An einem sonnigen Augusttag wird ein Mann aus dem Gefängnis entlassen. An einem regnerischen Apriltag finden spielende Kinder seine Leiche. Wurde er getötet, weil jemand fand, er sei noch nicht ausreichend bestraft worden ? Oder fürchtete jemand seine Rache? Denn der angebliche Doppelmörder hat seine Taten nie gestanden und immer seine Unschuld beteuert. Kommissar Van Veeteren beschleicht ein furchtbarer Verdacht: Läuft der wirkliche Mörder noch frei herum …? (Verlagsinfo)
Der Autor
Håkan Nesser, Jahrgang 1950, ist neben Henning Mankell der wohl wichtigste Kriminalschriftsteller Schwedens. Wo jedoch Mankell den anklagenden Zeigefinger hebt, weiß Nesser die Emotionen anzusprechen und dringt in tiefere Bedeutungsschichten vor. Außerdem verwendet er eine poetischere Sprache als Mankell und gilt als Meister des Stils. Uns in Deutschland ist er bislang durch seine Romane um Kommissar Van Veeteren bekannt, aber auch „Kim Novak badete nie im See von Genezareth“ erregte Aufsehen. Er lebt in London und auf Gotland.
Manche seiner Romane um Kommissar van Veeteren wurden 2005/2006 in einer TV-Serie verfilmt.
Übersetzte Werke
Die Van-Veeteren-Reihe (chronologisch)
1) Das grobmaschige Netz
2) Das vierte Opfer
3) Das falsche Urteil
4) Die Frau mit dem Muttermal
5) Der Kommissar und das Schweigen
6) Münsters Fall
7) Der unglückliche Mörder
8) Der Tote vom Strand
9) Die Schwalbe, die Katze, die Rose und der Tod
10) Sein letzter Fall
Die Inspektor-Barbarotti-Reihe
1. 2006 Människa utan hund
o Mensch ohne Hund, dt. von Christel Hildebrandt; München: btb 2007. ISBN 978-3-442-75148-8
2. 2007 En helt annan historia
o Eine ganz andere Geschichte, dt. von Christel Hildebrandt; München: btb 2008. ISBN 978-3-442-75174-7
3. 2008 Berättelse om herr Roos
o Das zweite Leben des Herrn Roos, dt. von Christel Hildebrandt; München: btb 2009. ISBN 978-3-442-75172-3
4. 2010 De ensamma
o Die Einsamen, dt. von Christel Hildebrandt; München: btb 2011. ISBN 978-3-442-75313-0
5. 2012 Styckerskan från Lilla Burma
o Am Abend des Mordes, dt. von Paul Berf; München: btb 2012. ISBN 978-3-442-75317-8
Mehr Infos: https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%A5kan_Nesser (Das Werkverzeichnis reicht nur bis 2016.)
Handlung
Er wird am 24. August 1993 aus der Haft entlassen. Zwölf Jahre seines Lebens sind weg. Er ist jetzt 57 Jahre alt – und man sieht es ihm an. Er geht lieber zu Fuß in die Stadt, statt das kostenlose Taxi zu nehmen, das ihm die Wärter angeboten haben. Er hat Zeit, denn niemand wartet mehr auf. Sie ist längst weg. Als er in das Haus zurückkehrt, in dem er vor langer zeit gewohnt hat, ist leer, kalt und riecht muffig. Ihr Zettel wünscht ihm Glück.
Eines der Kindergartenkinder, die dicke Eunice, findet die Leiche in einem nassen Graben, halb vergraben im Wald. Sie bricht in Tränen aus und die Elisabeth, die Kindergärtnerin, die den ganzen Haufen von Gören alleine bändigen muss – Moira hat mal wieder Migräne -, versucht, Eunice zu trösten. Warum nur hat das Mädchen die kopflose Leiche aus dem Teppich wickeln müssen? Kinder! Jetzt aber schleunigst zurück zur Hütte!
Der Polizeidirektor Hiller will Van Veeteren, Münster, Rooth und Reinhart mit dem Fall betrauen, beißt aber auf Granit. Van Veeteren lehnt ab, weil er sich um die Banküberfälle kümmern müsse. Münster und Rooth haben keinen Grund abzulehnen, und Reinhart gibt den zynischen Hofnarren. Einen Monat höchstens, dann hätten sie den Fall gelöst, meint Rooth. Doch es gibt von Anfang an Probleme, die Leiche zu identifizieren. Nicht nur, dass ihr der Kopf unprofessionell abgehackt wurde, sondern auch die Hände und die Füße. Wer würde einem schon die Füße abhacken, wenn es da nicht ein besonderes Merkmal gäbe, fragt sich Münster.
Meusse, der Gerichtsmediziner von der traurigen Gestalt, liefert Alter, Körpergröße und ein besonderes Merkmal, das der Mörder übersehen hat: Der Mann, der zwischen 55 und 60 Jahre alt und knapp 175 cm groß war, hatte nur einen Hoden. Na, dann ist ja klar, frotzelt Reinhart: „Steht ja in allen Melderegistern“. Der Kreis der Vermissten lässt sich auf nur noch zwei eingrenzen. Die vermisst meldenden Frauen reagieren entweder entrüstet (auf Rooth) oder lachen sich einen Ast (Münster). Und der Mann der letzteren Frau stellt sich als der gesuchte Pierre Kohler vor – quicklebendig. Auf einmal haben Münster und Roth gar nichts mehr in der Hand.
Vorleben eines Doppelmörders
Nachdem eine Frau ausgesagt hat, dass es sich wohl um ihren Bruder Leopold Verhaven, 57, handeln könnte, konzentriert sich die Ermittlung auf diesen Mann. Er ist beileibe kein Unbekannter. In den späten Fünfzigern war er Rekordmeister im Langstreckenlauf, dann aber kam der Karriereknick: Doping und Schwarzgeld gehen durch die Gazetten, doch er berappelt sich wieder, hat eine Tochter (von der die Polizei nichts weiß) und mehrere Geliebte. Die erste, Beatrice Holden, wird tot im Wald bei Kaustin, seinem neuen Wohnort, aufgefunden, nackt und vergewaltigt. Obwohl Verhaven seine Unschuld beteuert und Beweise fehlen, verurteilt ihn der Richter.
Der tut das auch ein zweites Mal 1981, als eine zweite Geliebte Verhavens tot aufgefunden wird: Marlene Nietsch. Erst wieder zwölf Jahre später wird Verhaven am 24.8. 1993 aus der Haftanstalt entlassen. Wahrscheinlich findet er noch am gleichen Tag den Tod. Nach acht Monaten in einem moorigen Waldgraben findet ihn ein Mädchen aus dem Kindergarten. Mittlerweile ist es Frühjahr 1994. Fazit Reinharts: Wenn es Verhaven nicht war, dann läuft seit einem Vierteljahrhundert ein potentieller Dreifachmörder frei herum. Es wäre an der Zeit, ihn endlich mal zu schnappen.
Van Veeteren
Das sieht Hauptkommissar Van Veeteren genauso. Leider hält ihn eine Operation wegen Dickdarmkrebs ihn davon ab, sich an den Ermittlungen zu beteiligen, aber wozu hat man denn fleißige Mitarbeiter wie Ewa Moreno? Zudem hält er sich durch Sitzungsprotokolle und die Tageszeitungsberichte auf dem Laufenden. Als Erstes schickt er Münster los, um eine Leonore Conchis zu suchen, mit der Verhaven angeblich Ende der siebziger Jahre zusammen war. Leonore wer?
Mein Eindruck
Selbst dem Kommissar, der da im Hospital im Bett liegt, fällt bei diesem Fall auf, wie viele Frauenzimmer darin eine Rolle spielen: Leonore, Marlene, Beatrice und wohl noch mehr. Denn Verhaven hatte nie irgendwelche Mühe, eine Frau in sein Bett zu bekommen, dabei war er sogar ein ziemlich brutaler Liebhaber. Und sein Domizil im Wald hieß einfach nur „Großer Schatten“, was nicht gerade heimelig klingt. Möglicherweise machte dieser Erfolg so manchen Nachbarn in dem kleinen Dorf Kaustin und Umgebung neidisch oder eifersüchtig. Wie Ewa Moreno aus eigener Erfahrung berichtet, kennt in so einem Kuhkaff jeder jeden. Deshalb wird auch keine Haustür abgesperrt…
Ungefähr ein Jahr vor seiner Entlassung, im Juni 1992, wurde Verhaven von einer mysteriösen Frau besucht, die sich als „Anna Schmidt“ ins Gästebuch der Haftanstalt eintrug. Mit Sicherheit ein falscher Name, denkt Van Veeteren, aber vielleicht nicht der Vorname. Diese Frau, die am Stock ging, muss Verhaven gewarnt haben, was ihn bei seiner Rückkehr erwarten würde. Doch das brachte den verschlossenen Eigenbrötler offenbar nicht aus seiner Ruhe. Er ging seinen letzten Gang am 24. August 1994 zu Fuß und fuhr gemächlich mit der Eisenbahn nach Hause.
Alles ist irgendwie schief im Fall Verhaven. Die Frage: „Wer soll es denn sonst gewesen außer Verhaven?“, reicht der Justiz als Berechtigung aus, einen Bürger hinter Schloss und Riegel zu bringen. Dabei gibt es keine Beweise oder Zeugenaussagen gegen ihn, im Gegenteil: Zwei der Schöffen mussten vom Staatsanwalt „überredet“ werden, ihr Votum zu ändern. Nur ein einmütiger Schuldspruch berechtigt zur Verurteilung. Der alte Richter Heidelbluum, mit 82 Jahren kurz vorm Exitus, ist sich ebenfalls keiner Schuld bewusst. Der Einwand, dass der Leichenfund beweise, dass er sich geirrt haben muss und ein Dreifachmörder immer noch frei herumläuft, ficht ihn nicht an.
Auch der Kommissar hat deshalb nichts auf der Hand, als er den Mörder besucht: keine Beweise, keine Geständnisse, nur Umstände. Eine Menge Umstände. Und Andeutungen. Die Klosterschwester, die jene „Anna Schmidt“, die am Stock ging, bis zu ihrem Tod pflegte, beruft sich auf ihre Schweigepflicht. Aber Schweigen kann, geschickt angebracht, beredter sein als eine Kanzelrede.
Und mit dieser Andeutungsmethode, ja, sogar mit krassen Bluffs setzt sich der Kommissar in aller Gemütsruhe neben den Mörder auf den Balkon und trinkt ein Fläschchen Whisky mit ihm. Geständnisse gibt es nicht, aber wütenden Protest auch nicht. „Dann ging alles ganz schnell…“
Die Übersetzung
Dem Text merkt man an, dass Gabriele Haefs kühner und zupackender in ihrer Übertragung des Schwedischen ins Deutsche ist. Das kann häufig zu einem anschaulicheren Stil führen, manchmal aber auch ins Auge gehen. Man muss sich seiner Sache bei Wortwahl schon sehr sicher sein, um das durchzuziehen.
Es gibt nur wenige Druckfehler, aber dieser scheint definitiv einer zu sein:
S. 60: „versuchten seine Darmzotten… den letzten Tropfen Bier ihren Sa[n]ft zu entziehen.“ Das N scheint mir überflüssig zu sein.
Unterm Strich
Der Leser wird mit vielen Vorgängen und Erkenntnissen versorgt, aber alle führen zu keinem Ergebnis. Sicher, die Kripobeamten durchsuchen das Leben des einstigen Rekordläufers Leopold Verhaven bis ins letzte Detail, aber eines übersehen sie eben doch: Wie konnte es dazu kommen, dass er zweimal unschuldig verurteilt und dann ungestraft ermordet werden konnte? Zustände wie im alten Rom, sollte man meinen, aber die Justiz weiß nur zu sagen: „Wer hätte es denn sonst sein sollen?“
Verhaven hat sich durch seine Eigenbrötelei zur Zielscheibe und somit automatisch verdächtig gemacht – ein Bauernopfer für „das gesunde Volksempfinden“. Mit der gleichen Begründung durfte man in der braunen Zeit alle Krüppel und geistig Behinderten ungestraft vergasen, von sechs Millionen Juden ganz zu schweigen. Dass ausgerechnet Verhaven, der Außenseiter, so viel Erfolg bei Frauen hatte, brachte ihm offenbar nicht nur Freunde ein. Und damit er seine Verleumder nicht bloßstellen konnte, musste er am Tag seiner Entlassung (24.8.94) für immer zum Schweigen gebracht werden. Gut, dass es noch Van Veeteren als unentrinnbare Nemesis gibt.
Der Autor spart nicht mit leisen ironischen Untertönen, die man mit einem feinen Gespür überall vorfinden kann. Am deutlichsten wird sein Humor wohl in der Szene mit den Kindergartenkindern, die im Wald eine kopflose Leiche finden. Nesser, selbst zweifacher Vater, kennt sich bestens mit den kleinen Rangen und ihrem schonungslosen Sprachgebrauch aus. Jungs lassen gegen Mädels keinerlei Gnade walten – und umgekehrt. Die einzige, die in dem Gezeter die Nerven behält, ist die Kindergärtnerin Elisabeth, doch auch sie steht am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ihre Kollegin Moira hat bereits mit Migräne kapituliert, und die andere Kollegin ist gar nichts mitbekommen – hat aber den Schlüssel zur Schutzhütte einbehalten. Ganz toll. Die ganze Szene ist erfüllt mit Ironie, aber auch mit Sympathie. Das fehlte mir im Rest des Buches, der sich von Szene zu Szene dahinschleppt. Selbst der Kommissar langweilt mit kryptischen Philosophie-Sentenzen.
Taschenbuch: 310 Seiten
Originaltitel: Aterkomsten, 1995
Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs
ISBN-13: 9783442742745
www.btb-verlag.de
Der Autor vergibt: