H.P. Lovecraft – Herbert West, der Wieder-Erwecker (Gruselkabinett Folge 150)

Die Rache der Untoten

Arkham 1904: Zwei Studenten der medizinischen Fakultät der Miskatonic University wagen sich trotz eines ausdrücklichen Verbotes an höchst umstrittene Forschungsarbeiten: Sie wollen mit einer Injektion chemischer Flüssigkeiten kürzlich Verstorbene ins Leben zurückholen. Doch die Toten zeigen eine ganz unerwartete Reaktion auf ihre Wiedererweckung… (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt das Hörbuch ab 14 Jahren.

Der Autor

Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) wird allgemein als Vater der modernen Horrorliteratur angesehen. Obwohl er nur etwa 55 Erzählungen schrieb, hat sein zentraler Mythos um die Großen Alten, eine außerirdische Rasse bösartiger Götter, weltweit viele Nachahmer und Fans gefunden, und zwar nicht nur auf Lovecrafts testamentarisch verfügten Wunsch hin.

Aber Lovecrafts Grauen reicht weit über die Vorstellung von Hölle hinaus: Das Universum selbst ist eine Hölle, die den Menschen, dessen Gott schon lange tot ist, zu verschlingen droht. Auch keine Liebe rettet ihn, denn Frauen kommen in Lovecrafts Geschichten praktisch nur in ihrer biologischen Funktion vor, nicht aber als liebespendende Wesen oder gar als Akteure. Daher ist der (männliche) Mensch völlig schutzlos dem Hass der Großen Alten ausgeliefert, die ihre Welt, die sie einst besaßen, wiederhaben wollen.

Das versteht Lovecraft unter „kosmischem Grauen“. Die Welt ist kein gemütlicher Ort – und Einsteins Relativitätstheorie hat sie mit in diesen Zustand versetzt: Newtons Gott ist tot, die Evolution eine blinde Macht, und Erde und Sonne nur Staubkörnchen in einem schwarzen Ozean aus Unendlichkeit. Auf Einstein verweist HPL ausdrücklich in seinem Kurzroman „Der Flüsterer im Dunkeln“.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Rollen und ihre Sprecher:

Clyde Simcox: Martin May
Herbert West: Patrick Bach
Allan Halsey: Horst Naumann
Vermieterin: Martina Linn-Naumann
Officer: Rolf Berg
Friedhofswärter: Marc Gruppe
Italienerin: Claudia Urbschat-Mingues
Italiener: Rainer Gerlach:
Robert Leavitt: Peter Weis
Major: Rainer Gerlach
Wärter: Bodo Primus
Detektiv: Sascha von Zambelly
Inspektor: Matthias Lühn

Die Macher

Regie führten die Produzenten Marc Gruppe und Stephan Bosenius. Die Aufnahmen fanden bei Titania Medien Studio, bei Advertunes und in den Planet Earth Studios statt. Die Illustration trug Ertugrul Edirne bei.

Handlung

Clyde Simcox berichtet von den beunruhigenden Experimenten seines Freundes Herbert West an der Miskatonic University zu Arkham, Massachusetts, die 1904 begannen und sich über 17 Jahre erstrecken. West strebt die Wiedererweckung von Toten an. Wieder einmal steht er vor dem Dekan Dr. Halsey, um Geld für die Beschaffung von Versuchstieren zu erbitten, doch wieder einmal zögert Halsey angesichts der fortdauernden Misserfolge, die Bewilligung zu erteilen. Als West auch noch einen menschlichen Leichnam anfordert, reagiert der Dekan empört und verbietet West jegliche Versuche, bei Strafe der Exmatrikulation. Der denkt jedoch nicht daran, das Verbot einzuhalten.

Simcox, der ihm keinen Wunsch abschlagen kann, bietet ihm ein einsam an einem Friedhof gelegenes Haus an, um die Experimente weiterzuführen. Sie holen sich eine frische Leiche, die dicht an der Friedhofsmauer bestattet wurde, schaffen sie ins Haus und legen sie auf den OP-Tisch. „Bitte das grüne Elixier!“, sagt West zu Simcox. Während sie auf die Wirkung warten, schwindet die Hoffnung. Sie denken bereits ans lästige Entsorgen, als ein Brüllen ertönt, das sie in Panik versetzt. Es ist der Tote! Die Leiche schlägt um sich und wirft eine Laterne um. Der Öl entzündet wiederum andere Stoffe, und im Nu ist das Labor ein Flammenmeer. Sie flüchten, den Untoten als Opfer der Flammen zurücklassend.

Tja, der erste Versuch ging wohl gründlich in die Hose, seufzt Simcox, der Pessimist. Doch in der Zeitung steht etwas anderes: Nicht die Leiche verbrannte, sondern „nur“ das Haus! Der Untote spaziert jetzt munter über die Straßen von Land und Stadt. Er ist nirgendwo aufzufinden. Als Wochen später eine Typhusepidemie wütet, fallen ihr viele Leute zum Opfer. Selbst jetzt stellt sich Dekan Halsey stur. Doch West hat schon eine Leiche besorgt: Sie liegt in der Besenkammer. Das Verabreichen des geänderten Elixiers bewirkt jedoch nur eine Hauchen und Ächzen. Ab in den Ofen damit.

Am 14. August verstirbt Halsey, doch von Totenruhe kann bei ihm keine Rede sein: Er fällt West in die Hände. Er verpasst ihm das Elixier, das ihn wieder munter macht, und zwar so sehr, dass er aus dem Fenster der Mietwohnung springt und entflieht. Später findet man den Nachtwächter des Friedhofs in Stücke gerissen vor. Wurde er von einem Raubtier angegriffen, fragen die Reporter, doch der Zirkusdirektor beteuert, seine Tiere seien unschuldig. Erstmals fragen sich West und Simcox, ob die erweckten Toten vielleicht in ihre Gräber zurückwollen…

Mein Eindruck

Die erweckten Toten kümmern die Lebenden nicht. Diese werden reihenweise zerfetzt, um sie aus dem Weg zu räumen. Dekan Halsey wird niedergeschossen und in die Irrenanstalt von Sefton gesteckt. Wie sich später herausstellen wird, ist er dort alles andere als sicher verwahrt. Die Toten erweisen sich auch als Feinde der Lebenden: Sie betrachten sie als Nahrungsquelle, so etwa das Kind der Italienerin.

West und Simcox gelangen in den Reihen der kanadischen Armee 1915, also zwei Jahre vor den Amerikanern, nach Flandern, und was finden sie: Unmengen von wehrlosen Leichen. Major Clapham-Lee ist beeindruckt von Wests Fähigkeiten als Chirurg und genehmigt ihm ein Geheimlabor „zur Reptilienzucht“. Denn bekanntlich wachsen Reptilien abgetrennte Schwänze nach. Kaum ist der Major abgeschossen worden, landet er in Wests Labor…

Doch die Toten rächen sich an West für das, was er ihnen angetan hat. Auf welche Weise, darf hier nicht verraten werden. Aber die Ironie ist unübersehbar. Hätte er bloß die Toten in ihren Gräbern bleiben lassen.

Steigerung

In den ersten zwei Dritteln macht sich eine zunehmende Steigerung des sozialen Status‘ des jeweiligen Versuchsexemplars bemerkbar. Von einem simplen Niemand führt die Reihe zu einem Handelsreisenden, dann einem Boxer, bis sie schließlich Dekan Halsey erreicht. Das ist schon ein respektabler Mann, und sein Zivilisten-Niveau lässt sich nur auf der militärischen Ebene übertreffen: durch Major Clapham-Lee. Diese Reihenfolge sollte der Hörer nicht nur bemerken, sondern auch im Auge behalten: Der Rachefeldzug der untoten Opfer Wests wird vom Major angeführt, selbst wenn man erwarten sollte, dass er ohne seinen Kopf hilflos wäre. Dem ist keineswegs so.

Fortschritt

West ist Forscher, wenn auch auf verbotenem Gebiet, und folglich bemüht er sich, seine Methoden ständig weiterzuentwickeln. Am Anfang steht ein simples „grünes Elixier“ – siehe die Titelillustration. Doch schon beim Handlungsreisenden Mr. Leavitt, nur etwa zehn Jahre später, steht ihm eine neue Einbalsamierungssalbe zur Verfügung, die wahre Wunder wirkt: eine Umkehr des Sterbeprozesses. Sie wirkt selbst noch nach zwei Wochen: Mr. Leavitt tobt protestierend gegen diese Behandlung – und vermutlich gegen seinen Raub aus dem Grab.

Den Gipfel der Entwicklung bildet indes der Einsatz einer Art Gentherapie. Sie erfolgt auf den Schlachtfeldern von Flandern in Wests Geheimlabor. Hier wirft er beispielsweise den abgetrennten Kopf des Majors in ein Becken mit Reptiliengewebe. Das Wunder geschieht: Der Kopf bleibt erhalten, der Hals wächst wieder an den Torso, das Elixier erledigt den Rest: Der Major erwacht von den Toten. Zu blöd, dass ausgerechnet jetzt, im Moment des Triumphes, die feindlichen Granaten im Labor einschlagen…

Faust-Satire

Herbert West ist ein faustischer Wissenschaftler, der weder Verbote beachtet noch einen inneren Moralkodex besitzt. Er ist eine satirische Übertreibung des verrückten Wissenschaftlers plus skrupellosen Arztes (auch Dr. Jekyll ist Arzt). Sein Gewissen wird vielmehr von Clyde Simcox verkörpert, doch der unterwirft sich Mal um Mal dem Willen und der Wut des Forschers. Da es um Medizin (im weitesten Sinne) geht, wandelt West auf den Spuren von Dr. Viktor Frankenstein unseligen Angedenkens. Dieser lernte in Ingolstadt, wie man Menschen aus Leichenteilen zusammenflickt und per Elektrizität zum Leben erweckt – jeder hat die Bilder der ersten Verfilmung von anno 1933 oder so im Kopf.

Der entscheidende Unterschied zwischen jenen von Frankenstein Wiederweckten und den von West Reanimierten ist die Reaktion der Untoten. Sind bei Frankenstein die Wiedererweckten entweder kriminell wie in ihrem Vorleben oder unschuldig, weil ohne Moralbegriff, so entarten die Reanimierten bei West zu wütenden Monstern, die vor Kannibalismus nicht zurückschrecken. Sie ähneln eher wütenden Bestien, die über die lebenden herfallen, um ihren Hunger zu stillen. Darin ähneln sie den ghoulischen Leichenfressern in Lovecrafts Erzählung „Pickmans Modell“.

Weil sie so sehr Tieren ähneln, werden sie von West sträflich unterschätzt. Der Hörer sollte nicht den gleichen Fehler begehen. Er mag ja solche Ungeheuer ablehnen, weil sie die dunkelste Seite in einem pervertierten Mediziner verkörpern. Aber das hindert sie keineswegs daran, einen eigenen Willen zu entwickeln und ihre Rache auf schlau ausgeklügelte Weise zu verfolgen und erlangen. West wird sich am Ende wünschen, er hätte nie mit seinem Elixier herumgespielt.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher

Das Hörspiel wird hauptsächlich von einem dynamischen Duo bestritten, nämlich West und Simcox. Sie erinnern ganz entfernt an Sherlock Holmes, den willensstarken Intellektuellen, und an seinen Freund Dr. John H. Watson, den Gemütsmenschen, der Holmes allzu häufig nachgibt und dessen Aufträge ausführt.

Die beiden Sprecher Martin May, der Simcox spricht Patrick Back, der est darstellt, sind auf der Rückseite des Einlegers abgebildet. Rein physiognomisch würde man annehmen, dass sich die Rollenverteilung andersherum verhält. Aber Johann Lavater, der Erfinder der Physiognomie im 18. Jahrhundert, lag ja auch die meiste Zeit daneben. Bach spricht West meist als wütenden, frustrierten, wenn auch genialischen Gefühlsmenschen, Simcox hingegen als vernünftigen, ja, sogar verschlagenen Intellektuellen.

Bestes Beispiel für letzte Einschätzung ist das abschließende Verhör auf der Polizeiwache. Simcox lügt, dass sich die Balken biegen. Das entspricht seiner grundlegenden Einstellung, Ärger aus dem Weg zu gehen. Er ist ein Opportunist, während West öfters mit dem Kopf durch die Wand will, so etwa bei Dekan Halsey. In dem Major stößt West erstmals (und letztmalig) auf einen ebenbürtigen Gegner.

Alle anderen Figuren verblassen neben diesem zentralen Duo, doch das heißt nicht, dass sie nicht ebenso glaubwürdig dargestellt werden müssten wie die Hauptfiguren. Alle anderen Sprecher entledigen sich dieser Aufgabe ehrenhaft.

Geräusche

Eine große Vielfalt von Geräuschen verwöhnt das Ohr des Zuhörers. Der Eindruck einer real erlebten Szene entsteht in der Regel immer. Oftmals ist das Knarren von Särgen, das Läten von Glocken, dasKnistern eines Kaminfeuer und das Seufzen von Wind zu hören. All diese Samples setzt die Tonregie zur Genüge ein, um einer Szene eine Fülle von realistisch klingenden Geräuschen zu vermitteln. Nachdem schon einige Gläasser zerbrochen und ein Haus knisternd abgebrannt ist, schlagen in der Kriegsszene heulend die Granaten ein.

Die Musik

Von einem Score im klassischen Sinn kann keine Rede mehr sein. Hintergrundmusik dient vor allem dazu, eine entspannte, düstere oder angespannte Stimmung zu erzeugen, und zwar nur dort, wo sie gebraucht wird. In diesem Hörspiel steigert sich die Spannung sehr dezent von Szene zu Szene, je nachdem,welchen Rang das jüngste Opfer einnimmt (s.o.). Die Verschnaufpausen sind dünn gesät, dafür schlagen alsbald Celli und Piano sehr tiefe Töne an. Je mehr sich die Handlung dem grausigen Finale nähert, desto angespannter wird die Musik. Im Outro löst sich die Spannung wieder, doch die Stimmung bleibt düster.

Das Booklet

Das Titelmotiv zeigt die Szene, in der die Titelfigur die Spezialmixtur in eine Injektionsspritze füllt, um sie der im Hintergrund liegenden Leiche zu injizieren. Dort wartet schon sein ängstlicher Komplize Simcox.

Im Booklet sind die zahlreichen Titel des GRUSELKABINETTS bis Frühjahr 2020 verzeichnet. Die letzte Seite zählt sämtliche Mitwirkenden auf.

Ab Frühjahr 2020

156: O. Preußler: Krabat
157: Bierce: Das Auge des Panthers
158: A. Machen: Das innerste Licht
159: Hauff: Das kalte Herz
160: F.M. Crawford: Denn das Blut ist das Leben
161: McGraup: Heimflug

Ab Herbst 2020

162: Lovecraft: Das gemiedene Haus
163: H. H. Ewers: Der letzte Wille der Stanislawa d’Asp
164: Robert E. Howard: Die Toten vergeben nichts
165: E. Gaskell: Das alte Kindermädchen erzählt
166: Bisclavret
167: E. und H. Heron: Flaxman Low – Der Fall Hammersmith

Unterm Strich

Zunächst ist dem Hörer unklar, wohin die Handlung strebt, denn eine Episode von Experimenten folgt auf die nächste. Es ist, als würde der Autor die Machenschaften des verrückten, amoralischen Wissenschaftlers erkunden und ihre Schrecken geradezu zelebrieren. Zu diesen Schrecken gehören zahlreiche Morde, die durch entsprungene Untote begangen werden, sowie Kannibalismus. Eine vermeintlich positive Errungenschaft: Gefallene Soldaten könnten wieder kampffähig gemacht werden, so etwa den Major. Aber um welchen Preis?

Doch das Rätsel wird gelöst, sobald West selbst Opfer seiner eigenen Schöpfungen wird. Die Untoten verfolgen ihren eigenen Racheplan, um es ihrem Schöpfer heimzuzahlen. Sie dachten, sie hätten ein Recht auf die verdiente Totenruhe, doch West hat es ihnen geraubt und sie zu einem Un-Leben verdammt, in dem sie perverse Taten begingen. Nun bekommt er einen geschmack davon, was das in Wahrheit bedeutet.

Schöne Ironie: Die Polizei glaubt Clyde Simcox kein Wort dieser abgefahrenen und durchgeknallten Story, sondern lässt ihn vorsichtshalber in die Klappse einweisen. Die Geschichte endet mit einem Schrei und einem fiesen Lachen.

Das Hörspiel

Die faustische Frankenstein-Geschichte wird hier erneut verarbeitet, aber auch eine typisch Lovecraft’sche Weise. In Nachahmung von E.A. Poe hebt er die Trennlinie zwischen Leben und Tod auf, doch statt ihrem Wieder-Erwecker dankbar zu sein, verfluchen ihn die Untoten. Sie rächen sich auf höchste ironische Weise für seinen Frevel. Die Dramaturgie hat sowohl die Ironie als auch die Tragik dieses Schlusses erkannt und umgesetzt.

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. Außerdem sei die Lektüre der Originalgeschichte empfohlen, denn sie weicht von der Hörspielbearbeitung ab. Sie ist weitaus länger, aber die Kürzung liegt in der Natur des Mediums Hörspiel.

Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für gruselige Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert, und die Stimmen von Hollywoodstars wie Sean Astin (P. Bach), Angelian Jolie und Rachel Weisz (Urbschat-Mingues) vermitteln das richtige Kino-Feeling.

CD: über 70 Minuten.
Originaltitel: Herbert West, Re-Animator, 1922
Aus dem Englischen von unbekannt.
ISBN-13: 9783785759981

www.Titania-Medien.de

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