H. G. Wells – Die Insel des Dr. Moreau (Gruselkabinett 122)

Frankensteins Schöpfungen laufen Amok

Im Jahr 1887 wird der schiffbrüchige Engländer Edward Prendick von einem Schiff aufgenommen, das einen gewissen Montgomery mit seinem grotesken Diener M’ling und eine Ladung verschiedener Tiere auf die geheimnisvolle Insel von Dr. Moreau bringen soll. Moreau ist für Edward Prendick beileibe kein Unbekannter, immerhin hat auch er einen wissenschaftlichen Hintergrund… (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt sein Hörspiel ab 14 Jahren.

Der Autor

Herbert George Wells (1866-1946) beeinflusste die Entwicklung der Science Fiction wie neben ihm nur noch Jules Verne. Seitdem er die Lehren von T.H. Huxley, einem eifrigen Verfechter von Charles Darwins Evolutionstheorie gehört hatte, verfolgte er diese Theorien weiter. Weil ihm die Lehrerlaufbahn wegen angegriffener Gesundheit verwehrt blieb, wandte er sich dem Schreiben zu, um Geld zu verdienen.

Schon die ersten Erzählungen wie „The Chronic Argonauts“, die 1888 erschien, erregten Aufsehen. Daraus formte er dann den Roman „The Time Machine“, das 1895 erschien. Joseph Conrad und Henry James, die besten Autoren ihrer Zeit, hießen ihn in ihren Reihen willkommen.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher und ihre Rollen:

Matthias Lühn: Neffe
Louis Friedemann Thiele: Edward Prendick
Detlef Bierstedt: Helmar
Michael-Che Koch: Koch
Rolf Berg: Montgomery
Horst Naumann: Kpt. Davis
Simon Böer: Matrose
Claus Thull-Emden: M’ling
Lutz Riedel: Dr. Moreau
Marc Gruppe: Puma
Rainer Gerlach: Affenmensch
Hans Bayer: Verkünder des Gesetzes
Bodo Primus: Hundemensch
Joh. Bade, Marcel Barion, Kai Naumann: Tiermenschen

Regie führten die Produzenten Marc Gruppe und Stephan Bosenius. Die Aufnahmen fanden bei Titania Medien Studio und den Planet Earth Studios statt. Die Illustration trug Ertugrul Edirne bei.

Handlung

Am 1. Februar 1887 sinkt die „Lady Vain“ im Laufe einer Kollision, und es gibt nur einen Überlebenden, den Onkel unseres Chronisten. Sein Name: Edward Prendick. Erst nach dem Tod von Onkel Edward findet sein Erbe zurückgehaltene Aufzeichnungen. Demnach hat sich der Untergang etwas anders zugetragen als offiziell verlautbart. Typisch Fake News…

Beinahe Kannibalen

Edward Prendick ist einer von drei Überlebenden des Untergangs der „Lady Vain“. Im Rettungsboot sitzen noch der Passagier Helmar und ein Matrose. Wegen Nebels ist die Navigation in dieser Gegend des Südpazifiks schwierig. Nach acht Tagen gehen Proviant und Wasser aus. Helmar ist bereit, einen der anderen zu essen, und deshalb sollen sie Lose ziehen. Wer den Kürzeren zieht, muss sich opfern. Es ist der Matrose. Doch im Kampf ums Leben gehen beide über Bord, Prendick bleibt zurück, doch er ist bereits am Rande des Todes, als ihn endlich ein Schiff entdeckt.

Unwillkommen

Doch der chilenische Schoner „Ipicacuana“ unter Kapitän Davis birgt ein Geheimnis, das Prendick nicht sofort begreift. Ein Mr. Montgomery bringt angeblich Tiere auf die Insel eines gewissen Dr. Moreau, doch wie es scheint, sind auch einige Mitglieder der Crew von Kpt. Davis nicht ganz menschlich. Weil diese Tiermenschen sich über den Fremden so aufregen, sieht sich Davis gezwungen, Prendick mit Montgomery und dessen Diener M’ling auf der Insel von Dr. Moreau auszusetzen.

Die Insel

Dr. Moreau erteilt widerwillig seine Erlaubnis, dass Edward an Land gehen darf. Aber da die Insel ein biologisches Forschungslabor sei, warnt er den studierten Biologen Prendick davor, dass man aufpassen müsse. Wovor, fragt Edward. Nun, vor den Dienern, den Versuchswesen, allem Möglichen. Sämtliche Türen innerhalb der Forschungsstation seien verschlossen zu halten. Edward können sich gleich mal nützlich machen, indem er die mitgebrachten Karnickel aussetze.

Experimente

Kaum hat Edward Montgomerys Zimmer bezogen, erinnert er sich in einer Verschnaufpause an die Zeitungsartikel über die Vivisektionen, für die Moreau berüchtigt wurde und die letztendlich zu dessen Vertreibung aus der Wissenschaftsgemeinde führten. Später erklärt ihm Moreau, es handle sich um die Umgestaltung von Tieren in Menschen, indem Gliedmaßen, Kehlköpfe und Gehirne verpflanzt werden. So zieht sich Moreau seine eigenen Sklaven heran.

Edward hat wenig Lust, ein Sklave zu werden. Außerdem nerven ihn die klagenden Schreie, die der operierte Puma ständig ausstößt. Montgomery, Moreaus Assistent, betäubt seine Nerven mit Whisky, doch Edward ist Abstinenzler. Er geht lieber in den Dschungel. Durch eine tiefe, abgelegene Schlucht gelangt er in das Lager der Tiermenschen.

Gesetze des Schöpfers

Damit er hierbleiben darf, muss er geloben, die Gesetze des Schöpfers einzuhalten. Der Verkünder der Gesetze betet sie in einer Litanei herunter, und die Tiermenschen antworten im Chor: „Sind wir denn nicht Menschen?“ Eines der strengsten Gesetze betrifft das Meiden von Blut und Fleisch. Schrecklich seien die Strafen, die der Schöpfer, der im „Haus der Schmerzen“ wohne, über die Frevler verhängen werde.

Unheil

Moreau und Montgomery holen Edward wieder zurück. Wenn er, wie er behauptet, „alles unter Kontrolle“ hat, warum hat sich Moreau dann mit einem Revolver bewaffnet? Edward sagt eine Katastrophe voraus: Die Emotionen der „Monster“, wie er sie nennt, würden immer unkontrollierbar bleiben. Als sie auf ein frisch gerissenes Kaninchen stoßen, weiß er, dass das wichtigste Gesetz gebrochen worden ist…

Mein Eindruck

Die ersten Romane von H.G. Wells waren allesamt indirekte Kommentare auf die viktorianische, imperialistische Gesellschaft des Fin de siècle. In „Die Zeitmaschine“ von 1895 entwarf er eine zukünftige (?) Gesellschaft, die sich in aggressive, arbeitende Untermenschen und eine elitäre, nicht arbeitende Oberschicht gespalten hat – die Morlocks jedoch mästen die Eloi lediglich, um sie als Schlachtvieh zu verspeisen.

In „Der Krieg der Welten (1898) hält er den Imperialisten den Spiegel vor: Die Invasoren von Mars sind nichts anderes als jene glorifizierten Eroberer aus Britannien, die in Afrika, China und Indien die einheimische Bevölkerung unterwerfen, unterjochen und ausbeuten. Nun sind es die edlen Briten in den Home Countys des Südens, die als erste zum Opfer des Hitzestrahls werden – bevor die Marsflora ihnen den Rest gibt.

In „Die Insel des Dr. Moreau“ stellen die Tiermenschen ebenfalls die unterworfenen Völkerschaften des British Empire dar. In seiner britischen Hybris hat Dr. Moreau sich selbst zum Schöpfer einer neuen Menschenrasse bestimmt, und diese besteht aus emporgehobenen Tieren. Sie sollen ihn gemäß den Gesetzestafeln des Verkünders als Schöpfer anerkennen und seinen Gesetzen folgen.

Genauso machten es in aller Welt, etwa in den Vereinigten Staaten oder Australien, die britischen Missionare – mit verheerenden Folgen für die Kulturen, die sie vorfanden. In Mattiolis feiner Studie „Verlorene Welten“ über den Untergang der nordamerikanischen Eingeborenen wird klipp und klar beschrieben, mit welchen fiesen Methoden die Umerzieher vorgingen. Dass sich entwurzelte Schulmädchen aus dem Schulhaus in den Freitod stürzten, war keine Seltenheit.

Indes: Man kann zwar einen Menschen in einen Puma stecken, aber niemals den Puma aus dem Tiermenschen entfernen. Der „Sündenfall“ ist vorbestimmt und unausweichlich. Das hätte eigentlich auch Moreau klar sein müssen, doch Prendick warnt ihn vergeblich. In dieser Hinsicht taucht ein Widerspruch auf: Wozu importiert Moreau Kaninchen auf seine Insel, wenn sie nicht zum Fressen da sind und ihr Verzehr verboten ist? Er könnte sich rechtfertigen, die kleinen Hoppler seien ja für seinen eigenen Kochtopf bestimmt, aber das würde nur seine Doppelmoral zeigen: Was seinen Kreaturen verboten ist, ist für ihn gerade gut genug.

Das Ende vom Lied ist die komplette Vernichtung der Inselbevölkerung, aus den verschiedensten Gründen: Selbstverteidigung, Barmherzigkeit, Hass, Furcht. Der Traum von einer neuen Welt, in der Frankensteins das Sagen haben und die Kreaturen ohne Murren gehorchen, ist ausgeträumt. Es ist eine Prophezeiung für das Schicksal des Menschen der Neuzeit, und der Autor legt es darauf, eine tiefe emotionale Wirkung zu erzielen, um seine Warnung im Gedächtnis des Hörers zu verankern.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher

Louis Friedemann Thiele stellt als Edward Prendick den wissenschaftlich beschlagenen neutralen Beobachter dar, der aber dennoch eine Meinung hat und sich ein Urteil bildet. Rolf Berg spielt als Montgomery den versoffenen und unachtsamen Assistenten, ähnlich wie Igor in Frankensteins Labor. Lutz Riedel spricht in der Rolle des Dr. Moreau die wichtigste Rolle in diesem Trio. Seine tiefe, kräftige Stimme vermitteln Autorität, aber auch Hochmut – dieser kommt bekanntlich vor dem Fall. Moreau ähnelt in seiner Hybris der Figur des Viktor Frankenstein, der sich über die Gesetze der Natur und der Kirche hinwegsetzt, um seine eigenen zu verkünden – mit fatalen Resultaten.

In den Nebenrollen sind hervorzuheben: Detlef Bierstedt, der Sprecher des Dr. John Watson in den SHERLOCK-HOLMES-Hörspielen, in der Rolle des Passagiers und Beinahe-Kannibalen Helmar; Marc Gruppe, der Skriptautor und Regisseur, in der Rolle des Puma, der von Moreau unter großen Leiden operiert wird. Naja, Gruppe muss hier vor allem modulierte Schreie von sich geben – ebenso wie übrigens die Sprecher der zahlreichen „Tiermenschen“. Unter diesen ist definitiv Hans Bayer als Verkünder des Gesetzes am besten zu verstehen.

Die Geräusche

Die Geräuschkulisse ist hier längst nicht so wichtig wie in „Der Unsichtbare“. Wellen plätschern und rauschen, Möwen schreien, Türen knarren, Zikaden sirren in der tropischen Nacht. Das ist das Übliche. Wichtiger sind da schon der Hornruf des Verkünders, die Schüsse im Finale und schließlich das zunehmende Tiergebrüll.

Die Musik

Der Einsatz von Musik ist auf ein Minimum reduziert. Das Intro führt den Hörer in eine phantastische Geschichte ein, in der die Stimmung zwischen Anspannung, Schrecken und Entspannung wechselt. Vor dem letzten Akt erklingt ein Intermezzo mit langsamer Musik, das auf das Grauen vorbereitet, das der nächste Tag bringen wird: Moreau ist getötet worden. Der Tag endet mit entspannten, aber traurigen Kadenzen. Das ist aber noch nicht das Ende des Blutbads. Erst ganz am Schluss, als Prendick die Insel des Schreckens verlassen hat und von einem Schiff aufgefischt wird, erklingen entspannte Rhythmen, doch das Outro weist melancholische Untertöne auf.

Das Booklet

Im Booklet sind die Titel des GRUSELKABINETTS sowie die Titel der SHERLOCK-HOLMES-Hörspiele verzeichnet. Die letzte Seite zählt sämtliche Mitwirkenden auf.

Im Booklet finden sich Verweise auf die im Sommer und Herbst 2017 kommenden Hörspiele aufgeführt:

Nr. 120 + 121: Der Unsichtbare 1+2 (H.G. Wells)
Nr. 122: Die Insel des Dr. Moreau (H.G. Wells)
Nr. 123: Die Zeitmaschine (H.G. Wells)
Nr. 124 + 125: Der Krieg der Welten 1+2 (H.G. Wells)

Ab Herbst 2017

Nr. 126: Lovecraft: Kalte Luft
Nr. 127: Poe: Der Fall Valdemar
Nr. 128: Dickens: Der Streckenwärter
Nr. 129: Ulrichs: Manor
Nr. 130: Carolyn Wells: Der Wiedergänger
Nr. 131: Flagg: Die Köpfe von Apex

Unterm Strich

Ich muss zugeben, dass ich die Quellenlage am Anfang des Hörspiels etwas verwirrend fand. Aber vielleicht waren diese Fake News ja auch beabsichtigt? Letzten Endes bietet der Neffe von Edward Prendick der Nachwelt einen unterdrückten Text an: die Chronik eines bestraften Frevels. Es ist eine warnende Geschichte, die sich an die Zeitgenossen des Autors richtet. Die Umerziehung der eingeborenen Völker ist nicht nur an sich moralisch fragwürdig, sondern zudem ein Verbrechen, wenn ihre totale Umerziehung und Umgestaltung à la Frankenstein zum Programm der Eroberer gehört.

Die Gesellschaft, die Moreau, dieser Sekundärschöpfer, auf seiner Insel errichtet hat, ist in sich widersprüchlich, und der Besucher Prendick wundert sich, warum sie nicht schon längst in einer Implosion der Gewalt zusammengebrochen ist. Nun, wer die Waffen als Monopol besitzt, der hat auch das Sagen und kann Aufmüpfige in Schach halten, indem er Verbrecher bzw. „Sünder“ hinrichtet. Aber wer in Montgomery einen verkommenen Säufer als Oberaufseher beschäftigt, braucht sich nicht zu wundern, wenn bald alles aus dem Ruder läuft.

Das Hörspiel

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen.

Besonders in der zweiten Hälfte kommt es zu Actionszenen, die allerdings nicht Selbstzweck sind, sondern eher am Rande erwähnt werden. Für so manchen Hörer mag das Hörspiel abrupt enden, aber wer genauer hinhört, bemerkt, dass Prendick Wochen verbringt, um eine Art Belagerungszustand auszuhalten, bevor ihm die Flucht gelingt.

Besonders gut gefiel mir die sehr sorgfältig ausgearbeitete Geräuschkulisse, die so realistisch wie möglich ist, um das zunehmend unheimliche Geschehen auf den Wellen und im Dschungel darzustellen. Man erwartet, dass die Insel, umringt vom zerstörerischen Ozean, ein Refugium wäre, aber das Gegenteil ist der Fall: Hier gilt das Gesetz des Dschungels, nicht das des Sekundärgottes Moreau.

Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für spannende Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert, und die Stimmen der Hollywoodstars George Clooney (Bierstedt) und Timothy Dalton (Riedel) vermitteln das richtige Kino-Feeling. Schade fand ich lediglich, dass es in dieser Inszenierung (wie schon in der Vorlage) keinerlei Frauenfiguren gibt. Eine Catwoman auf Moreaus Insel – das hätte ordentlich für Abwechslung gesorgt.

Hinweis

Brian W. Aldiss, ein britischer SF-Autor, hat ein Remake geschrieben, das er unter dem Titel „Moreau’s Other Land“ 1980 veröffentlichte. Das erinnert so manchen Filmfreund daran, dass auch von „Jurassic Park“ andere Inseln wie etwa Isla Sorna existieren, auf denen experimentiert wird. Der fünfte Film der JURASSIC-Reihe ist bereits in Vorbereitung.

Audio-CD: ca. 78 Min.
Info: The Island of Dr. Moreau, 1896
www.titania-medien.de

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