Sylvian Hamilton – Der Knochenhändler

Ein mittelalterlicher Reliquienhändler gerät in eine politische Verschwörung, die sich gegen den König von England richtet; schwarze Magie kommt ins Spiel, der die Tochter des Händlers zum Opfer zu fallen droht … – Farbenfroher, detailreicher und spannender Historienkrimi, den die Autorin behutsam um Mystery- und Horrorelemente bereichert: gelungener Start in die mehrbändige Richard-Straccan-Serie.

Das geschieht:

In England hat Regent Johann, den seine Gegner spöttisch „Ohneland“ nennen, in diesem Jahr 1209 einen schweren Stand. Der Bruder des außer Landes gefangenen Richard Löwenherz ist nicht beliebt bei seinen Untertanen. Weil sich Johann im Vorjahr weigerte, den von Papst Innozenz III. eingesetzten Erzbischof von Canterbury anzuerkennen, hat ihn dieser zu allem Überfluss gebannt und von den heiligen Sakramenten ausgeschlossen – keine glückliche Situation in einer Zeit, da der König seinem Volk auch geistlicher Führer sein soll.

Die Kirche setzt nun verstärkt auf die Faszination der sogenannten Reliquien: Relikte von Heiligen, die aus der Bibel oder den zahllosen Legenden des Mittelalters bekannt sind. Ihrer Vorbildfunktion kommen sie auch nach ihrem Tod nach, denn an ihren Gräbern geschehen Wunder. Die Körper werden deshalb in den Gotteshäusern aufbewahrt und den Gläubigen mit eindrucksvollem Zeremoniell präsentiert. Leider sind Reliquien rar. Glücklicherweise gibt es Spezialisten, die sie beschaffen können. Schwarze Schafe sind in diesem Gewerbe naturgemäß recht zahlreich. Sir Richard Straccan gilt aber als vertrauenswürdiger Vertreter seiner Zunft. Der ehemalige Kreuzfahrer trennt streng zwischen Gott und der Kirche und betrachtet letztere als Geschäftspartnerin, der er gepfefferte Rechnungen zu präsentieren pflegt.

Die Priorin des Klosters von Holystone zeigt ihm eine mysteriöse Reliquie, die ihr ein Unbekannter sterbend überreicht hat. Straccan soll beider Herkunft klären. Damit gerät er ahnungslos in die Mühlen der ganz großen Politik. Eigentlich hätte Straccan gewarnt sein müssen: Die Priorin ist eine Halbschwester König Johanns, der sich im Kampf mit dem Papst, dem König von Frankreich und dem eigenen Adel befindet, der alle den gebannten Monarchen stürzen wollen. Doch Straccan erkennt, dass Gefahr nicht nur aus einer dieser Richtung droht. Plötzlich wird seine Tochter entführt, und schwarze Magie kommt im Spiel, denn der verkommene Lord Soulis will für den Griff nach der Krone sogar die Mächte der Finsternis beschwören …

Bizarr und morbide oder heilig und wirkungsstark?

Wohl alle Religionen auf diesem Planeten mussten und müssen sich mit dem Problem herumschlagen, dass für die meisten Menschen Glauben nicht gleich Wissen ist. Dem Christen nützt es beispielsweise wenig, wird er mit der bekannten Geschichte vom ungläubigen Thomas gerüffelt und angehalten, gefälligst auf die Anweisungen zu hören, die ihm von oben über die Relaiskette Papst – Bischof – Pfarrer durchgegeben werden. Faktisch wünscht sich das Gros der Kirchenschäfchen eben doch einen handfesten Beleg für die Gunst des Himmels, denn wer glaubt schon gern an die Katze im Sack?

Die Menschen schätzen Kirchen, die Reliquien besitzen und Gott dadurch ein Stückchen näher gerückt sind. Daraus ergibt sich relativ logisch die Überzeugung, dieser Abstand ließe sich durch zwei Reliquien weiter verkürzen. Natürlich geben zehn Reliquien noch größere Sicherheit – und bald waren die Kirchen und Klöster des mittelalterlichen Abendlandes in einen erbitterten Wettlauf um die Relikte der ‚besten‘ Heiligen verwickelt.

Ärgerlicherweise hat der Himmel seine Heiligen limitiert. Aber sie verlieren ihre Wunderwirkung nicht, wenn man sie in Stücke hackt, woraufhin sich so manche Märtyrerleiche in Fragmenten über ganz Europa verstreute. Reliquien wurden für unglaubliche Geldsummen gehandelt, getauscht, gefälscht, gestohlen: Eine regelrechte Industrie siedelte sich in diesem Umfeld an und lebte sehr gut vom religiösen Wahn der Zeitgenossen.

Mittelalter als Abenteuer-Spielplatz

In dieses Milieu verlegt Debüt-Autorin Sylvian Hamilton das erste Abenteuer des Kreuzritters a. D. und „Knochenhändlers“ Sir Richard Straccan. Es entstand ein wüster Thriller à la „Der dreizehnte Krieger“, dessen Autori auch vor Elementen des Schauerromans nicht zurückschreckt: Der historische Kriminalroman war mit „Der Knochenhändler“ sichtlich in seine Spätphase eingetreten. Nachdem im Sog von Umberto Ecos Monumental-Bestseller „Der Name der Rose“ (1982) zwei Jahrzehnte ein Heer schlauer Mönchlein und gewitzter Nonnen die Langmut des Publikums mit rasch ausgeleierten Krimimaschen überstrapaziert hatte, begannen sich die Grenzen des Genres aufzulösen.

Hamilton gibt nicht einmal mehr vor, eine realistische Geschichte vor dem Hintergrund einer realen Historie erzählen zu wollen. Die historischen Fakten sind zwar korrekt aber für die eigentliche Handlung nicht bestimmend. Den Tenor bestimmt eindeutig ein allwissender Erzähler aus der Gegenwart, der den Figuren oft Gedanken ins Herz setzt und Worte in den Mund legt, die diesen 1209 fremd gewesen wären.

Schon mit der ersten Zeile wird deutlich, dass man die folgenden 360 Seiten nicht auf die Goldwaage legen sollte: „In der Krypta der Klosterkirche von Hallowdene kochten die Mönche ihren Bischof.“ Mit diesem genialen Auftakt gewinnt die Autorin nicht nur die Herzen seiner Leser zu gewinnen, sondern gibt auch den Ton vor für das, was folgt: eine mit Erzgaunern, Heuchlern, Urviechern und Schelmen besetzte, satirisch bis schwarzhumorig überzeichnete und dabei auch derben Klamauk à la Monty Python nicht scheuende Story. Schwarze Magie und Kannibalismus waren sogar im angeblich so finsteren Mittelalter keineswegs an der Tagesordnung, während der tatsächlich belegte Reliquienhandel von den Beteiligten sehr ernst genommen wurde.

Übertreibung und Übernatürliches

Straccans England gleicht der schwarzen Welt des europäischen Italo-Westerns: Gut und Böse gibt es nicht. Alle Beteiligten haben Dreck am Stecken; jeder belügt und betrügt jeden und ist auf den eigenen Vorteil bedacht. Dass Sir Richard nur bedingt diesem Bild gerecht wird und eigentlich ein anständiger Kerl ist, weiß er gut zu verbergen. Die Erfahrung des 4. Kreuzzuges (1202-1204), der das Heilige Land Palästina, das man von den Heiden befreien wollte, nicht einmal erreichte, sondern im christlichen (!) Konstantinopel endete, das man ersatzweise eroberte und plünderte, hat ihn desillusioniert und hart gemacht. Der zynische Handel mit den zerhäckselten Körpern angeblicher Heiliger ist für Straccan auch eine Abrechnung mit der Kirche und seinem König, die ihn benutzt und betrogen haben.

Im letzten Drittel wird es sogar phantastisch: Mit dem den Freunden des Unheimlichen sehr bekannten „verrückten Arabers“ Abdul Al-Hazred treten wir plötzlich ein in das düstere Universum des Cthulhu und seiner nicht minder finsteren Genossen, wie sie H. P. Lovecraft (1890-1937) erschaffen und unsterblich gemacht hat. Nun gruselt es tüchtig bis zum furiosen Finale auf dem kahlen Hexenberge, wobei das Erzähltempo kräftig anzieht und der Tonfall ernsthafter wird. Bevor die Story jedoch in Gefahr gerät, vollends zur Weird Fantasy zu mutieren, wird sie zu ihrem wenig überraschenden aber zufriedenstellenden Ende gebracht.

Den Knochenhändler möchte man jedenfalls gern wiedersehen. Erfreulicherweise sind die beiden nachfolgenden Bände ebenfalls übersetzt hierzulande erschienen. Zwar sind sie längst vergriffen aber antiquarisch problemlos und kostengünstig zu erwerben.

Autorin

Die Engländerin Sylvian Hamilton führte viele Jahrzehnte ruhiges unauffälliges Leben als als Sekretärin, Journalistin und schließlich Antiquitätenhändlerin. Höchstens den Sherlock-Holmes-Aficionados galt sie seit den 1980er Jahren als ausgewiesene Spezialistin, doch deren Zahl hält sich in Grenzen.

Nach einem fünfjährigen Kanada-Aufenthalt zog sich Hamilton mit ihrem Gatten auf eine Farm in Wales zurück. Eine schwere Krebserkrankung zwang sie zur Aufgabe ihrer beruflichen Aktivitäten. Die Krankheit überwand sie, doch machte ihr Arthritis zunehmen das Leben schwer.

Erst im hohen Alter begann Hamilton Romane zu schreiben. 2000 erschien „The Bone-Pedlar“ („Der Knochenhändler“), gleichzeitig erster Band einer Serie um den Reliquienhändler Sir Richard Straccan, der es im frühen 13. Jahrhundert mit allerlei Lumpen und Verschwörern aber auch mit Magie und Hexenmeistern zu tun bekommt. Zwei Fortsetzungen veröffentliche Hamilton bis 2004. Über der Arbeit am vierten Band ist sie am 28. Februar 2005 gestorben; er blieb unvollendet.

Taschenbuch: 364 Seiten
Originaltitel: The Bone-Pedlar (London : Orion 2000)
Übersetzung: Werner Siebenhaar
http://www.luebbe.de

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