James Gunn (Hg.) – Von Wells bis Stapledon – Wege zur Science Fiction 3

Wege zur Science-Fiction:

Band 1: Von Gilgamesch bis Hawthorne. HSFB 90
Band 2. Von Poe bis Wells. HSFB 91
Band 3. Von Wells bis Stapledon. HSFB 92
Band 4. Von Huxley bis Heinlein. HSFB 93
Band 5. Von Heinlein bis Farmer. HSFB 94
Band 6. Von Clement bis Dick. HSFB 95
Band 7. Von Ellison bis Haldeman. HSFB 96
Band 8. Von Matheson bis Shaw. HSFB 97
Band 9. Von Lem bis Varley. HSFB 98
Band 10. Von Malzberg bis Benford. HSFB 99
Band 11. Von Shelley bis Clarke. HSFB 100
Band 12. Von Ballard bis Stableford. HSFB 101

Evolution & Revolution: Immer auf die armen Fußgänger!

In seiner Serie „Wege zur Science Fiction“ versucht Herausgeber James Gunn sowohl die Entstehungswege der amerikanischen wie auch der britischen Science-Fiction nachzuzeichnen, die einzelnen Autoren zu charakterisieren und die Bedingungen zu erklären, unter denen die teils recht ausgefallenen Erzählungen entstanden.

In der „Heyne Bibliothek der Science Fiction“ ist dies Band Nummer 92. Er deckt die Zeit zwischen 1901 und 1930 ab. Jeder Beitrag wird vom Herausgeber eingeleitet, teils um einen Aspekt der SF abzudecken, teils mit einer kurzen Vorstellung des jeweiligen Autors.

_Der Herausgeber _

Der Literaturprofessor James Gunn, geboren 1923, hat ein paar interessante SF-Romane geschrieben, darunter „Die Freudenspender“ (1961) und „Die Unsterblichen“, aber besonders hat mich nur „Die Horcher“ beeindruckt, ein realistischer Roman über Astronomen, die nach fremdem Leben im Kosmos suchen und eines Tages fündig werden. Bei uns ist er am bekanntesten für seine Story-Anthologien in der Reihe „Wege zur Science Fiction“, die er in den siebziger Jahren begann und die fast vollständig bei Heyne in der „Science Fiction Bibliothek“ erschienen ist.

_Die Einleitung_

Gunn zeichnet die wichtigsten Entwicklungslinien inner- und außerhalb der phantastischen Literatur nach, die sich im Laufe der hier abgedeckten dreißig Jahre zum Magazin- und Buch-genre der „Science Fiction“, wie wir es heute (noch!) kennen, fortentwickeln sollte. Besonders die Giganten auf der Autoren- (Wells, Verne etc.) und der Herausgeber- bzw. Verlegerseite verdienen seine Aufmerksamkeit. Ohne das Interesse der Verleger an diesem neuen Genre wäre es nie so weit gekommen, dass sich so gestandene Autoren wie Heinlein, der eigentlich erst Admiral und dann Gouverneur werden wollte, sich diesem Genre zuwandte – um es ziemlich umzukrempeln.

Aber auch außerhalb der SF musste in der Gesellschaft erst das Bewusstsein entstehen, dass der Wandel eine Konstante ist. Dabei waren das Ende des Viktorianischen Zeitalters sowie die beiden Weltkriege von entscheidender Bedeutung. Epochale Entdeckungen wie die Atomkraft wurden erst begrüßt, dann gefürchtet. Im Jahr 1945 war es schließlich soweit, dass allgemein das Ende der Menschheit erwartet wurde. Und Ende der fünfziger Jahre wunderten sich die Autoren, dass der Atomkrieg noch nicht längst ausgebrochen war. So schnell kann’s gehen.

_Die Erzählungen _

_1) H. G. Wells: „Der neue Beschleuniger“ („The New Accelerator“, 1901)_

Prof. Gibberne ist Chemiker und hat den neuen Beschleuniger erfunden. Diese Droge will er seinem Freund, unserem Chronisten, praktisch vorführen. „Man stelle sich nur vor, man könnte Arbeiten und Kämpfe mit tausendfacher Geschwindigkeit erledigen! Man wäre allen anderen überlegen.“ Allerdings müsse mit der Dosierung extrem vorsichtig umgegangen werden.

Gibberne gibt seinem Freund etwas davon stark verdünnt zu trinken. Als dieser zwei Minuten später sachte, wie empfohlen, die Augen öffnet, hat sich zwar nicht verändert, aber der Verhang weht in einem Wind, der nicht zu spüren ist. Die Wirkung der Droge ist eigentlich logisch: Weil man sich selbst so schnell bewegt, erscheint alles andere ringsum unendlich langsam zu vergehen.

Zusammen steigen die beiden Experimentatoren aus dem Fenster von Gibbernes Villa und begeben sich in die Parks von Folkestone. Dort ahnt niemand etwas von den beiden schier Unsichtbaren, die sich in ihrer Mitte bewegen. Erst als die Wirkung endet und sie an einer Parkbank verschnaufen, beäugt ein Rollstuhlfahrer misstrauisch ihre angesengten Hosen und Jacken. Ein weiterer Effekt: Sie bewegen sich so schnell, dass die Reibung der Luft den Stoff ihrer Kleidung versengt hat.

Gibberne frohlockt. Alles, was er jetzt noch braucht, ist ein Verzögerer. In Kombination könnten Beschleuniger und Verzögerer zum Wohle der Menschheit in allen Lebenslagen eingesetzt werden. Unser Chronist ist sich da nicht so sicher. Denn die Unsichtbarkeit, die der Beschleuniger verleiht, öffnet auch dem Verbrechen Tür und Tor …

|Mein Eindruck|

Heutzutage braucht man keinen Beschleuniger aus Chemie mehr, um das Gefühl zu erleben, in einer Zeitmaschine zu sitzen, die so groß ist wie die Welt: 24 Stunden Internetkonsum genügen völlig für einen völligen Realitätsverlust, und ein Jahr im Internet entspricht sieben Jahren in der Realität. (Dieser Vergleich ist allerdings schon wieder zehn Jahre alt und obendrein schief, denn für viele junge Zeitgenossen IST das Internet die Realität.)

Die Geschichte von Wells erschien nur wenige Jahre vor Einsteins Veröffentlichung der Speziellen Relativitätstheorie anno 1905 (für die er NICHT mit dem Nobelpreis geehrt wurde; den bekam er für die Entdeckung des photoelektrischen Effekts). Sie bietet aber schon einen Hinweis auf die Relativität des Zeitverlaufs. Die Beschleunigung des Beobachters führt zu einer Verlangsamung des Beobachteten und umgekehrt.

Ist das gut oder schlecht? Gibberne ist der begeisterte Erfinder, der nur an die großartigen Vorteile seiner Erfindung denkt. Unser Chronist ist der Einzige, der die möglichen Nachteile zu bedenken gibt. Wer wird die Oberhand behalten, fragen wir uns: Wird der Wissenschaftler die moralische Verantwortung für seine Erfindung erkennen und übernehmen?

_2) E. M. Forster: „Die Maschine bleibt stehen“ („The Machine Stops“, 1909)_

Die Menschheit hat sich in ferner Zukunft unter die Erde zurückgezogen, wo sie vom System der Maschine rundum versorgt wird. Nur noch Luftschiffe fliegen über die Erdoberfläche. Inzwischen haben sich die Menschen in ihren hochtechnisierten Wohnzellen so sehr an ihre Umgebung und die Abhängigkeit von Rundumversorgung und Telekommunikation gewöhnt, dass ihnen ein andersartiges Leben wie ein Frevel gegen die Segnungen der Maschine vorkommt.

So ergeht es auch Vashti, einer verweichlichten Musikforscherin, die eines Tages einen Anruf von ihrem entfernt lebenden Sohn erhält, der sie bittet, ihn zu besuchen. Auf der anderen Seite der Welt! Allein schon die Reisevorbereitungen sind mit unerträglichem Ungemach verbunden, und dann die Reise erst, eine Qual voller Strapazen, ungehobeltem Personal (das sie doch tatsächlich ANFASST!) und langen Fahrten. An Gehen ist natürlich nicht zu denken.

Als sie endlich bei ihrem Sohnemann eintrifft und ihm Vorhaltungen macht, eröffnet er ihr, dass ihm die Heimatlosigkeit drohe. Welch schreckenverheißendes Wort. Vashti ahnt nur, dass es sich dabei um die Ausstoßung aus den unterirdischen Wohngewölben der Maschine handelt. Doch er berichtet ihr, was er getan hat: Er verließ die Maschine ohne Ausreisegenehmigung und ging durch einen verbotenen Ausgang an die Erdoberfläche. Und das Motiv? „Ich wollte erfahren, was Nähe und Ferne bedeuten, was es heißt, selbst zu gehen und die Dinge aus erster Hand zu erleben, nicht durch 3d-Videos.“

Sein Ausflug an die Oberfläche endete traumatisch, indem ihn weiße Würmer packten und ihn die Tiefen der Maschine zerrten. Seitdem sind Atemgeräte verboten. Und es gibt eine weitere Neuerung: Die Anbetung des Buches der Maschine wird zur Pflicht und damit zu einer Ersatzreligion. Was natürlich niemand so sagen würde.

Die zeit vergeht, und Vashti, die gehofft hat, alles würde wieder ins Lot kommen, sieht sich enttäuscht: Die Luft wird dunstig, das Wasser schmeckt faulig, die Telekommunikations-Leitungen scheinen überlastet zu sein, und alle Proteste beim Komitee für Reparaturen fruchten nichts. Da kommt erneut ein Anruf von ihrem Sohn: „Die Maschine wird stehenbleiben!“

Vashti weiß nicht, was er meint. Die Maschine KANN doch nicht stehenbleiben, denn sie ist ja die Welt. Oder sie wird danach erneut in Gang gesetzt. Doch es soll alles viel schlimmer kommen, als sie auch nur ahnt …

|Mein Eindruck|

Diese Dystopie formulierte der Autor von „Zimmer mit Aussicht“ und „Reise nach Indien“ als Antwort auf die hoffnungsvollen Utopien von H. G. Wells, die das Heil der Menschheit in den Segnungen der Technologien ausmalten, so etwa “ A Story Of the Days To Come“ (1899/1933, „Von kommenden Tagen“) oder „Menschen wie Götter“. Doch in „Die Maschine“ ist es genau die Technik, die letzten Endes versagt. Auch wenn nicht gesagt wird, aus welchem Grund es zu diesem Ausfall kommt. Wir können nur ahnen, dass es die Verbündeten ihres Sohnes, die „Heimatlosen“ sind, die etwas damit zu tun haben. Vielleicht sind sie, wie er, Maschinenstürmer. Vielleicht bricht die Technik auch einfach nur wegen Korrosion etc. zusammen.

Auch wird an keiner Stelle der Grund für die unterirdische Lebensweise der Menschen in der Maschine genannt. Sie haben ihn zumindest längst vergessen. Die sogenannten Wissenschaftler wie Vashti, die Musikologin, oder ein Historiker, der die Französische Revolution (ausgerechnet!) erforscht, begnügen sich mit Informationen aus zweiter, dritter oder gar zehnter Hand und rühmen sich dessen sogar.

Der Autor, der sich direkt an den Leser wendet, konzentriert sich auf die psychologischen und körperlichen Veränderungen, die sich an den unterirdisch lebenden Menschen zeigen. Da niemand Anstrengungen auf sich nimmt, verfügt auch keiner über Muskeln. Wie später in Kellers Erzählung werden alle Fußgänger verachtet, ja, sogar gefürchtet. (Hier ist Forster dem Amerikaner um knapp 20 Jahre voraus!) Sohnemann muss sich selbst trainieren, um es bis zur Oberfläche zu schaffen. Wie er überhaupt auf diese Idee gekommen ist, ist ebenfalls wenig plausibel begründet. Er hat ja keine Erzählungen von den Heimatlosen im oberirdischen Exil erhalten, sondern bloß den Einfall und die Sehnsucht nach dem Oben erhalten.

Je mehr man über die Aussagen des Textes nachdenkt, umso unplausibler wirkt er. Dennoch zählt „Die Maschine stoppt“, geschrieben 1909, zu den großen warnenden Texten vor den Folgen der Technisierung der Menschheit und darf in keiner entsprechenden Anthologie fehlen.

_3) E. R. Burroughs: „Die Schachfiguren des Mars“ („The Chessmen of Mars“, 1922)_

John Carter, der Mann von der Erde, hat Dejah Thoris, die Marsprinzessin, zur Frau genommen. Er herrscht mit ihr als Kriegsherr über das Reich Barsoom in der Doppelstadt Helium. Sie lieben es, ihre Abende beim Mars-Schach zu verbringen. Sie haben eine Tochter, die die Heldin des vierten Mars-Abenteuer ist. Tara von Helium ist mindestens ebenso unabhängig, kühn und abenteuerlustig wie ihr Vater.

Als sie erfährt, dass der ihr verhasste Fürst Gahan von Gathol um ihre Hand anhalten will, fliegt sie morgens alleine los, obwohl ein Sturm aufzieht. Unversehens wirbelt der riesige Sturm sie durch die Gegend. Nach Stunden des Zweikampfs muss Tara klein beigeben – und wird 7000 Haad (Meilen?) weit über die Kugel des Mars gewirbelt. Sie landet ihren Gleiter in einer tropischen Gegend, die von geheimnisvollen Türmen überragt wird.

Von einem Versteck beobachtet sie eine seltsame Szene: Kopflose Humanoide werden von Humanoiden, die flache Köpfe aufweisen, wie Vieh gehalten und abends in die Obhut der Türme gesperrt. Tara hat nicht vor, sich einem solchen bedauernswerten Schicksal auszusetzen. Sie wartet, bis beide Monde untergegangen sind, bevor sie sich an den Fluss wagt, um zu trinken und Früchte zu sammeln.

Auf einmal hört sie das Knurren mehrerer Raubtiere. Ein Rudel Marslöwen haben sie zu ihrer Beute auserkoren. Wird es ihr gelingen, zu einem rettenden Baum zu sprinten und den zehn Tatzen des tödlichen Banth zu entrinnen?

|Mein Eindruck|

Dies sind das 2. und das 3. Kapitel aus dem vierten Mars-Roman über die Abenteuer von John Carter auf dem Roten Planeten. Wie stets bei Burroughs bildet das Phantastische lediglich die Folie, vor dem sich altgewohnte Abenteuer von Menschen abspielen. Die Abenteuer selbst sind keineswegs phantastisch, so etwa finden keinerlei Verwandlungen statt. Es treten weder Götter noch Zauberer auf, anders als etwa später bei Abraham Merritt. Auch der Kampf zwischen Gut und Böse spielt sich nicht auf Barsoom ab.

Und Tara ist nur ein weiteres verzogenes Mädchen, dessen Schicksal es ist, von einem tapferen Krieger gerettet zu werden (und dabei dürfte ausgerechnet der verhasste Gahan von Gathol eine zentrale Rolle spielen). Bevor es soweit ist, erlebt es einige merkwürdige Abenteuer. Offenbar wollte der Schöpfer des TARZAN auch mal Mädels als Publikum gewinnen. Ob es ihm gelungen ist, darf bezweifelt werden. Denn zumindest wohlerzogene Mädels kamen nicht einmal in 5 km Umkreis an einen Kiosk heran, der solche Pulp Fiction feilbot.

_4) Abraham Merritt: „Die Wesen der Tiefe“ („The People in the Pit“, 1917)_

Der Ich-Erzähler und sein Freund Starr Anderson sind auf dem Weg nach Alaska, um in den bergen der fünf Gipfel nach Gold zu schürfen. Sie haben gehört, dass in den Bächen, die zwischen Gipfeln entspringen, Gold in Massen zu holen sei. Doch die Athabasken-Indianer weigern sich alle, sie zu begleiten: Diese Berge seien verflucht.

Eine erste Ahnung, dass etwas mit diesem Gebirge nicht stimmen könnte, erhalten sie, als sie nachts einen bläulichen Lichtstrahl aus den Bergen emporschießen sehen. Lichter schwärmen aus, als suchten sie etwas, und ein Flüstern zischt durch die Nacht. Die Hunde gehen durch, die zwei Goldsucher legen mehr Holz aufs Feuer. Das ist ihr Glück, denn der Lichtschein weist einer Kreatur den Weg zu ihnen, die sie kaum als ein menschliches Wesen erkennen. Es kriecht über den Boden, blind wie eine Fledermaus, keucht und winselt um Rettung.

Nach Tagen des Schlafes hat sich der Mensch soweit erholt, dass er ihnen seine Geschichte erzählen kann. Sinclair Stanton, so sein Name, wollte wie sie in diesen bergen Gold suchen. Nachdem sein Begleiter krank geworden und zurück in die Zivilisation gebracht worden war, ging er allein weiter, bis er ebenfalls jene Lichter sah. Dann stieß er auf den Abgrund.

Im Abgrund, der sich auf der abgewandten Seite der fünf Berge erstreckt, erblickt er keinen Boden, sondern nur wabernden Nebel, aus dem ein Flüstern drang. Zwischen einem Tor mit warnenden Figurenzeichnungen wand sich eine Treppe in die Tiefe, der er folgte. So gelangte er in die Stadt. Sie bestand aus gestapelten Röhren, um die sich Lichter wanden. Er fand den Weg zu einem Tempel und einem Altar, hinter dem ein unsichtbares und namenloses Grauen bereits auf ihn lauerte …

|Mein Eindruck|

Ich kenne bereits zwei Abenteuerromane von Abraham Merrit und habe sie besprochen: „Das Gesicht im Abgrund“ und „Das Volk der Fata Morgana“, die beide ganz ähnliche Motive aufweisen. Weil die weißen Flecken auf der Weltkarte alle getilgt worden waren (beide Pole waren erobert), mussten die Autoren neue Verstecke für die Wunder und Schrecken der Welt erfinden. Vergessene Spezies („lost races“) werden von Abenteuern an verborgenen und v.a. verbotenen Orten entdeckt, so wie es Allan Quatermain im dunkelsten Afrika getan hatte, um dort Ayesha zu finden – oder sie ihn.

Die Story vom Volk in der Tiefe wirkt wie eine Steilvorlage für eine Horrorgeschichte von Lovecraft, der ebenfalls in diesem Band vertreten ist. Cthulhu-Vorbilder finden sich hier bereits: formlose, halb transparente Tintenfischmonster mit zahllosen, grabschenden Tentakeln wollen dem Abenteurer ans Leder. Doch die Gefahr reicht viel tiefer als die Haut: Es geht bei Merritt eindeutig auch um das Seelenheil der Hauptfigur. Kann er, will er, soll er dem Sirenenruf der Monster widerstehen?

Das Motiv der Goldsuche führt auf die richtige Spur, um die Geschichte zu deuten. Das Volk der Tiefe existierte lange vor Adam, stammt also nicht von Gott ab, sondern, so der damalige Glaube, automatisch vom Teufel. (Wie das zugehen kann, ist eine andere Frage.) Es symbolisiert den atavistischen Drang des Menschen nach Hab und Gut, nach dem Gold – und nach der Preisgabe der Seele an diese Gier. Die Seele soll auf dem Altar dieses gierigen Gottes geopfert werden.

Doch dieser Gott löst zugleich Horror aus, und in Panik versucht der Christenmensch zu fliehen. Leichter gesagt als getan. Sinclair Stanton ist todgeweiht, als ihn die Goldsucher entdecken, hat keine Hände mehr – und ist selbst im Unterbewusstsein zu einer kriechenden Kreratur der Tiefe geworden. Im Schlaf bewegen sich seine Hände und Füße, als gehorchten sie einem fremden Willen. Nach drei Tagen findet er, wie einst Jesus, Erlösung.

_5) Jack London: „Der Rote“ („The Red One“, 1918)_

Der englische Gelehrte Bassett ist zu den Salomon-Inseln vor der Küste Neu-Guineas gesegelt, um dort einen berühmten, großen Schmetterling zu jagen. Doch stattdessen jagen nun ihn die menschenfressenden Buschleute, um an sein leckeres Fleisch zu gelangen. Schon am Strand von Guadalcanal, in Ringmanu, hat er zudem einen überirdisch wirkenden Klang gehört, tief und sonor, aber verführerisch wie Elfenhörner. Gehetzt von den Kannibalen, angezogen vom Klang eines Gottes, irrt Bassett ins tiefste Inselinnere.

Halb schon im Delirium wegen des Giftes der unzähligen Moskitostiche, gelangt Bassett an den Rand einer grasigen Savanne, die sich kilometerweit jenseits des Dschungels bis zu den zentralen Hügelketten dieses vulkanischen Eilandes hinzieht. Am anderen Ende der Savanne bricht er zusammen, da er weder über Nahrung noch Wasser verfügt. Seine Flinte ist nutzlos. Hier findet ihn Balatta, eine junge, aber wie Bassett findet, äußerst hässliche Frau der Kannibalen aus dem Innersten des Landes. Sie bewundert seine blauen Augen – das ist der einzige Grund, warum sie ihn am Leben lässt.

Wenig später findet er sich in der stinkenden Hütte des Medizinmannes wieder, der Schrumpfköpfe anfertigt. Nguru freut sich schon darauf, auch aus Bassetts Kopf eine Trophäe für seine Sammlung anfertigen zu dürfen, erzählt er dem langsam Genesenden. Doch der mysteriöse Klang, der hin und wieder übers Land dröhnt, lässt Bassett keine Ruhe. Das sei der Rote, der Sterngeborene, erzählt ihm Nguru. Und es versteht sich von selbst, dass der Ruheort des Roten für Leute wie Bassetts strengstens tabu ist.

Einfallsreich, wie Bassett immer noch ist, sieht er nur einen Weg, um den Roten zu Gesicht zu bekommen: Er macht Balatta den Hof. Er wolle sie heiraten, sobald das Kreuz des Südens am höchsten steht, verspricht er ihr – was zum Glück erst in neun Monaten der Fall sein wird. Bis dahin, das ahnt er, ist er der Malaria erlegen. Doch sie hilft ihm, die Tabuzone zu begehen. Und dort, in einer tiefen Senke, erblickt er den Roten tatsächlich – den Kurier von den Sternen …

|Mein Eindruck|

Jack London hat einen unverkennbar realistischen, zugleich packenden Erzählstil, der den Leser unweigerlich in den Sog der so entworfenen Welt hineinzieht. Das war schon in „Der Ruf der Wildnis“ der Fall, und als dass London als Seemann auch die Südsee befahren haben muss, beweist jede Seite dieser Erzählung. Hinzukommt noch das Rätsel um die titelgebende Figur, umgeben von menschenfressenden Kopfjägern, und fertig ist eine fesselnde Abenteuergeschichte. Der Kontrast der Liebesgeschichte zwischen Balatta und Bassett sorgt für unfreiwillige Komik, die mit der Szenerie der Kannibalen einen makabren Kontrast bildet.

In dieser Geschichte (wie auch in der folgenden) sind die Aliens längst gelandet. Allerdings sind sie kaum als solche erkennbar. Der Rote, eine Sonde von den Sternen, ist mittlerweile, also nach Jahrhunderten, ein Gegenstand kultischer Verehrung geworden, dem Menschenopfer dargebracht werden. Verehrung ist die andere Methode des Menschen, um auf das Fremde zu reagieren, Bekämpfung ist die andere. Dass man Aliens auch als Geschäftspartner akzeptieren kann, ist eine sehr späte Idee, die in der SF meist erst nach dem Ende des Kalten Krieges anzutreffen ist.

_6) H. P. Lovecraft: „Dagon“ (1923)_

Ein entkommener Kriegsgefangener des 1. Weltkriegs strandet nach einer Irrfahrt auf einer ungastlichen Insel im Südpazifik. Der Strand besteht aus einem schwarzen, toten, schleimigen und ekligen Sumpf, auf dem nichts lebt. Er schleppt sich vier Tage lang (ohne Wasser!) zu einem Hügel hoch, der sich als Vulkankrater entpuppt. Ist dies der Eingang zur Unterwelt, fragt er sich. Sein Blick fällt auf einen weißen Monolithen auf der gegenüberliegenden Felswand. Er ist bedeckt mit Sinnbildern, Flachreliefs und Schriftzeichen: Zu sehen sind humanoide Fischwesen, die aber so groß wie Wale sind.

Eines dieser Wesen taucht aus dem Kratersee auf, um den Monolithen, einen Altar, zu verehren. Der Gestrandete wird wahnsinnig. Er findet heraus, dass es bei den Philistern der Antike einen Fischgott namens Dagon gab und fragt sich, wann Dagons Geschlecht die im Großen Krieg untergehende Welt übernehmen werde, bevor er heimkehrt.

Da ertönt ein Klopfen an seiner Tür, und eine schuppige Hand zeigt sich. Der Erzähler springt aus dem Fenster seiner Mansardenwohnung.

|Mein Eindruck|

„Dagon“ ist der Prototyp zu dem viel besser erzählten „Der Ruf des Cthulhu“ und schildert die Entdeckung jenes Monster der Tiefes, das von den Großen Alten übriggeblieben ist, die einst von den Sternen kamen, um die Erde zu unterwerfen. (Zu dieser Mythologie siehe meine Berichte zu Lovecrafts Werken.) Um mehr von diesem „antiken Fischgott“ Dagon zu erfahren, lese man auch den erstklassigen Kurzroman „Der Schatten über Innsmouth“, in dem die Fischmonster Neu-England heimsuchen.

Dagon und Co. sind eine Verkörperung des Grauens, das die moderne Wissenschaft sowie der Große Krieg 1914-1918 über den Menschen gebracht hat. Seit Gott und seine Vasallen abgeschafft worden sind, starren die Sterne kalt und erbarmungslos auf uns hernieder. Schutzlos und unbehaust sind wir dem Grauen ausgesetzt. Alte grausame Götter aus uralter Zeit, so Lovecraft, wollen sich unserer bemächtigen. „Das ist nicht tot, was ewig schläft“, raunt es vielfach in seinen Erzählungen.

Bezeichnenderweise geht es immer um Verehrung an Altären, seien sie modern, klassisch oder antik und apokryph. Auf diese Weise wird sinnfällig, dass das Vakuum des abgeschafften Glaube durch Götzenkulte gefüllt werden kann, und dass diese Götzen durchaus von schaurigster, menschenfeindlichster Natur sein können. Sektentode wie in Jonestown und anderswo belegen die reale Gefahr. Moderne Götzenkulte haben kuriosere Namen als Cthulhu, so etwa „iPod“.

_7) Julian Huxley: „Der Gewebekulturen-König“ („The Tissue-Culture King“, 1927)_

Der Chronist ist ein britischer Forschungsreisender, der das Innere Afrikas erkundet. Dabei stößt er auf ein Land, in dem der König nicht nur heiliger Oberpriester ist, sondern auch an einem genetischen Experiment an seiner gesamten Bevölkerung beteiligt ist. Der erste Mensch, den er antrifft, ist ein Riese, der dem Grenzschutz des Königreiches angehört. Aber auch Zwerge gehören zur Truppe.

Nachdem unser Mann gefangen genommen worden ist und sich mit Hilfe seines Scouts verständlich gemacht hat, stößt er auf einen Schotten namens Hascombe, mit dem er endlich heimatliche Urlaute austauschen kann. Wie sich herausstellt, war der Mittfünfziger Forscher am bekannten Middlesex Hospital in London, wollte Afrika erkunden und landete dann in diesem Königreich. Hier versicherte er sich der Unterstützung eines Ministers, mit dem er einen Pakt zur gegenseitigen Unterstützung schloss.

Das Ergebnis dieses Paktes kann unser Chronist nun besichtigen. Die Riesen und Zwerge, drallen Jungfrauen und superstarken Muskelprotze stammen allesamt aus königlicher Zucht, denn Hascombe gründete mit dem Minister Bugala den Kult, dass es nur die Macht des Königs erweitern würde, wenn dessen Gewebe unter allen Untertanen verbreitet und optimiert werden würde – und dass es v.a. dem Adel gut zu Gesicht stünde, dieses Vorhaben durch Gaben von Vieh und Jungfrauen zu unterstützen.

Das erstaunlichste Ergebnis dieses Zuchtprogramms sind indes nicht die Riesen und Zwerge oder die tierischen Monstrositäten, sondern die Weiterentwicklung der Telepathie. Auf der Basis von Hypnose hat Hascombe die telepathischen Fähigkeiten von Bugalas Volk so erhöht, dass praktisch das zuvor nur theoretisch erdachte Super- oder Schwarmbewusstsein entstanden ist. Dessen Wirkung soll angeblich die „Betkraft“ des Königs zu den Göttern stärken, doch in Wahrheit dient es dazu, alle dem Willen eines Mannes zu unterwerfen – und das ist nicht der König, sondern sein Oberpriester Bugala.

Doch wie kann man einem solchen Superbewusstsein entfliehen und in die Zivilisation zurückkehren, fragt sich unser Mann vor Ort. Auch dafür hat Hascombe eine Lösung parat …

|Mein Eindruck|

Der Autor verstand etwas von seinem Thema, denn er war der Enkel von H. G. Wells‘ Mentor T. H. Huxley, der schon Charles Darwin unterstützte. (Gunns Einleitung zur Story liefert weitere erstaunliche biografische Details.) Deshalb fallen in der Beschreibung dieses Königreichs, das auf Genetik und Eugenik gesetzt hat, viele Namen von zeitgenössischen Fachleuten, aus Frankreich, England und den USA, aber auch aus Deutschland, das bis zur Emigration vieler (v.a. jüdischer) Wissenschaftler anno 1933 auf vielen Gebieten führend war.

Die Ergebnisse von Hascombes Forschung und Entwicklung mag zunächst grotesk erscheinen, doch man nur die Analogie zu Nietzsches „Übermensch“ ziehen, um auch die Gefahren darin zu erkennen. Die Nationalsozialisten zogen ihr eigenes Eugenikprogramm durch, indem sie bekanntlich Millionen „rassisch minderwertiger Personen“ ausrotteten und in den „Lebensborn“-Instituten der SS „arisch optimale“ Personen heranzüchteten – ein ganz besonders gruseliges Kapitel, das beispielsweise Wolfgang Hohlbein in seinem Mystery-Roman „Nemesis“ ausgeschlachtet hat.

Als Erzählung ist der Text nicht sonderlich ausgefeilt und wenig dramatisch, aber dafür nicht ohne amüsante Ironien, was die Vorspiegelung einer Nationalreligion auf gentischer Basis anbelangt. Aber besonders die Züchtung eines Superbewusstseins ist bis heute noch nicht gelungen und wird hoffentlich nie gelingen. Wie einst Wells so warnt auch Huxley vor der möglichen Kehrseite solcher genetischen Experimente und fragt die Wissenschaftler unter seinen Lesern: „Dr. Hascombe hat es zu unvergleichlicher Macht gebracht – wohin hat ihn all diese Macht gebracht?“ Er appelliert also an die moralische Verantwortung des Wissenschaftlers, und das ist ein positiver Anfang.

_8) David Harry Keller: „Die Revolution der Fußgänger“ („The Revolt of the Pedestrians“, 1928)_

Zwei Fußgänger sind auf dem Weg von Ohio nach Kansas, um in den unzugänglichen Ozark-Bergen Zuflucht zu suchen. Die Mutter ist nicht vorsichtig genug, als sie den Randstreifen betritt, und wird überfahren. Ihr kleiner Sohn schwört allen Automobilisten Rache, bevor er seinen Weg fortsetzt. Dem betreffenden Automobilisten ist die Sache piepegal, denn inzwischen ist es nicht nur völlig legal, Fußgänger zu überfahren, sondern sogar vom Gesetz vorgeschrieben. Befriedigt lehnt sich die Passagierin zurück und setzt ihren Weg fort. Nur das kleine Mädchen an ihrer Seite wundert sich …

Hundert Jahre später. Die Automobilisierung der Vereinigten Staaten, ja, der ganzen Welt ist unaufhaltsam fortgeschritten. Es gibt keine Fußgänger mehr (denkt man), deshalb gibt es auch keine Bürgersteige oder Parks mehr. Die Menschen sind ihre nutzlosen Beine losgeworden und erledigen alle Lebensvorgänge nur noch in ihren Autocars. Mit einer wohlverborgenen Ausnahme: Margaretta, das Töchterlein des Finanz- und Immobilien-Magnaten Heisler, will partout nicht in ein Autocar steigen, sondern besteht darauf, alles laufend zu erledigen. Ist es zu fassen!

Von allen Ratgebern, die Heisler kommen lässt, weiß nur ein alter Ahnenforscher einen guten Rat. Margaretta stammt offenbar von der Schwester des Urgroßvaters Heisler ab, die einen Miller geheiratet hat. Daher ihre Abartigkeit. Gegen ihre genetische Disposition sei nun nichts zu machen, man könne sie aber in die richtigen Bahnen lenken. Der Prof wird mit dieser Aufgabe betraut, und so lernt Margaretta als einzige Frau östlich der Ozark Mountains, mit Pfeil und Bogen zu schießen, um Wild zu erledigen.

Unterdessen ist die verborgen lebende Kolonie der letzten Fußgänger der Welt in den Ozark Mountains auf die stattliche Zahl von 200 Personen angewachsen. Abraham Miller, der Urenkel jenes seiner Mutter beraubten Jungen, sieht es an der Zeit, den Schwur der Fußgänger zu erfüllen: „Wir werden zurückkehren!“ Inkognito trifft er seinen Spion in New York City und beruft einen Kreis von Magnaten ein, darunter Heisler. Er stellt ihnen ein Ultimatum: Entweder werden Fußgänger wieder in der Gesellschaft zugelassen oder seine Leute machen alle Automobilisten mit einem Gerät bewegungsunfähig, das die Energiezufuhr unterbricht.

Als die Antwort negativ ausfällt, spricht er die entscheidenden Codeworte: „Wir werden zurückkehren“, woraufhin die Energiezufuhr zusammenbricht. Die Folgen sind noch nicht sofort bemerkbar, doch es dauert nur wenige Stunden, bis die Zivilisation der Automobilisten zusammenbricht. Die Stunde der Fußgänger ist gekommen – und die von Margaretta Heisler.

|Mein Eindruck|

Bereits 1927 sah der einfallsreiche Autor in seiner Satire voraus, wohin die totale Automobilisierung der USA führen könnte. Die Ächtung aller Fußgänger hat zwar nicht in dem Maße Gesetzesform angenommen, wie der Autor es ausmalt, aber auch heute noch ist jeder Fußgänger in einer amerikanischen Stadt automatisch verdächtig, da er nicht wie alle anderen ein Auto benutzt.

Nur in den Stadtkernen der größten Metropolen existiert ein U- und Stadtbahnsystem, das diesen Namen verdient, so etwa in Boston, Washington oder New York City. Die finanzstarke Lobby der amerikanischen Öl- und Autokonzerne hat ganze Arbeit geleistet: Straßen und Autoströme, wohin das Auto blickt. Und dann ärgert sich der Automobilist, wenn das Benzin teurer wird. (Dies ist sogar Thema von Barack Obamas Wahlkampf 2012).

Einige Annahmen des Autors sind überzogen: Die Rückbildung der Beine wird nicht binnen weniger hundert Jahre vonstatten gehen, glaube ich. Und auch die genetische Prädisposition Margetta Heislers zum Gehen erscheint mir eher an den Haaren herbeigezogen. Aber die Genetik ist als Erklärung ihrer „Abartigkeit“ so gut wie jede andere. In den 1920er und -30er Jahren glaubte man noch an die Allmacht der Gene.

Der Text ist nicht nur eine polemische Warnung vor einer Fehlentwicklung, sondern spielt auch Alternativen durch. Denn die Gesellschaft der Automobilisten ist eine sozialistische Utopie, und diese Vorstellung dürfte jedem rechts und libertär denkenden Ami die Fußnägel aufrollen! Dass diese Gesellschaft zum allgemeinen Wohl durchorganisiert ist, um funktionieren zu können (denn alles hängt am Verkehrsfluss und an der Energiezufuhr), leuchtet zwar ein, widerspricht aber fundamentalen Glaubenssätzen der Amerikaner. Listigerweise beruft sich der Autor auf die Verfassung und ihre Ausleger. Dass diese Gesellschaft zusammenbricht, dürfte die US-Leser gefreut haben.

Der Text ist keine große Kunst. Die Beschreibung versucht sich mit der Handlung die Waage zu halten, aber beides ist fein säuberlich getrennt. Robert Heinlein hätte dies ganz anders gehandhabt. Tatsächlich kommt einem sofort seine Story „The Roads Must Roll / Die Straßen müssen rollen“ aus dem Jahr 1940 in den Sinn, wenn es auch um individuelle Fortbewegung geht. Typischerweise ist es ein Ingenieur, der nach dem Rechten schaut, wenn die Rollwege zu versagen drohen.

_9) Olaf Stapledon: „Die letzten und die ersten Menschen“ („Last and First Men“, 1930)_

Der Roman skizziert die Entwicklung des Menschen über Milliarden von Jahren hinweg. In diesem 13. Kapitel hat die Menschheit den Heimatplaneten verlassen müssen, weil der Mond damit kollidiert. Mars wurde ebenso besiedelt wie die Venus. Auf der Venus gibt es einen Ozean, der Leben birgt, dennoch ist eine Terraformung nötig. Nachdem mehrere Anläufe gescheitert sind, den alten Adam unverändert beizubehalten, kommt es zur Entwicklung von Abweichungen, die besser an die Lebensbedingungen auf der Venus angepasst sind.

Dazugehören die Seehundmenschen, die sich im Meer tummeln, und die Fliegenden Menschen. Besonders Letzteren gehört die ganze Aufmerksamkeit, wenn nicht sogar Liebe des Autors, denn die Vogelmenschen beschäftigen sich nicht mit Philosophie oder zig Ismen, sondern mit Ästhetik. So ist es ihn besonders wichtig, sich im Flug, ihrem optimalen Habitat, elegant zu verhalten und hier ihre Lieder zu singen. Wenn sie sich nicht dem Rausch des Fliegens und der dort angesiedelten höheren Aktivitäten, darunter die Paarung, hingeben konnten, neigten die Flugmenschen zum Selbstmord.

Sie fanden nach hundert Millionen Jahren ihr Ende, weil ihre Zahl durch eine Abnahme eines chemischen Stoffes ab- und der Anteil der fluguntüchtigen Missgeburten zunahm. Letztere, so wurde entschieden, sollte eine biologische Abhilfe finden, indem man ihnen große Mittel für die Forschung bereitstellte. Aber die Flügellosen dachten gar nicht daran, den unverständlichen Schwingenwesen zu helfen, sondern eroberten die Macht für sich. Schließlich wurde das Fliegen mit Flügeln für illegal erklärt. Die Geflügelten rebellierten vergeblich gegen diese Verordnung und die anschließende Verfolgung. Eine Million Überlebende zog sich auf eine Inselgruppe zurück, wo ihnen allerdings kaum Nahrung zur Verfügung stand. Also forderte der Älteste alle auf, kollektiven Selbstmord zu begehen. Dieser erfolgte im Krater eines aktiven Vulkans.

Die Flügellosen entwickelten Wissenschaft, Technik und Wirtschaft auf der Venus so gut weiter, dass sie sich etliche Kriege leisten konnten. Bis sie eines Tages entdeckten, dass auch sie dem Untergang geweiht waren. Statt nämlich zu einem Weißen Zwerg zu schrumpfen, würde die Sonne schon bald mit einer Gaswolke kollidieren und zu einem Roten Riesen werden. Die einzige Überlebenschance sahen die Siebenten Menschen darin, eine neue Spezies, den Achten Menschen, zu schaffen, der auf dem Grund des Neptun zu überleben in der Lage wäre. Der dort herrschende immense Luftdruck würde jeden herkömmlichen Menschen zermalmen. Und so kam das Ende für die venusischen Zivilisationen.

|Mein Eindruck|

Er ist schuld! Olaf Stapledons erster Bestseller von anno 1930 hinterließ einen derart anhaltenden Eindruck, dass sich SF-Exponenten wie Robert Heinlein und Isaac Asimov („Foundation & Robots“) nicht nur veranlasst, sondern auch in der Lage sahen, eigene Future Histories zu entwerfen, zu schreiben und in vielfacher Form zu verkaufen (im Magazin, im Buch, im Comic usw.). Diese Goldmine beuteten sie bis zu ihrem Ableben aus, und so kam es, dass Asimov und Heinlein zu den wenigen SF-Autoren gehörten, die von ihrer Kunst bestens leben konnten. Arthur C. Clarke und James Blish bekannten, von Stapledon beeinflusst worden zu sein.

Olaf Stapledon selbst schrieb noch weitaus besser gestaltete Bücher, so etwa „Odd John“ (1935, „Die Insel der Mutanten“, siehe meinen Bericht). „Letzte und Erste Menschen“ hingegen weist kein Fitzelchen Dialog auf, keine Handlung im dramatischen Sinne und als Akteure nur die diversen menschlichen Spezies. Aber auf seine Weise war es revolutionär: Es nahm die Evolutionslehre als seine Basis und stellte den Menschen in den Kontext der kosmischen Evolution, was seine eigene Evolution beeinflussen musste. Nicht weniger als 18 verschiedene Menschenrassen folgen im Laufe von 2000 Mio. Jahren aufeinander, jede mit ihrer eigenen dominanten Philosophie, so wie die Vogelmenschen der Venus.

Dabei ist die Frage interessant, was alles fehlt. Es kommen keine Aliens vor, keine dominanten Roboter, keine Neustarts des Universums usw. Die Vielfalt der Lebensformen im Universum zu schildern, behielt sich Stapledon für „Der Sternenschöpfer“ (1937) vor. In jedem Fall wurden seine Entwürfe von minderen Magazin-Autoren als Steinbruch benutzt, genau wie schon Verne, Wells und Poe zuvor.

Ansonsten ist an diesem Buchauszug das wiederauftauchende Motiv der Fußgänger zu vermerken, die wieder mal eine Revolution anzetteln, diesmal gegen die Flugmenschen. Das finde ich schon ziemlich ironisch.

_Die Übersetzung _

Das knappe Dutzend Druckfehler vermochte mir das Lesevergnügen nicht zu vergällen, denn es gab keine Sinnentstellungen. Die Übersetzung ist insgesamt sehr professionell und hochwertig. Alle Originaltitel wurden mit deutschen Titeln ergänzt, insbesondere wenn diese Titel bei Heyne erschienen. So konnte der Verlag auf diesem Umweg Werbung für sein eigenes Programm machen.

_Unterm Strich_

Das Fazit lässt sich simpel zusammen: Der Fußgänger als solcher ist eine bedrohte Spezies! Das lässt sich zumindest aus der einen Gruppe von Geschichten des vorliegenden Auswahlbandes herauslesen. Ist der Fußgänger bei Wells noch mit nahezu Lichtgeschwindigkeit unterwegs, wird er bei Forster zu einem Freak degradiert und bei Keller für illegal erklärt. Erst bei Stapledon schlägt der Fußgänger zurück und macht den Geflügelten den Garaus – nach etwa einer Milliarde Jahren. Die Evolution braucht eben etwas länger, um für ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen.

Die andere Gruppe von Geschichten zeichnet sich durch eine Art Mythisierung des Aliens aus. Das Alien ist dabei alles Anders- und Fremdartige. In Londons Story findet der britische Forscher bei den Menschenfressern einen neuen Gott, nämlich den titelgebenden Roten. Allein ihn sehen zu WOLLEN, bedeutet den Tod. Das gleiche Bild bietet sich bei Abe Merritt.

Bei Lovecraft wird endgültig klar, dass die Aliens längst hier sind – und kurz vor ihrer Rückkehr zur Herrschaft stehen. Deshalb sind Lovecrafts beste Erzählungen dem entsprechenden Cthulhu-Mythos zuzurechnen. Wenn man sich die Medienpläne der Verlage ansieht, soll der große HPL weiterhin für mächtig Umsatz sorgen. An seinem Ansatz muss also etwas dran sein.

Natürlich gibt es wie immer Ausreißer aus der skizzierten Gruppierung. Burroughs‘ Freude am Abenteuer an exotischen Schauplätzen sorgt gerade im Kino für attraktive Bilder, und Huxley Genetiker-Story lässt sich leicht der Gruppe der Kritik an Technik und Wissenschaft zuordnen. Die Fußgänger haben wenigstens in Afrika (noch) keine Konkurrenz. Dafür sind sie zwei Meter fünfzig groß.

Dies ist der Auftakt zum zweiten Band der „Wege zur Science Fiction“. Die zweite Hälfte (Band 93) führt von Aldous Huxley zu Heinlein (siehe meinen Bericht). Somit porträtiert der zweite Gesamtband nicht die Vorläufer, sondern die eigentlichen Väter der modernen SF. Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass Gunn zentrale Autoren wie Jules Verne zu den Vorläufern zählt, Wells aber zu den Vätern. Über diese Zuordnung ließe sich trefflich streiten.

In jedem Fall bietet der vorliegende Band den Einstieg in die Anfänge der Science-Fiction als Genre sowie jede Menge anregendes Gedankenfutter. Autoren wie Burroughs, London und Merritt sorgen für die nötige Prise Abenteuer. London ist als SF-Autor unbedingt noch zu entdecken.

Taschenbuch: 351 Seiten
Originaltitel: The Road to Science Fiction 2, 1. Teil (1979)
Aus dem US-Englischen von diversen Übersetzern
ISBN-13:978-3453027589
http://www.heyne.de