Hannes Fricke – Jimi Hendrix. 100 Seiten (zum 50. Todestag)

Niemand, der miterlebt hat, wie Jimi Hendrix kometengleich am Pop-Himmel erschien, wird seine erste Begegnung mit dem Ausnahmemusiker je vergessen: Jimi Hendrix WAR Musik, seine E-Gitarre und er verschmolzen miteinander, die Musik durchströmte seinen Körper.

Hannes Fricke schildert Hendrix‘ kurze Karriere in allen Facetten, kommentiert die berühmten Auftritte in Monterey und Woodstock, analysiert eingehend Hendrix‘ Spieltechnik. Jimi Hendrix wurde am 18. September 1970 vor 50 Jahren tot aufgefunden. Am 27. November 2017 wäre er 75 Jahre alt geworden. (Verlagsinfo)

Der Autor

Hannes Fricke, geboren 1967, gitarrenbegeistert seit dem elften Lebensjahr , arbeitet als Verlagslektor. Er ist davon überzeugt, dass man über Musik am besten schreibt, indem man theoretische Überlegungen und eigene praktische Erfahrungen zusammenführt. (Verlagsinfo)

Inhalt

1) „Ein Leben – eine Tasche: festgefroren, losgeeist, wieder festgefroren“

„James Marshall Hendrix“ alias „Jimi Hendrix“ wurde am 27.11.1962 als John Allen in Seattle geboren und starb angeblich am 18.9.1970 im Londoner Stadtteil Kensington. Diese Info wird im „Tod“-Kapitel korrigiert, ist also mit Vorsicht zu genießen: Demnach starb Hendrix im Hotel Samarkand Stadtteil Notting Hill (S. 86) statt im noblen Cumberland Hotel, wo er eingecheckt war.

Dazwischen scheint er hauptberuflich Gitarrengott gewesen zu sein, wie es der Nachwelt beliebt. Der war er aber nicht immer, sondern, wie der Autor vielfach belegt, musste er sich – nach seinem Militärdienst als Fallschirmspringer – erst einmal in vielen Bands und Formationen hocharbeiten. Er schuftete im Chitlin‘ Circuit, der ihn durch US-amerikanische Klubs führte, die nur für Schwarze reserviert waren. Das war während der Segregation, der Rassentrennung. Little Richard warf ihn raus, weil er fürchtete, dieser Gitarrist könnte ihn an die Wand spielen.

In New York City soll ihn die Frau von Keith Richards entdeckt haben und „Chas“ Chandler empfohlen haben, seines Zeichens der Bassist der „Animals“. Chas schlug zu, investierte seinen letzten Penny und holte diesen Fabelgitarristen im Herbst 1966 ins Swinging London. Dort zeigte der schwarze Ami den weißen Blues-Göttern, wo der Hammer hängt. Mit weißen Begleitmusikern spielte der Schwarze Rock, und was für welchen! Er stellte die Aufnahmetechnik auf die Probe, als er die LP „Are You Experienced?“ raushaute und umgarnte die Hippies mit der LP „Axis, Bold as Love“. Hendrix war übrigens ein extrem belesener Musiker, der sehr viel für Science Fiction (vgl. „Purple Haze“) und die Mystik eines Khalil Gibran übrighatte.

Gleich nachdem die Beatles, also der höchste Pop-Adel, im Juni 1967 ihr superteures „Sgt. Pepper“-Album vorgestellt hatten und er dazu die Vorgruppe gab, düste er nach Kalifornien ab. Sein Auftritt auf dem Monterey Music Festival elektrisierte die Leute, besonders die Frauen: Etwas dermaßen unverschämt Sexuelles hatten sie noch nie auf der Bühne gesehen. Der Typ machte Sex mit seiner E-Gitarre und fackelte sie dann auch noch ab!

Die Kapitelüberschrift bezieht sich v.a. auf den Inhalt der unvermeidlichen blauen PanAm-Tasche, die Jimi stets auf Reisen und Tour mitnahm. An einer Stelle (S. 5ff.) wird genau verraten, was sich Wichtiges darin befand.

2) „Die Musik: Struktur, Seele, Technik“

Ein wirklich anspruchsvolles Kapitel, in dem der Autor wirklich, aber auch wirklich alle Hendrix-Exegeten und -Apologeten und -Experten zitiert, die in seiner Bibliografie am Schluss dieses Büchleins zu finden sind. Denn hier gilt es etwas relativ Undefinierbares zu definieren: Was zeichnete Hendrix als Künstler aus, der ein ganzes Musikgenre revolutionierte?

Offenbar vor allem zwei Aspekte seien hierfür hervorzuheben: die Motivation und die Methode. „Hendrix will durch Lautstärke und Elektrizität buchstäblich in die Menschen hineingreifen und sie von innen heraus umkrempeln.“ Das steht sowohl auf dem Backcover als auch in diesem Kapitel. Die Frage ist aber, ob die meisten Künstler nicht die emotionale Teilhabe erreichen wollen. Denn sie ist für die Wirkung der Musik, des Theaterstücks, des Balletts usw. unerlässlich. Eine Darbietung, die das Publikum kalt lässt, verfehlt ihren Zweck.

Die Motivation ist also okay, doch es ist vor allem die Methode, die Hendrix aus der Masse heraushebt: Gitarre spielen können viele, aber Jimi hat Elektrizität ins Gitarrespielen integriert, als hätte es zuvor nie etwas anderes gegeben. Er war selten ohne Gitarre zu sehen, seine Fender Stratocaster (siehe Woodstock) spielte er immer „verkehrtherum“, denn er war ja Linkshänder (wie Ringo Starr und Paul McCartney), brachte sie zum jaulen, heulen und Donnern, etwa in „Star-spangled Banner“. Er benutzte offenbar selbst die simpelsten Effektgeräte mit großer Wirkung, und das Wah-wah-Pedal spielte er ganz anders als seine Kollegen. Und ihn vor eine Wand von Marshall-Verstärkern zu stellen, hieß, einen Sturm zu entfesseln. Fazit: Hier wird das Gitarrenspiel orchstral.

Dies ist wohl für Musiker, besonders Gitarristen der interessanteste und erhellendste Teil des Buches. Hier endlich spricht der Musiker Fricke, und was er zu erzählen weiß, war für mich wirklich Neuland. Wer will, findet unter dieser Adresse mehrere eingespielte Hörbeispiele in verschiedenen Variationen.

Also: „diverse Hendrix-Stücke“, als da wären (ab S. 58):

a) Hey Joe (eine Cover-Version)
b) Purple Haze (beruht auf einer SF-Story)
c) Little Wing (ein geniales Original)
d) Voodoo Child (Slight Return) (dito)
e) The Star-Spangled Banner“ (die Nationalhymne, um Himmels willen!)
f) All Along the Watchtower (eine alte Dylan-Nummer von ca. 1968, aber mit umgeschriebenen Lyrics)

Hierbei in Details gehen zu wollen, würde zu weit führen und außerdem einen SPOILER nach dem anderen erzeugen. Auf jeden Fall ziehe ich meinen Hut vor soviel Sachverstand. Man schaue sich mal den Jazz-Akkord auf S. 63 an: ein sehr seltsamer Dominantseptakkord Dur 7/#9, z.B. in E-Dur. Zu „Voodoo Child“ geht der Autor besonders auf das innovative Spiel mit dem Wah-wah-Pedal ein. Da spricht die Erfahrung aus dem Selbstversuch. Zu „Watchtower“ liefert der Autor zusätzlich den Ansatz einer Interpretation der Lyrics mit, und das ganze zwölf Seiten lang. Das hat einen Hauch von Doktorarbeit.

3) „Der Tod“

Es gibt mehrere Versionen darüber, wie Hendrix zu Tode kam. Dieses Rätsel ist am besten bei Krimilesern aufgehoben. Alle Versionen werden ab. Seite 86 (s.o.) analysiert. Und nicht immer kommen Jimis Begleiter*innen dabei gut weg. Immerhin ließ seine Freundin Katy Etchingham (S. 13) seinen Tod 1992 erneut untersuchen.

4) „Vier Hendrix-Stücke und ihre wichtigsten Cover-Versionen“

a) Hey Joe
b) Are You Experienced?
c) Purple Haze
d) Third Stone From the Sun

Unvermeidliche Kollegen von Hendrix tauchen hier auf, also Roy Buchanan und Stevie Ray Vaughan (der ebenfalls im „Klub 27“ der toten Musiker eincheckte, soweit ich weiß). Zu nennen sind aber auch Nigel Kennedy, Sting (wunderbar in „Little Wing“) und einige weitere.

5) Coda: Was bleibt?

Eine ganze Menge. So sollte man beispielsweise die vier LPs kennen, die zu Jimis Lebzeiten erschienen – allerdings in völlig unterschiedlicher Setlist dies- und jenseits des Atlantiks. Und nach seinem Tod ging es erst richtig los. Dass Hendrix Pläne hatte, sich mit ELP zusammenzutun und schon einen Anfang mit klassischem Orchester absolvierte, wissen die wenigsten Jimi-Fans.

6) Lektüretipps

Eine qualifizierte Bibliografie mit wirklich brauchbaren Urteilen zu den vielen Titeln.

Textschwächen

S. 42: „der extrem kreative Umgang [und] diesen Effektpedalen.“ Wenn man „und“ durch „mit“ ersetzt, ergibt der Satz einen Sinn.

S. 56: „A[u]ktionskatalog“ in der Bildunterschrift. Das U fehlt.

S. 90: „sie benutz[t]e Details aus Erzählungen anderer…“ Das T fehlt.

S. 94: „Nguyen Lés Version [von „Are You Experienced“] als Jazzgitarren-Crossover ist eine Eröffnung.“ Dann wird aber nicht gesagt, was da denn eröffnet wird. gemeint ist vielmehr „Offenbarung“.

Unterm Strich

Dieses Büchlein ist wider Erwarten vollgestopft mit brauchbaren Informationen und weiterführenden Tipps. Mehrere Bilder lockern die dichten Texte auf. Der Inhalt eignet sich aufgrund seiner Gewichtung teils für Jimi-Hendrix-Fans, die seinen Werdegang als Mensch und Musiker verfolgen wollen. Sie erhalten auf S. 30/31 eine Timeline mit allen wichtigen Events ihres Idols. Der zweite Schwerpunkt richtet sich an Gitarrenfans, die möglichst selbst Spielerfahrung besitzen sollten. Sonst könnten sie mit Akkorden wie E7/#9 (S. 63) wenig anfangen.

An diese und das breite Publikums der Hendrix-MUSIK-Fans richten sich die sechs ausführlichen Song-Analysen ab Seite 58. Allein dem Titel „All Along the Watchtower“ sind zwölf Seiten gewidmet. Da hat sich der Autor richtig reingekniet. Diesen Teil ergänzen die Vorstellungen der Coverversionen von vier Songs (ab S. 92), beispielsweise von „Little Wing“, einem der schönsten Liebeslieder überhaupt. Alles in allem eine geballte Ladung musikalische Analysen und Tipps.

Auf die Druckfehler hätte ich gut verzichten können, aber die vielen Fotos, Zeichnungen, Faksimiles und die Timeline gleichen das wieder aus. Tipp: Die online vorliegenden Hörbeispiele sollte man unbedingt mal abhören. (Der Link ist geprüft.)

Taschenbuch: 100 Seiten
ISBN-13: 9783150204368

www.reclam.de

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