Håkan Nesser – Münsters Fall (Van Veeteren 6)

Das dunkle Geheimnis der Familie Leverkuhn

Vier Rentner feiern in einer Kneipe ihren Lottogewinn. Reichlich angetrunken machen sich die vier auf den Heimweg. Stunden später ist einer von ihnen tot, hinterrücks erstochen in seiner eigenen Wohnung. Kommissar Münster übernimmt den Fall, denn Kommissar Van Veeteren hat sich für ein Jahr beurlauben lassen. Doch keiner seiner Kollegen glaubt, dass er von der Ermittlungsarbeit lassen kann. Und in der Tat holt sich Münster schon bald Rat bei Van Veeteren, denn der Fall wird immer mysteriöser … (Verlagsinfo)

Der Autor

Håkan Nesser, Jahrgang 1950, ist neben Henning Mankell der wohl wichtigste Kriminalschriftsteller Schwedens. Wo jedoch Mankell den anklagenden Zeigefinger hebt, weiß Nesser die Emotionen anzusprechen und dringt in tiefere Bedeutungsschichten vor. Außerdem verwendet er eine poetischere Sprache als Mankell und gilt als Meister des Stils. Uns in Deutschland ist er bislang durch seine Romane um Kommissar Van Veeteren bekannt, aber auch „Kim Novak badete nie im See von Genezareth“ erregte Aufsehen. Er lebt in London und auf Gotland.

Manche seiner Romane um Kommissar van Veeteren wurden 2005/2006 in einer TV-Serie verfilmt.

Werke (Auswahl)

Die Van-Veeteren-Reihe (chronologisch)

1) Das grobmaschige Netz
2) Das vierte Opfer
3) Das falsche Urteil
4) Die Frau mit dem Muttermal
5) Der Kommissar und das Schweigen
6) Münsters Fall
7) Der unglückliche Mörder
8) Die Tote vom Strand
9) Die Schwalbe, die Katze, die Rose und der Tod
10) Sein letzter Fall

Die Inspektor-Barbarotti-Reihe

Mensch ohne Hund
Eine ganz andere Geschichte
Das zweite Leben des Herrn Roos
Die Einsamen
Am Abend des Mordes

Mehr Infos: https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%A5kan_Nesser (Das Werkverzeichnis reicht nur bis 2016.)

Handlung

Der Rentner Waldemar Leverkuhn und seine besten Kumpels haben im Lotto gewonnen – 5000 Gulden pro Nase. Das muss begossen werden! Stunden später findet sich Leverkuhn stockbesoffen unterm Tisch der Stammkneipe wieder und reißt das Tischtuch mit sich. Jetzt ist aber genug, findet die Bedienung. Zeit, nach Hause zu gehen. Schwer angetrunken lässt sich Leverkuhn ins Bett seiner leeren Wohnung sinken, die er mit seiner Ehefrau Marie-Louise teilt. Wenig später bekommt er ungebetenen Besuch…

Münster ist genervt: Der Anruf vom Präsidium bedeutet, dass er den geplanten Sonntag mit der Familie abhaken kann. Die Leiche eines alten Knackers namens Waldemar Leverkuhn sei gefunden worden. In einem Blutbad, eigentlich kein Wunder nach 28 Messerstichen. Der Tatort sieht dementsprechend aus. Die Ehefrau, die die Polizei rief, steht offenbar unter Schock und will nichts dazu sagen. Sie sei bei ihrer Freundin Emmeline von Post gewesen, gibt sie zu Protokoll, und wegen eines Stromausfalls bei der Bahn später als geplant heimgekehrt. Von den drei Kindern aus ihrer Ehe – Ruth, Mauritz und Irene – gibt es noch nichts.

Vermisst

Inspektor Jung sucht nach Bonger, Leverkuhns Kumpel, der zusammen mit ihm die besagte Kneipe Freddy’s verlassen haben soll. Bonger lebt auf einem Hausboot, das in einer der vielen Grachten von Maardam ankert. Keiner da. Die Nachbarin, eine Frau mit Haaren auf den Zähnen, hat Bonger auch nicht gesehen: „kein Rauch, kein Licht“. Ob der Mord mit Bongers Verschwinden zusammenhängt, muss man noch prüfen, findet Jung und berichtet Münster

Mauer des Schweigens

Nach ein paar Tagen machen die Angehörigen des Ermordeten ihre Aussage. Alle haben gemeinsam, dass sie sehr zugeknöpft sind, was den Toten angeht. Marie-Louise wahrt ihre Fassade und beachtet die Konventionen, dito ihre lesbische Tochter Ruth, die sie seit 20 oder 25 Jahren nicht mehr besucht hat.

Nur der Sohn Mauritz, ein Handelsvertreter, wird gleich aggressiv, wenn es um einen Blick hinter die Fassade der Familie geht. Auch er hat die anderen schon länger nicht mehr gesehen. Von ihm stammt aber das als Tatwerkzeug verwendete Fleischmesser. Dieser Verdacht bringt Mauritz auf die Palme und er wird ausfallend. Münster bricht die Vernehmung ergebnislos ab. Die Einvernahme des dritten Kindes, der Tochter Irene, schiebt er auf. Die lebt in einer psychiatrischen Anstalt irgendwo im Norden. Die Ermittlung steckt fest.

Verschwunden

Nach wenigen Tagen meldet der Hausmeister Van Eck seine Frau als vermisst, er ist untröstlich, denn sie gab seinem leben Halt. Das kann Inspektorin Ewa Moreno bezeugen. Die alte Else Van Eck kommandierte ihren Mann herum wie eine Generalin. Zum fraglichen Zeitpunkt, als man sie zuletzt sah, sei er in einem Kurs für Porzellanmalerei gewesen, gibt er zu Protokoll. Moreno verkneift sich ein Lächeln, denn sie hat gerade selbst schwere Beziehungsprobleme: Nach fünf Jahren hat sie Claus Badher verlassen, der aber nicht von ihr lassen will, die Klette.

Geständnis

Es lässt sich keinerlei Zusammenhang zwischen den drei Toten bzw. Verschwundenen herstellen. Als ein genialer Inspektor daran denkt, dass sich Frau Van Eck ja auch noch im Haus verstecken könnte, wird das Haus auf den Kopf gestellt. Wieder ohne Ergebnis. Ratlos wendet sich Münster das erste Mal an den Herrn Hauptkommissar, pardon, an Van Veeteren. Der hat aber noch keine Meinung.

Dafür stellt sich die Frau des Ermordeten und bekennt sich schuldig. Frau Leverkuhn wird durch die übliche Mangel gedreht und schließlich vor Gericht gestellt. Sogar der Richter, Herr Hart, äußert Zweifel an den Worten der Geständigen. Warum hat sie sich eine Woche Zeit gelassen? Woher die Wut, mit der sie 28 Mal auf ihren schlafenden, wehrlosen Gatten eingestochen habe? Auch ihre älteste Freundin meint zu Münster: Die könnte keiner Fliege was zuleide tun. Van Veeteren schreibt Münster ebenfalls: „Sie war es nicht.“ Wen will Frau Leverkuhn schützen?

Doch die Antwort auf diese Frage kann sie nicht liefern, denn in der Nacht vor der Urteilsverkündung verstummt auch dieser Mensch für immer…

Mein Eindruck

Diesmal ist der Fall, zu dem Van Veeteren als Beobachter hinzugezogen wird, voller Lücken und Widersprüche. Das finanzielle Motiv, wonach jemand das Gewinnlos für sich selbst einlösen und nicht teilen will, scheidet schon früh aus. Als auch Frau Van Eck verschwindet und erst vier Woche später in Einzelteilen wieder auftaucht, ist Münster vollends ratlos. Die anderen Bewohner des Leverkuhn-Hauses haben weder etwas gesehen noch gehört – zur Tatzeit vögelte ein junges Paar lautstark in einer der Wohnungen.

Doch nacheinander stoßen Münster und Moreno auf Ungereimtheiten, was die Familie des Opfers angeht. Mauritz etwa will ebenso wenig wie seine Mutter über seine Schwestern sprechen. Und eine dieser Schwestern, die lesbische Ruth, will mit ihren Eltern schon seit Jahren nicht mehr gesprochen haben. Eigentlich müssten die Tagebücher, die die Mutter geführt habe, Auskunft geben, doch von denen lässt sich bei einer erneuten Durchsuchung keine Spur finden. Auch eine frühere Nachbarin gibt nur Andeutungen von sich.

Die einzige, die noch Auskunft geben könnte, welches dunkle Geheimnis diese merkwürdige Familie verbirgt, ist die zweite Tochter, Irene. Münsters erstes Gespräch in der psychiatrischen Anstalt verläuft ergebnislos, obwohl die etwa 45-jährige Irene bei klarem Verstand zu sein scheint. Doch als er die Aufzeichnungen von der letzten Therapiesitzung abhört, erhält Münster den Schlüssel zu diesem Fall.

Geschlechterkampf

Immer wieder geht es um das, was Moreno und Münster den „Geschlechterkampf“ nennen. Moreno ist stärker als ihr Claus, und Frau van Eck ist tausendmal stärker als ihr Mann. Die erwartete Verteilung von Macht ist in der Geschichte allenthalben auf den Kopf gestellt. Dass Frau Leverkuhn alle Schuld auf sich nimmt und daraus die letzte Konsequenz zieht, wird ebenfalls als Zeichen von Stärke gewertet. Mit der Ausnahme von Van Veeteren scheinen alle Männer recht halt- und hilflos – und vor allem übermüdet – durch die Gegend zu schwanken.

Dass Männer zwar schwach sein können, sich dafür aber an ihren und anderen Kindern dafür schadlos halten, zeigt die Familie Leverkuhn. Kinder sind nämlich die Schwächsten von allen. Wer sie nicht schützt, macht sich mitschuldig. Diese Schuld muss Frau Leverkuhn auf sich nehmen und sühnen. Kommt also Mauritz als Mörder infrage, wie Münster annimmt? Die Schwestern und die verstorbene Mutter könnten ihm eine andere Geschichte erzählen. Mauritz war immer das schwache Opfer in der Familie, das sie beschützen mussten – egal um welchen Preis…

Die Übersetzung

Die Übersetzung liest sich flüssig und ich konnte das Buch an nur einem Tag lesen.

Dennoch stieß ich auf vereinzelte Druckfehler.

S. 20: „Es stellt vollkommen außer Zweifel…“ Korrekt müsste es heißen: „Es STEHT außer Zweifel…“

S. 28: „Qui bono also?“ Falsches Latein für „wem nützt es?“ Korrekt müsste es „Cui bono“ heißen.

S. 82: „die Farbe von den [die] Fensterrahmen zu kratzen.“ Das Wörtchen „die“ ist überflüssig.

S. 173: falscher Kasus. „Diejenigen, die einem nicht mal nachts in Ruhe lassen.“ Statt des Dativs „einem“ muss der Akkusativ „einen“ benutzt werden.

Unterm Strich

„Münsters Fall“ zieht sich hin, bietet dem Leser aber immer wieder etwas Neues. Hier wird keine Daumenschraube der Spannung angezogen, wie in „Der unglückliche Mörder“. Viel mehr Ähnlichkeit hat der Verlauf mit „Sein letzter Fall“, in dem sieben Jahre vergehen, bis der Fall gelöst werden kann, mit prekären Folgen für den Ermittler. Der Leser sollte also viel Geduld mitbringen und dem Zusammensetzen der Einzelteile des Puzzles folgen. Damit dies nicht so einfach ist, lässt der Autor mit Bonger einen zweiten Rentner und die Hausmeisterin verschwinden.

In der zweiten Hälfte legt das Tempo deutlich zu, und drastische Geschehnisse verblüffen den Leser. Wer bis dahin gehofft hat, dass das Buch der TV-Verfilmung auch nur annähern könnte, sieht sich getäuscht: Die TV-Inszenierung unterscheidet sich derart massiv vom Buch, dass man keinesfalls voraussehen kann, was passieren wird. Viele Figuren wurden komplett gestrichen. Höchstens eines ist halbwegs sicher: dass Kommissar Münster am Ende in seinem Blut liegen wird. Er hat zu viel herausgefunden und die Wahrheit dem falschen Menschen ins Gesicht geschleudert.

Van Veeteren hat Anklänge an Shakespeares Schauerstück „Macbeth“ gefunden und einen warnenden Traum gehabt, in dem Münster und ein Dolch eine Rolle spielen. Van Veeterens Freundin Ulrike Fremdli erklärt ihn dafür für verrückt. Na und? Er fährt trotzdem Münster hinterher, in der Hoffnung, nicht zu spät zu kommen. Wir drücken ihm die Daumen.

Taschenbuch: 320 Seiten
Originaltitel: Münsters fall
Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt
ISBN-13: 978-3442742776

www.heyne.de

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