Ronald M. Hahn – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand

Holmes gegen die großen Alten: Lovecraft lässt grüßen

1880, Dunwich, Massachusetts. Der junge Sherlock Holmes besucht seinen ehemaligen Studienfreund Basil Bishop. Im Landhaus der Bishops nahe Dunwich tauchen am ersten gemeinsamen Abend höchst merkwürdige Gäste auf, die schier unglaubliche Ereignisse hervorrufen. Der zukünftige Meisterdetektiv gerät unversehens in seinen ersten Fall, der absolut unlösbar scheint. (Erweiterte Verlagsinfo)

Der Autor

Ronald M. Hahn (* 20. Dezember 1948 in Wuppertal) ist ein deutscher Schriftsteller, Übersetzer und Autor von Sachbüchern. Eine Reihe seiner zusammen mit Hans Joachim Alpers verfassten Werke erschienen unter dem gemeinsamen Pseudonym Daniel Herbst. Zusammen mit Alpers, Werner Fuchs und Wolfgang Jeschke veröffentlichte er 1980 „Das Lexikon der Science Fiction Literatur“ im Heyne Verlag. Mit Hans Joachim Alpers und Werner Fuchs) erhielt er 1983 für „Reclams Science Fiction Führer“ eine Auszeichnung, ebenso für die Übersetzung von John Clutes Buch „Science Fiction – Eine illustrierte Enzyklopädie“ und viele mehr. Jahrelang gab er die Reihe „Magazine of Fantasy and Science Fiction“ bei Heyne heraus.

Handlung

Sherlock Holmes, ein Meister der Verkleidung, ist 1880 mit einer Theatertruppe nach Neu-England gekommen und nimmt eine Spielpause wahr, um seinen Freund Basil Bishop in Dunwich und den Bergen hinter Arkham zu besuchen. Er trifft ihn in einer verschneiten Nacht ausgerechnet in einer Buchhandlung. Diese gehört dem hübsch anzusehenden und hochgelehrten Algernon Aylesbury, der aus der Sippe der Stadtgründer von Aylesbury stammen soll. Wie Holmes schon bald herausfindet, gilt Aylesburys großes Interesse alten Geschichten über Okkultismus in Dunwich und Umgebung. Bishop führt Holmes zum Haus seiner Eltern auf dem Sentinel Hill.

Violet Armitage erwacht im Haus der Bishops aus unruhigen Träumen. Darin spielten Bestien eine Rolle, die unter einem dunkelgrünen Himmel ihr Unwesen trieben. Kaum schaut die junge Städterin aus dem Fenster, verursachen ihr die riesigen Quadersteine, die auf dem Sentinel Hill emporragen, eine Gänsehaut. Puh!, seufzt sie, ich habe zu viel in Onkel Harrys alten Schwarten über Hexen- und Satansglauben geblättert. Violet, eine Verlagssekretärin aus New York, hält sich nach einer einzigen veröffentlichten Geschichte für eine Schriftstellerin in spe und sucht hier oben Inspiration für eine neue Geschichte, die sie dem „Argosy“-Magazin anbieten kann, das ihr Verleger veröffentlicht.

Sie erspäht einen Menschen, der sich durch den Schnee dem Haus nähert. Auf den ersten Blick ist er ihr bereits durch seinen stechenden Blick unsympathisch: Mr Whateley aus Arkham, stellt er sich vor. Tante Esther sagt, er sei angemeldet. Doch Whateley weiß mehr über Violet, als er wissen dürfte. Er wird ihr immer unheimlicher. Seine Behauptung, von den uralten Ahnen abzustammen, die auf dem Hill einst eine Festung zwecks Bewachung einer „Dimensionspforte“ bemannten, findet Violet einfach lächerlich. Höflicherweise sagt sie ihm das nicht.

Sie findet auch keine Gelegenheit dazu. Denn als nächster kommt nicht nur ihr Cousin Basil aus Dunwich an, sondern auch ein Fremder mit einem ausnehmend markanten Gesicht, der sie auf Anhieb fasziniert. Er stellt sich bescheiden als „Mr. Holmes“ vor, doch sein Charisma lässt sie ahnen, dass in diesem Briten mit den guten Manieren weitaus mehr steckt. Hui, der Tag ist gerettet!

Es kommt jedoch noch ein Gast, und das ist der merkwürdigste von allen Neuankömmlingen. Sein tadelloses Äußeres steht in Gegensatz zu seinen schwieligen Händen, die durch schmutzige Fingernägel auffallen. Mr. Holmes legt eine Beobachtungsgabe an den Tag, die Violet bemerkenswert findet. Er zeigt sich wie stets bescheiden und schiebt dies auf seine chemischen Studien. Violet ist entzückt, als sie entdeckt, dass auch er des Deutschen und Französischen mächtig ist.

Bald wird ihr klar, dass Herr Flausglotten, wie er sich nennt, vor Mr. Whateley große Angst hat. Der Grund bleibt jedoch unklar. Als sich Basil und Mr. Holmes wieder mal auf den Weg nach Dunwich machen wollen, schließt sich ihnen Flausglotten unverzüglich an. Doch das Trio kommt nicht weit: Eine unsichtbare Wand versperrt ihnen den Weg, eine Wand, die wie dicke Luft wirkt – unsichtbar, aber gleichwohl undurchdringlich. Nun schlottert Flausglotten erst recht vor Angst: „Er ist schuld daran!“ Es fällt Holmes nicht schwer sich auszurechnen, wer meint.

Unterdessen hat Violet ein erschütterndes Erlebnis. Sie hat den arroganten Mr Whateley aufgezogen, doch der schnippt unvermittelt mit den Fingern, und als sie aus dem Fenster auf den Hügel schaut, erblickt sie zwischen den Steinen eine emporragende Festung, die geradewegs aus der Kalten Dimension stammen könnte, die Mr. Holmes erwähnt hat. Leben dort die „Frigipoden“, wie er sie kurzerhand nannte? Aber warum hat sie dann das Gefühl, dass dort etwas unaussprechlich Böses darauf lauert, auf unsere Welt losgelassen zu werden? Die Temperatur im Haus fällt zusehends …

Mein Eindruck

Die Folie für diese wunderbar witzig und spannend erzählte Geschichte ist unverkennbar H. P. Lovecrafts Erzählung „Das Grauen von Dunwich“. Diese Geschichte spielt in den entlegenen Bergen im Hinterland von Massachusetts, und wie so häufig bei HPL sind die Bewohner von Dörfern wie Dunwich, wo Inzucht grassiert, nicht gerade die hellsten. Deshalb ist der Kontrast zu intelligenten Stadtbewohnern wie Sherlock Holmes (aus London) und Violet Armitage (aus New York City) umso größer. Doch was, wenn die Hinterwäldler über schwarze Magie verfügen? Ob dann die Stadtleute überleben können, muss sich hier entscheiden.

Feindliche Übernahme

Zwei überraschende Wendungen müssen von mir unbedingt verschwiegen werden, sonst wäre die ganze Spannung weg. Deshalb muss ich mich in Andeutungen ergehen. Violet kapiert schon ziemlich früh, dass sie mit Mr Whateley, einem Bibliothekar der Miskatonic University zu Arkham (zwei ebenfalls sattsam bekannte Lovecraft-Loci), einen veritablen Zauberer unter dem Dach der Bishops kennenlernt. Doch er ist ein arroganter Typ, der auf das „Gewürm“ der Sterblichen herabsieht.

Der Grund für seine Überheblichkeit: Er betrachtet sich als einen „Vollstrecker“ der „Herren der kalten Dimension“, legitimiert durch eine lange Ahnenreihe. Sobald er die Pforte zur Kalten Dimension, die sich in der „Festung“ auf dem Hügel befinden soll, wieder geöffnet hat, würden ihn seine Herren schon belohnen, ist er sicher. Natürlich braucht er ein Opfer, das er ihnen darbringen kann. Dazu ist Mr. Flausglotten ausersehen, dem entsprechend vor Angst die Knie schlottern.

Doch erstens kommt es anders, und zweitens, als man denkt. Während sich die Lage durch einen weiteren Ankömmling drastisch ändert, spotten die Bishops und Holmes über den arroganten Zauberer. „Frigipoden“, fürwahr! Als wären die „Herren der Kalten Dimension“ eine zoologische Absonderlichkeit und nicht die Großen Alten, die die Erde vor Jahrmillionen beherrschten! Das Lachen bleibt den unbelehrbaren Herrschaften vom Schlage eines Holmes im Halse stecken, als sie in die unsichtbare Wand laufen. Diese hat Whateley wie eine Käseglocke um das Anwesen der Bishops errichtet.

Markante Figuren

Wer jetzt an Marlen Haushofers kürzlich verfilmten Roman „Die Wand“ denkt, liegt völlig richtig. Ein belesener Autor wie Hahn kennt solche Kultbücher natürlich. Eine ähnlich emanzipierte Frau wie die Protagonistin Haushofers ist auch Violet Armitage. Sie mag zwar eine blühende Phantasie haben, die sie als Autorin braucht, doch weiß auch ihren Kopf zu benutzen, um Schwachköpfe von Intelligenzbestien wie Holmes zu unterscheiden. Einer ihrer wunderbar drastischen Gedanken ist folgender: „Ein Phantast! Wie kannst du nur ein Wort von seinem Geschwafel glauben!“ (S. 168) Gemeint ist ausdrücklich NICHT Holmes, den sie nur zu gern liebend an ihren Busen drücken würde.

Jede Figur ist markant gezeichnet, so dass wir sie alle gut auseinanderhalten können. Holmes und Violet, Whateley und Flausglotten habe ich beschrieben. Basil Bishop, Violets Vetter, ist ein junger Musikliebhaber, doch sein aufbrausendes Temperament verdirbt jede ausgeklügelte Verhaltenstaktik – ebenfalls eine ständige Quelle der Ironie. Sein Vater, Onkel Harry, scheint ein Tagedieb zu sein, der als reicher Dieb seine Tage mit dem Malen und dem Kartenspielen mit den Dunwichern zu vertreiben scheint. Tante Esther ist seine treu sorgende Ehefrau, aber sie hat auch Mumm in den Knochen.

Showdown

Diesen Mumm brauchen die Bishops und ihre zwei Besucher auch, denn im Finale geht es hart auf hart. Violet und Holmes haben die geisterhafte Festung auf dem Hügel besucht und sind dabei auf deren grausige Besucher gestoßen. Um ein Haar hätten sie nicht mehr herausgefunden. Mit Pforten muss man eben vorsichtig sein. Sie wissen also, was ihnen blüht, sollte Whateley Erfolg haben.

Whateley hat die Großen Alten beschworen, die Pforte zu durchstoßen. Allerdings kommen ihm dabei nicht bloß eine Figur, sondern gleich zwei in die Quere. Flugs erfährt seine Rolle in dem sich anbahnenden dramatischen Geschehen eine grundlegende Veränderung. Die Membran der dunkelgrün glühenden Festungspforte dehnt sich nach außen, als ob eine kalte Macht sie durchstoßen wolle. Soll die Welt vor der Eroberung und Vernichtung bewahrt werden, muss nun dringend etwas geschehen, am besten ein Wunder, denkt Violet beklommen.

Unterm Strich

In dieser sehr unterhaltsamen und klug erzählten Holmes-Pastiche lernen wir einen sehr jungen Sherlock Holmes kennen. Gerade hat er sein Chemiestudium hinter sich gebracht und zieht mit einer Theatertruppe durch England und die USA. Wahrscheinlich hat er in Oxford auch Basil Bishop, den Musikus, kennengelernt und nimmt die Gelegenheit wahr, ihn zu besuchen. Holmes‘ Charakter ist noch erfrischend ungeschliffen, ein junger Gentleman, der sich noch die Hörner abstoßen muss – und der auf kluge, schöne Frauenzimmer wie Violet sehr positiv anspricht.

In diesem Abenteuer à la Lovecraft lernt er allerdings (zu unserem größten Bedauern), seine emotionalen Impulse zu kontrollieren und rechtzeitig den Schnabel zu halten. Aber wie aus ihm ein Misanthrop werden konnte, der Frauen verschmäht, bleibt uns ein Rätsel, denn seine Zuwendung zu Violet Armitage lässt an Zuvorkommenheit und echter Zuneigung nichts zu wünschen übrig. Ein Kuss besiegelt die Beziehung der beiden – ich verrate nicht, an welche Stelle.

Feststeht jedoch, dass mir dieser Holmes wesentlich sympathischer ist als Conan Doyles weltentrückter, vergeistigter Meisterdetektiv. Immerhin: Seine siebenprozentige „Lösung“ (Kokain) hat er theoretisch dabei- nur hat er sie, zu Violets Glück, in Dunwich vergessen. Gut möglich, dass die Figur des Meisterdetektivs unter dem Einfluss von Guy Ritchies zwei Holmes-Filmen neu erfunden wird. Das junge Publikum weiß dies durchaus zu schätzen, vor allem das weibliche. Denn nun kommen Frauenfiguren wie Irene Adler, DIE FRAU, wesentlich besser weg: energisch, eigenständig, intelligent. Und kein bisschen blond.

Hätte Lovecraft, der Einsiedler von Providence, sich über dieses Abenteuer in einem seiner Settings gefreut? Ich bin überzeugt davon. Denn die Bedrohung, die von den Großen Alten, den Herren der Kalten Dimension, ausgeht, ist auch hier real und wird ernst genommen. Wer schlecht wegkommt, sind die Menschlein, die sich mit ihnen einlassen. Und das war schon bei HPL so. Hahns Zutat ist jedoch ein bissiger Humor, der sie Großen Alten zu possierlichen „Frigipoden“ zu degradieren droht. Es sind intelligente Menschen wie Holmes und Violet, die überleben werden. Und wir gönnen es ihnen von Herzen.

Einen transzendenten Schlenker kann sich Hahn allerdings nicht verkneifen. Denn welche Macht ist es wohl, die sich den Großen Alten entgegenstellen und sie zum Rückzug zwingen kann? Violet wundert sich doch sehr und kommt auf verwegene Gedanken. Holmes ist seinem neuen Prinzip der kontrollierten Zurückhaltung treu und hält mit seiner wahren Meinung hinterm Berg. Was er sagt, ist dazu gedacht, Violet zu trösten und zu beruhigen. DIESE FRAU wäre die perfekte Partnerin für alle möglichen amerikanischen Ermittlungen, die Mr. Holmes noch vorzunehmen gedenkt.

Hinweis: Auf der Webseite des BLITZ-Verlags gibt es zum Buch eine Leseprobe im PDF-Format.

Taschenbuch: 191 Seiten
ISBN-13: 978-3898403375

http://www.blitz-verlag.de

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