Neue Menschen der freien Liebe
Der junge und künstlerisch überaus begabte Leander unterbricht sein Musikstudium in der Schweiz, weil seine Sexualität ihn nicht mehr zur Ruhe kommen läßt. Er kehrt zurück zu seiner Mutter und seiner Schwester auf die heimatliche Schärenhalbinsel. Zunächst gibt es auch hier einige Probleme, aber seine Schwierigkeiten werden immer weniger, als er Lola, Gerda, Petra und Susanne kennenlernt, vier Freundinnen, die auf der Insel ihre Ferien verbringen.
Leander erfährt nämlich, welche fortschrittlichen Ansichten diese jungen Damen vertreten. Offen wird über die Erfahrungen diskutiert, die man in der Liebe gemacht hat. Aber es bleibt nicht nur bei der grauen Theorie, die jungen Mädchen sind auch durchaus bereit, Leander in die Praxis der Liebeskunst einzuweihen. (Verlagsinfo) Der Roman wurde schon vor 1970, als die erste US-Ausgabe erschien, in Schweden verfilmt.
Der Autor
Gustav Emil Sandgren (* 20. August 1904 in Västra Stenby, Motala, Östergötland; † 11. August 1983 in Stockholm) war ein schwedischer Schriftsteller. Sandgren war Sohn von O.J. Sandgren und Karolina Adolfsson. 1935 heiratete er Titti Lindstedt. Mit seiner zweiten Frau Ria Wägner lebte er später viele Jahre auf Lidingö.
Nach der Schule arbeitete er zunächst fünf Jahre als Industriearbeiter, wurde danach jedoch hauptberuflich Schriftsteller. Er war Teil der Schriftstellergruppe Fem unga und 1929 an deren gleichnamiger Anthologie beteiligt. Fem unga (Die jungen Fünf) war eine Gruppe schwedischer Schriftsteller. Ihre Dichtung war geprägt vom Willen zur Einfachheit und der Überwindung literarischer Traditionen.
In Deutschland bekannt wurde er hauptsächlich durch seine Kinderbücher. Sandgren schrieb auch unter dem Pseudonym Gabriel Linde. (Quelle: Wikipedia.de)
Werke
• Wie der nackte Wind des Meeres (1965, dt. Übs. 1966)
• Kater Jaum auf großer Fahrt
• Ich bin ein Hase und heiße Paul
• Drei Tage in der Sonne
• Soll das wieder passieren?
• Der große Ameisenkrieg
Handlung
Nach dem Tod des Hausherrn, eines berühmten Dirigenten, ist es still geworden auf Ekenäs, dem einzigen Haus auf der Halbinsel. Übrig geblieben sind seine Witwe Aida, deren Schwester Torinna, eine Künstlerin, und Aidas Tochter Mejt, eine Pianistin. Wer fehlt, ist Leander, denn dieses Musikgenie musste in die Schweiz zu einem berühmten Lehrer, um ein vollwertiger Künstler an der Violine zu werden. Nun hat Leander per Brief seine Rückkehr für den heutigen Abend angekündigt, und die Frauen sind nervös.
Man weiß ja, was junge Männer so umtreibt, nämlich die Hormone. Und in Ermangelung einer Freundin mag Leander, inzwischen um die 20, kurz vorm Durchdrehen sein. Man muss Acht geben, was man sagt und was man an Rundungen zeigt, sind sich Aida und Torinna einig. Wer weiß, was sonst mit Leander geschehen könnte, oder mit den Frauen.
Doch Mejt ist bereit, ihrem Bruder Leander alles von ihrem jungfräulichen Körper zu geben, was er sich wünscht. Sie weiß zwar aus Büchern und Unterricht alles über Fortpflanzung und in den Schultoiletten treiben es die Teenager miteinander, aber die Praxis ist dann wohl doch etwas anderes. Sie träumt davon, mit ihm als Klaviervirtuosin Leanders neues Violinkonzert zu spielen. Niemand außer ihr dürfe es kennen, hat er ihr geschrieben. Sie fühlt sich immens geehrt.
Leander stets schwer unter hormonellem Druck. Sein vorher so kleiner und zivilisierter Penis ist zu einem wütenden, drängenden Phallus herangewachsen, der allnächtlich in spontane Ergüsse explodiert. Um wenigstens den Trieb zu sublimieren, hat er begonnen, aus Fragmenten das komplette Violinkonzert zu komponieren. Wie körperliche Liebe geht, hat er in einem Mailänder Bordell herausgefunden. Die prostituierte war sehr freundlich, geradezu mütterlich zu ihm, und er durfte zweimal kommen, einmal ohne, einmal mit Selbstkontrolle. Das hat sein Selbstvertrauen bestärkt.
Der Morgen
Leander im Bett seines Vaters in dessen Schlafzimmer. Er hat eine Erektion als seine Mutter eintritt. Als sie sich nach seinem befinden erkundigt, springt er aus dem Bett und zeigt ihr die Ursache jenes Leidens, dessentwegen ihn sein Lehrer nach Hause geschickt hat. Gleich darauf tritt Torinna ein, und die ist begeistert: der Apoll von Delos. Und ihr fallen noch weitere schmeichelhafte Vergleiche aus Kunst und Mythologie ein.
Dann tritt Mejt ein, die sich über den Lärm wundert. Auch sie ist nicht verlegen, sondern bietet ihre Hilfe an, um sein „Leiden“ zu kurieren. Petting und „Handauflegen“ seien in Ordnung, entscheidet die Mutter. Sodann zitiert sie das sexuelle Vermächtnis des Vaters: Der wetterte gegen die Verklemmtheit der Welt und ihrer Moralgebäude. Da sie wegen des Inzesttabus nicht selbst mit ihrem Bruder schlafen darf, bietet sie an, ihn mit ihrer Freundin Lola bekanntzumachen, die gerade drei Freundinnen zu Gast habe. Leander ist skeptisch, aber seines Phallus schämt er sich nicht mehr.
Neue Menschen
Leander macht im Sommersonnenschein neben Mejt liegend, Bekanntschaft mit Aino, der finnischen Haushaltshilfe. Das Mädchen, das aus Karelien stammt, bringt ihnen ein paar Brocken Finnisch bei, und sie lernen lachend. Doch als Leander merkt, dass dieses „Naturkind“, wie seine Mutter sagt, weder BH noch Höschen trägt, steigert sich sein Interesse ganz erheblich. Ihr Schoß duftet nach Heidekraut und Torf und Meer. Als Mejt dieses Interesses gewahr wird, wird sie eifersüchtig und tadelt sich dafür. Wäre es ihrem Bruder nicht zu gönnen, mit dieser Frau zu schlafen? Zumal er ihr am Nachmittag seinen geheimsten Traum anvertraut: In einem Wald aus Musik einer Frau zu begegnen, die – ups! – aussieht wie Botticellis Venus.
Am nächsten Morgen läuft er mit ihr nackt durch den Wald zum Strand. Dort nehmen sie Aino, die gerade vom Baden kommt. Sind sie die neuen Menschen, die er erschaffen möchte? Am Ende des Laufs gelingt es ihm, Aino zu überreden, sich ihm hinzugeben. Er verliert sich in ihrem Schoß, während Mejt ein klein wenig frustriert zuschauen muss. Ist sie denn nicht sein Zwilling, wie sie einander tags zuvor beteuert hatten? Wieder zurück begrüßen Aida und Torinna die neuen Menschen.
Vier Grazien
Auch der nächste Tag stellt Mejts Liebe zu Leander auf die Probe. Denn als Leander von einem Bad im Meer an Land kommt, wird er von Lola und ihren drei Freundinnen, die Mejt erwähnt hatte, empfangen: nackt vor der Videokamera. Lola ist die Regisseurin, sie wird von Petra, Gerda und Susanne begleitet. Dann fragt sie ihn, ob er sie beim Baden filmen würde. Leander, der sich mit Kameras auskennt, sagt sofort zu. Die Rückansichten der vier Grazien entzücken nicht nur die Kamera, und dann die Vorderansichten erst!
Lola kennt Leander noch von der Kinderheim her, was für Vertrautheit sorgt. Die vier Studentinnen stellen sich vor, und die Sprache kommt auf Susannes Feldstudien in moderner Sexualität für die Verdandi-Gesellschaft zu sprechen. Daraufhin sehen sich die drei Freundinnen veranlasst, wie das Liebesleben für sie anfing. Eine frühe Erfahrung hatte Petra mit ihrem Vater: Auf Geheiß der Mutter, die auf praktische Aufklärung bedacht war, sollte Petra das Glied ihres Vaters streicheln, bis es wuchs. Das war Anfangs nett, aber als Petra Formen entwickelte, entwickelte ihr Vater eine schwere Krise, infolgedessen Petra sich abgelehnt fühlte. Es brauchte eine Psychotherapie, um den Familiensegen wieder zurechtzurücken.
Lola
Lola berichtet von ihrem ersten Sex: Sie wurde von einem Jungbauern hier auf der Halbinsel vergewaltigt. Seine Schwester und ihre Mutter hatten es beschlossen, eingefädelt und Lola überlistet, damit sie das Opfer werden konnte. Für den Jungbauern lief fast alles schief, und für Lola war es auch nicht angenehm. Sie drohte, alles dem Polizeikommissar zu verraten, da wurde das Trio ziemlich unterwürfig. Seltsamerweise konnte ich sie auf dem Weg nach Hause sogar Verständnis für den Jungbauern aufbringen: Er war ja nicht verheiratet und durfte es weder mit Mutter noch Schwester tun, denn das wäre Inzest gewesen. Also verriet sie nichts. Ein halbes Jahres wurde der Hof verkauft.
Susanne
Und Susanne? Sie hat ebenfalls eine bemerkenswerte Erfahrung zu berichten. Als junge Frau fragte sie ihre Mutter Löcher in den Bauch, wie das denn alles mit dem Sex und der Fortpflanzung gehe, doch die Mutter führte eine schlechte Ehe und war zu frustriert, um Geduld aufzubringen. Deshalb bat sie ihre zwölf Jahre jüngere Schwester, bei der Aufklärung auszuhelfen. Auch die Ehe der Tante mit Gunnar sie 33, er 45 – hatte ein totes Gleis ohne Kinder erreicht, doch sie nahm sich trotzdem der Jungfrau an. Und zu beider Erstaunen regte die Tatsache, dass ihnen ein vertrauter Mensch zusah, Gunnars begehren an, dass er wieder Lust auf seine Frau bekamen. Die überglückliche Tante bat Susanne, sie weiterhin zum Baden zu begleiten. Der Versuch war erfolgreich, und wenig später stellte die Tante fest, dass sie schwanger war. Ihr eigenes erstes Mal verschweigt Susanne jedoch – vorerst.
Gerda hat bislang noch gar nichts von sich erzählt. Sie möchte nichts von den vielen groben Kerlen berichten, die sie dazu gebracht haben, ernst in Erwägung zu ziehen, nur noch Frauen zu lieben. Ein paar Tage später kümmern sich erst Susanne, dann Gerda um Leanders Liebesleben, und als sie zusammenliegen, erzählt ihm Gerda den Rest der Geschichte: Ihr letzter Lover wollte sie erwürgen, denn er meinte, ihr Hals sei viel zu schön, um sie am Leben lassen zu können. Was für ein Irrer. Es gelang ihr, Hilfe herbeizuholen und dem Würgegriff zu entkommen.
Die neuen Menschen
Bei einem Waldspaziergang im Regen begegnet er Susanne, die sich in einen Plastikumhang gehüllt hat, während er selbst mit nacktem Oberkörper den Regen dieses Sommers genießt. Es dauert nicht lange, bis er sie überredet hat, sich ganz auszuziehen und mit ihm Liebe zu machen. Es ist ganz einfach und völlig natürlich, findet auch Susanne, die Sprachstudentin, die später Lehrerin werden will. Sie und Gerda, die er wenig später zur hetero-Liebe bekehren kann, sind sich einig, dass es die Frauen sind, die den neuen Menschen hervorbringen werden. Das Leben solle eine Kette wertvoller Augenblicken, und er stimmt ihr zu, wenn er sagt, dass seine Musik helfen soll, diese Augenblicke zu intensivieren.
Hemmungen
Der Regen und der Sex haben ihn dazu inspiriert, einen weiteren Satz seines Violinkonzerts zu schreiben. Als er am Klavier sitzt und komponiert, gesellt sich sofort die süße Mejt zu ihm, um zu helfen. Nach einem philosophischen Gespräch über den Sinn des Lebens ist sie sehr traurig, denn sie fürchtet, ihren Seelenzwilling an die anderen Frauen zu verlieren. Er überzeugt sie vom Gegenteil, indem er sich zu ihr legt und sehr zärtlich zu ihr. Dass sie sich nicht überwinden kann, das Inzesttabu zu besiegen, lässt sie weiterhin betrübt bleiben.
Therapie
Er besucht Petra in der Villa von Lolas Eltern. Endlich erzählt sie ihm, wovon sie besessen ist: das ihr Vater sie entjungfert und zur Frau macht. Sie sah ihn sogar in der Gestalt jenes Jungpfarrers, der sie Konfirmandinnen ausbilden sollte. Es hilft nicht, dass ihr Vater auf der Rückfahrt von Oslo an einem Herzinfarkt verstarb, was Petra und ihre Mutter in einen emotionalen Schockzustand versetzte. Doch heute soll ihr Leander helfen, dieses Trauma zu überwinden. Sie zieht ihr weißes Konfirmandinnenkleid an und legt sich auf ihr Bett, bevor sie ihn zu sich einlädt…
Mein Eindruck
Nacheinander darf Leander sechs Frauen beglücken. Die Heilung ist beiderseitig: Er verliert seine ungezügelte Wollust, die ihn zum Sklaven seines Penis gemacht hat und dadurch seine Karriere gefährdet. Die vier Grazien Susanne, Petra, Gerda und Lola werden von ihren traumatischen Erfahrungen, die sie mit Männern ihres Altern oder mit ihrem Vater usw. erlebten, erlöst: Liebesspiel als Therapie also. Der entscheidende Faktor ist Vertrauen, und dieses vermag Leander den Frauen einzuflößen.
Naturkind
Die fünfte Frau ist Aino, das finnische Mädchen aus Karelien. Leander lernt, ihre Sprache zu verstehen und sie zu lieben. Sie erwidert seine Liebe. Doch weil am Schluss die Auswahl ziemlich groß ist und der Sommer zu Ende geht, merkt er, wie der junge Fischer Rune dringend eine Frau braucht, die ihm zur Hand geht und mit ihm eine Familie gründet. Die Idealbesetzung ist das „Naturkind“ Aino, und die merkt gleich, dass sie mit Rune eine Zukunft hat, mit dem Künstler Leander aber wohl nicht. Denn der wird bald auf seine erste Tournee gehen.
Die neuen Frauen
Die neuen Menschen, deren Utopie der freien Liebe der Autor hier schon 1965 schildert, lösen sich durch die freie, ungebundene Liebe von ihren Traumata und Ängsten. Am Ende des Sommers können sie befreit neue Berufe ergreifen, etwa Dozentin oder Entwicklungshelferin. Die Ängste usw. beruhen vor allem auf dem Thema Inzest, das zu einer Unterdrückung ihrer natürlichen sexuellen Entwicklung als Frau geführt hat. Dass es widernatürlich ist, wird laufend suggeriert, indem Sex fast immer in der freien Natur stattfindet. Möwen beobachten die Liebespaare, als wären sie das Auge eines höheren Wesens.
Das große Tabu
Zurück zum Tabu. Da ist der Vater, der die schwellenden Formen seiner Tochter begehrenswert findet, sich dafür schämt und nach spätestens eine Minute das Zimmer verlässt, sobald sie auftaucht. Er merkt diese Vermeidungsstrategie nicht einmal, er folgt ihr völlig unbewusst. Erst als er darauf angesprochen wird, wird ihm sein Verhalten bewusst und er kann es ändern, so dass sich seine Tochter nicht mehr für ihren Körper schämen muss. Viele ähnliche Beispiele folgen – es ist eine wahre Therapiesitzung, an der Sigmund seine Freud gehabt hätte.
Die Zwillinge
Werden sie miteinander schlafen oder nicht, fragt sich der Leser von Anfang, als er das Zwillings Verhältnis zwischen Leander und Mejt realisiert. Diese Frage erzeugt einen Spannungsbogen, der bis zu ihrer letzten Liebesszene aufrechterhalten wird – ein raffinierter Erzählerkniff des Autors. Natürlich werden sie, zwar nach etwas Vorarbeit, aber schließlich doch. Denn welches Vertrauen könnte größer sein als das zwischen den zwillingshaften Geschwistern? Eigenartigerweise wird durch die sexuelle Vereinigung nicht nur Mejt entjungfert, sondern auch mit einem Gefühl der Vollendung und Befreiung erfüllt: nachdem sie diese Aufgabe gemeistert hat, ist die Neunzehnjährige bereit, sich anderen Männern zuzuwenden.
Die älteren Pioniere
Von Tabubruch ist an keiner Stelle die Rede, geschweige denn von „Blutschande“. Eine Priester taucht ebenso wenig auf wie ein anderen Würdenträger, etwa ein Professor oder gar Politiker. Die Jugend macht die Lösung der erotischen Probleme völlig unter sich aus. Aber nicht ohne einen Kommentar von der älteren Generation. Während Leanders Mutter etwas konservativ eingestellt ist und kaum etwas mitbekommt, ist die ältere Künstlerin, ihre ledige Schwester Torinna, eine Pionierin der freien Liebe.
Torinna beeindruckt mit einer ultrageheimen Lebenserfahrung, die sie Leander und Mejt unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt: Sie lebte einst arm wie eine Kirchenmaus im avantgardistischen Paris der 1920er Jahre. Künstler wie Modigliani und Utrillo, die ebenfalls Grenzen der Ästhetik durchbrachen, lebten ebenso arm und rastlos. Eines Nacht bot sie sich Modigliani an und liebte ihn nicht nur drei Nächte lang, sondern saß, lag oder stand ihm wohl auch Modell. Torinnas Beispiel zeigt, dass freie Liebe keine Erfindung der 1960er Jahre ist, sondern schon etliche Male zuvor praktiziert wurde.
Und diese Pioniere waren möglicherweise die Wegbereiter der „neuen Menschen“. Es gelte sie also wiederzuentdecken. (In Deutschland wurde diese Pioniere – Kandinsky, Heckmann, Marc, Kircher und viele weitere – von den Nazis als „Entartete Kunst“ angeprangert, diffamiert und wahrscheinlich zerstört. Hier braucht sich niemand zu wundern, dass eine Linie der Tradition der Avantgarde abgeschnitten wurde.)
Druckfehler
Die Übersetzung ist zwar altväterlich, aber gerade noch verständlich.
Schon auf S. 11 schockiert ein übler Druckfehler den Leser. Die sechste Druckzeile wird am Schluss dieser Seite 11 nochmal wiederholt. Kein Wunder, denn oben in Z6 ergibt sie keinen Sinn. Doch wenn man sie streicht, bleibt eine Lücke zurück, die der Leser selbst irgendwie sinnvoll füllen muss. Z7 beginnt mit „-rig und böse geworden.“ Es handelt sich um Mejts Gedanken, und die sind im Hinblick auf das Generalthema Inzest ziemlich wichtig. Daher ist der Druckfehler doppelt schade.
S. 51: „in irdendeiner Kirche“: „irgendeiner“ wäre wohl korrekter.
S. 55: Verdandi-Gruppe: „Verdandi (auch Verdhandi oder Werdandi geschrieben, von altnordisch Verðandi) ist neben Urd und Skuld eine der drei namentlich genannten Nornen, einer Art Schicksalsgöttinnen in der nordischen Mythologie. Sie repräsentiert in dieser Dreiheit die Gegenwart, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Verdandi lässt sich als „das Werdende“ oder „das Geschehende“ (im Neutrum Plural; Form nicht eindeutig) übersetzen. Verðandi ist auch der Titel einer isländischen Zeitschrift mit Gedichten und Erzählungen des Realismus, die nur in einer Ausgabe 1882 in Kopenhagen erschien. (Wikipedia)
S. 115: „lange Feuerrä[n]der“: Das N ist m.E. überflüssig.
S. 116: „Man kann einen Mann mit Sex buchstäblich durch eine Wand ziehen.“ Eine schwedische Redensart?
Unterm Strich
Bis auf das abschreckende Beispiel der verhunzten Seite 11 ist das Buch sehr leicht zu lesen. Man kann die rund 200 Seiten locker an einem verregneten Sonntagnachmittag schaffen. Das wäre allerdings eine Verschwendung, denn die Szenen sind es wert, jeweils einzeln genossen zu werden. Es ist ja auch eine Entwicklung in Leander und Mejt auszumachen, und die will genau beobachtet werden. Am Schluss werden alle losen Fäden zu einem befriedigenden Ende zusammengeführt.
Es wäre ein Glücksfall, wenn der Leser die gleiche befreiende Erfahrung wie die Liebenden in diesem Buch machen würde. Das galt wohl nicht nur 1965 so, sondern auch heute, in einer Zeit, in der Sex total kommerzialisiert und überall und jederzeit konsumierbar geworden ist. Dass beim Konsum keinerlei Vertrauen aufgebaut, sondern vielmehr zerstört wird, erkennen die Konsumenten vielfach erst zu spät. Sie wundern sich dann, dass ihnen freie Liebe unmöglich geworden ist. Ja, sie können sich dieses Verhalten nicht einmal vorstellen.
Sandgrens Roman, der inzwischen zahlreiche Auflagen und Ausgaben erlebt hat, hat Bestand, weil er subtil aufzeigt, wie sich vertrauensvolle Liebe erfahren lässt – auch wenn Mejt als Drahtzieherin agiert – und wie sich das große Tabu des Inzests, das so viele Beziehung zerstört, überwinden lässt. Im Finale zwischen Leander und Mejt lieben sie einander, nur um anschließend festzustellen, dass sie nicht nur erfüllter, sondern auch befreiter in die Welt schauen können. Die Natur, eine gottähnliche Instanz, die schon im Buchtitel angerufen wird, gibt dazu ihren Segen. Ein sehr schönes Buch, nicht nur für Erwachsene.
Die erste und einzige genehmigte Übersetzung ins Deutsche aus dem Jahr 1966 ist zwar altväterlich, aber gerade noch verständlich. Für die Druckfehler gibt es Punktabzug, sonst würde ich die volle Punktzahl vergeben. Die Druckfarbe des Einbands löst sich bei manchen alten Heyne-Ausgaben ab, was zu hässlichen weißen Flecken auf dem Einband führt.
Taschenbuch: 208 Seiten.
O-Titel: …som havets nackna vind, 1965.
Aus dem Schwedischen von Dieter Homblad.
ISBN-13: 9783453501188
Der Autor vergibt: