vernunft tun sich zusammen, um die Welt zu enträtseln – eine Utopie der Wissenschaft?

_Der Autor_

John Gribbin, geboren 1946, ist einer der bekanntesten britischen Wissenschaftler und Sachbuchautoren. Er hat populärwissenschaftliche Werke veröffentlicht, etwa über die Quantenphysik („Auf der Suche nach Schrödingers Katze“, 1984, und „Blinded by the Light“). Sein Roman „Father to the man“ von 1989 ist auf deutsch bei |Heyne| erschienen und wahrscheinlich sein bestes Buch. Seine anderen Romane schrieb er stets in Zusammenarbeit mit anderen Autoren, so etwa „Ragnarök“ mit D.G. Compton, ebenfalls bei |Heyne|. Ihre Handlung ist stets ziemlich vorhersehbar, aber ihr Gehalt an wissenschaftlichen Erkenntnissen überdurchschnittlich hoch – ähnlich wie bei Arthur C. Clarkes letzten Romanen.

_Handlung_

Die Story dreht sich einfach um die Erweiterung des geistigen Horizonts – nicht nur eines Menschen, sondern einer Zivilisation und Bevölkerung. Die Novizin Elyse hat ein Talent, von dem sie hofft, dass sie es bei den Schwestern im Kloster ausbauen kann. Leider wird es als recht nutzlos angesehen: Sie „sieht“ in aufsteigendem Rauch ein großes Schiff mit weißen Segeln, wie man es in ihrer Gegend nicht kennt. Hier gibt’s nur Fischerboote.

Elyse aber glaubt an sich, und als man sie nach Hause schickt, begibt sie sich zu einer Familie, von der ihr eine Mitschwester erzählte. Sie bringt den Leuten in diesem entlegenen Nest bei, wie man Boote so baut, dass man damit gegen den Wind kreuzen kann. Bald ist sie eine recht angesehene „Hexe“. Aber sie wartet eigentlich nur auf das große Schiff.

Parallel dazu erzählt der Autor die Geschichte, die zu diesem Schiff gehört. Das hat der Herzog Kyper bauen lassen, um Handel mit weiter entfernten Inseln treiben zu können. Auf dieser Wasserwelt leitet sich Profit davon ab, wie viele Waren man zu guten Preisen in möglichst kurzer Zeit zum Markt der Abnehmer bringen kann. Ein neues Navigationssystem für die exakte Positionsbestimmung verleiht Herzog Kyper gegenüber seinen Rivalen einen enormen Konkurrenzvorteil. Kein Wunder, dass dessen Erfinder sofort gekidnappt wird. Das nennt man wohl „unfreundliche Übernahme“. Doch Kypers Mannen befreien den Erfinder Falk und entkommen den Kidnappern.

Mit dem Navigationssystem stechen Falk, sein vertrauter Steuermann und der Kapitän der „Far Trader“ in See, um ans andere Ende des Ozeans zu segeln, dorthin, wo seltsame Lichter scheinen. Die Reise dauert lange. Pünktlich geht die Sonne morgens im Zenit an und pünktlich abends auch dort wieder aus. (!) Nachts scheinen ein paar Lichter, die wir für Sterne halten würden, also andere Sonnen. Nicht so Falk & Co.!

Eines Tages tauchen am Himmel fliegende Menschen auf: Männer, die an Flügeln hängen. Leider stürzen zwei davon ab, die Far Trader wird vom König der Flugmenschen unter eine Art wohlwollender Quarantäne gestellt, nach dem Motto: „Ihr dürft weiterleben, doch nur, wenn ihr mir euer Schiff übergebt und besonders euer raffiniertes Navigationssystem.“ Falk gelingt es, mit Hilfe eines Ballons der Gefangenschaft zu entfliehen. Die Flieger können ihm bei Nacht leider nicht folgen, weil ihnen dazu die Thermik fehlt.

Im letzten Drittel finden beide Erzählstränge zusammen. Elyses Vision bewahrheitet sich, als die Far Trader in ihrem Hafen einläuft. Zusammen mit Falk übernimmt sie die Aufgabe, die herrschende Dürre zu beenden, indem sie für Regen sorgt. Elyse und die Besatzung des Schiffs begeben sich in die Berge. Mit Hilfe eines Ballons schaffen es Elyse und Falk, die hohen Klippen zu überwinden, die die Welt zu begrenzen scheinen. Dort erleben sie ihr blaues Wunder: Dies ist tatsächlich die Grenze ihrer Welt! Sie leben IN einer Kugel.

_Mein Eindruck_

Wer den schönen Film „Die Truman Show“ mit Jim Carrey gesehen hat, der weiß schon nach wenigen Dutzend Seiten Bescheid. Dies ist eine künstliche Welt, vielleicht ein Generationenschiff wie bei Gene Wolfe in dessen „Buch der Langen Sonne“. Hier wie dort hat die „Besatzung“ keine Ahnung, dass sie sich in einer künstlichen, begrenzten und sich bewegenden Welt befindet. Natürlich gibt es auch einen Beobachter – irgendjemand muss schließlich Bescheid wissen und die Ahnungslosen aufklären. Das erzählt Gribbin sehr schön. Und schon bald nähert man sich einem Sonnensystem mit neun Planeten …

Auch dies ist eine vorhersehbare Handlung, doch sie ist nett erzählt. Besonders gefielen mir die Experimente Falks mit seinem Navigationssystem. Es basiert auf elektrischer „Resonanz“, wie er sagt. Heute würde man sagt, auf passivem Radar. Ziemlich clever, aber wohl nur in dieser Welt funktionsfähig. Auch seine anderen Ideen sind recht witzig. So liest sich das Buch einerseits wie Fantasy mit Science-Fiction-Elementen, andererseits wie ein Renaissance-Roman mit einem Leonardo da Vinci im Zentrum. Aber Falk hat letztlich nur Erfolg, weil ihm Elyses Telekinese hilft. Magie und Wissenschaft – der nächste (Fort-)Schritt also?

|Originaltitel: Innervisions, 1993
Aus dem Englischen übertragen von Walter Brumm|