Harald Gilbers – Germania

Im Sommer des Jahres 1944 sucht ein Serienkiller Berlin heim. Der zuständige SS-Ermittler zwingt den jüdischen Ex-Kommissar Oppenheimer zur Mitarbeit. Dieser bringt Schwung in die Fahndung, während er gleichzeitig seinen ‚Kollegen‘ im Auge behält, der ihn nach erfolgreicher Jagd ins KZ abschieben müsste … – Hervorragend recherchiert, sauber geplottet, flüssig und ohne erhobenen Zeigefinger geschrieben: ein spannender Roman, der sich vor fremdsprachigen Historien-Thrillern keineswegs verstecken muss.

Das geschieht:

Im Sommer des Jahres 1944 können auch die hartgesottenen Nationalsozialisten nicht mehr ignorieren, dass der Krieg einen für das Deutsche Reich ungünstigen Verlauf genommen hat. An der Ostfront werden die Sowjets immer stärker, im Westen bereiten die Alliierten die große Invasion vor. Über Berlin werfen Flugzeuge bei Tag und Nacht ungehindert ihre Bombenfracht ab; die deutsche Luftwaffe ist machtlos.

Reibungslos funktioniert nur noch der Völkermord. In Berlin werden die letzten jüdischen Mitbürger erfasst. Wer nicht in einem Rüstungsbetrieb schuftet, wird in eines der gefürchteten Konzentrationslager verschleppt. Auch Robert Oppenheimer und Gattin Lisa erwartet dieses Schicksal. Der ehemalige Star-Kommissar der Berliner Kriminalpolizei musste seinen Posten längst räumen. Zu Recht ist er voller Furcht, als ihn ein Kommando der SS aufgreift: Ist seine Zeit abgelaufen?

In Berlin treibt ein Frauenmörder sein Unwesen. SS-Hauptsturmführer Vogler ist mit der möglichst raschen und reibungslosen Aufklärung des Falles betraut, kommt aber nicht weiter. Notgedrungen springt er über seinen Schatten und schaltet Oppenheimer ein. Dieser fängt schnell wieder Feuer; er hat die Polizeiarbeit geliebt. Außerdem hofft er, unter Voglers Schutz vor der Deportation sicher zu sein.

Oppenheimer vergisst freilich nicht, dass er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat. Zwar entwickelt sich ein vorsichtiges Vertrauensverhältnis, doch stellt sich die Frage, ob Vogler seinen Schutzbefohlenen fallenlassen wird, wenn der Mörder gefasst ist. Außerdem führt die Fahndung gefährlich tief ins nationalsozialistische Milieu hinein. Die „Goldfasane“ werden unruhig: Viele hohe Nazis sind damit beschäftigt, ihr Schäflein ins Trockene zu bringen. Zeugen sind unerwünscht. Doch die Zeit drängt, denn der Killer fühlt sich um die erhoffte Aufmerksamkeit betrogen und beschließt, seinen mörderischen Einsatz zu erhöhen …

Die Mörder sind unter uns

Die Ausgangssituation ist aus mehreren Gründen bestechend: Ein Mörder sucht die Hauptstadt eines Landes heim, das von Schwerkriminellen regiert wird. Der Täter gehört zum Kreis der Privilegierten, während der Ermittler auf den äußersten Gegenpol verbannt wurde: Robert Oppenheimer ist nicht nur kein Nazi, sondern Jude und damit per se in Lebensgefahr. Zu allem Überfluss ‚arbeitet‘ er für einen weiteren hohen Nazi, der Oppenheimer mit hoher Wahrscheinlichkeit liquidieren wird, sobald dieser seine Schuldigkeit getan hat.

Harald Gilbers ist nicht der erste Autor, der diese brisante Konstellation genutzt hat. Agententhriller und Kriminalromane, die im Deutschen und Dritten Reich spielen, sind vor allem in den ersten Nachkriegsjahrzehnten sowie im angelsächsischen Sprachraum beliebt und zahlreich gewesen. Dort ließ man diese Ära auf abenteuerliche Art wieder aufleben. Hierzulande war man auf der ‚falschen‘ Seite und vorsichtiger. Nichtsdestotrotz erschien der Klassiker dieses Sub-Genres in Deutschland: Hans Hellmuth Kirst veröffentlichte 1962 „Die Nacht der Generale“, einen spannenden Thriller, der den psychologischen Sonderstatus des „Führerstaates“ bereits berücksichtigte.

Fünf Jahrzehnte später ist es zwar weiterhin möglich aber wenig ratsam, ein Buch zu schreiben, das den nazideutschen Alltag nur als exotischen Hintergrund für einen ansonsten ‚normale‘ Kriminalroman verwendet. Gleichzeitig sollte man das Pendel keineswegs zu weit auf die andere Seite ausschlagen lassen und sich an einem didaktisch wertvollen Thriller versuchen, der den Faktor Unterhaltung nur widerwillig in Kauf nimmt oder einseitig durch Betroffenheit ersetzt. (Wie man beide Sünden gleichzeitig begeht, demonstriert Philip Kerr – vermutlich unfreiwillig – mit seiner Bernhard-Gunther-Serie ab 2006.) Es ist also ein Balanceakt, auf den sich Harald Gilbers eingelassen hat. Umso erfreulicher ist die Feststellung, dass er über mehr als 500 Seiten das Gleichgewicht nie verloren sowie sein Ziel erreicht hat.

Verkehrte & verquere Welt

Um die Latte noch ein Stück höher zu legen, wählt Gilbers die frühsommerlichen Kriegsmonate des Jahres 1944 als Handlungszeitraum. Mit der alliierten Invasion in der Normandie ist das Schicksal Nazideutschlands besiegelt. Noch scheint es auf der Kippe zu stehen; Gilbers schildert einen Zustand, der einem Vakuum gleicht. Zwar fallen die Bomben über Berlin immer dichter, aber in diesen Juni-Wochen hat sich dennoch ein seltsamer Alltag eingestellt.

Doch dies ist die Ruhe vor dem Sturm, es rumort im Untergrund. In der Bevölkerung machen sich Zweifel breit. Das Regime beginnt den zweiten Samthandschuh auszuziehen: Nun geht es auch für den treuen „Volksgenossen“ mindestens an die „Heimatfront“. Gilbers hat nicht nur historische Fachliteratur, sondern auch zeitgenössische Chroniken und Tagebuchaufzeichnungen studiert. Diese bieten unmittelbare, dichte Stimmungsbilder, die der Autor sehr gelungen ins Geschehen einfließen lässt, ohne dieses darüber zu vernachlässigen.

Wie ermittelt man gegen einen Mörder, wenn Tatorte, Zeugenadressen oder ganze Kriminalarchive sich buchstäblich in Nichts auflösen? Der Bombenalltag gibt der Handlung einen eigentümlichen weil unwirklichen Verlauf. Auf allen gesellschaftlichen Ebenen beginnt der kluge Mann (und natürlich die Frau) für den Fall der Fälle vorzusorgen. Zwar wird offiziell der Glaube an den „Endsieg“ vermittelt, doch nicht nur die offiziellen Parolen klingen hohl. Der deutsche Bürger geht vorsichtig auf Abstand, das nazideutsche Regime wird nervös und damit noch gefährlicher.

Die Stadt als Wildnis

Aus dem organisierten Stadtleben ist eine permanente Ausnahmesituation geworden. Berlin beginnt sich nicht nur in eine Wildnis aus Ruinen und Trümmern zu verwandeln. Schlupfwinkel entstehen, in denen sich seltsame Bundesgenossen wiederfinden. Gilbers veranschaulicht, wie die nazideutsche Verwaltung schon in Friedenszeiten durch die Konkurrenz doppelt und dreifach existierender Einrichtungen geprägt wird. Dem „Führer“ ist die Effizienz dieser Stellen weniger wichtig als die Entstehung interner und externer Reibereien, deren Energien sich sonst womöglich gegen die Reichspitze richten würden. In einem gewagten aber dezenten Auftritt lässt Gilbers es Propagandaminister Goebbels Oppenheimer gegenüber so auf den Punkt bringen: „Was mich angeht, so sind Sie bis zur Beendigung der Untersuchung von der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk suspendiert. Bis dahin sind sie als Arier zu behandeln.“ (S. 404) So handelt kein dem Volk verpflichtetes Regierungsmitglied, sondern ein absoluter, selbstherrlicher Diktator.

Oppenheimer versucht einen waghalsigen Drahtseilakt, der wiederum eindringlich beschrieben wird. Der Ex-Kommissar muss seinen neuen Herrn zufriedenstellen sowie die Chancen nutzen, die ihm die gefährliche Nähe zum Regime bringt. Zwischen ihm und der Deportation steht nur Vogler, und der ist ein unkalkulierbarer ‚Freund‘. Irgendwann muss Gilbers ihn Farbe bekennen lassen: Ist Vogler ein eiskalter Nazi-Karrierist, der Oppenheimer scheinfreundlich ausnutzt, oder wird aus ihm ein ‚guter Nazi‘ und damit eine Klischee-Figur? So lange wie möglich lässt uns Gilbers im Dunkeln. Er findet schließlich einen Ausweg, der nicht originell ist aber glaubhaft ist; die Zahl der dramaturgischen Möglichkeiten ist ohnehin begrenzt.

Wohltuend ist der weitgehende Verzicht auf den Auftritt von Nazi-Prominenz. Goebbels vertritt sie in ihrem kriminellen Wahnwitz. Wohl eher dem Fachmann bekannt ist der Handlungsschauplatz „Salon Kitty“, ein vom Reichssicherheitsdienst verwanztes Bordell in Berlin-Charlottenburg. Ansonsten beschränkt sich Gilbers auf das Milieu der mittleren und unteren Nazi-Bonzen, was die bedrohliche Allgegenwärtigkeit des Regimes sogar steigert: Das Böse war auch außerhalb der Konzentrationslager oder besetzten „Feindgebiete“ vor allem schrecklich banal. Der Horror manifestiert sich nicht in Szenen demonstrativen Judenhasses. Gilbers setzt auf die Vorstellungskraft. So beschreibt er, wie ein Mitbewohner des „Judenhauses“ seine geheimen Vorräte verschenkt: Er wird deportiert und benötigt sie nicht mehr, weil er sterben wird.

Die Form passt zum Inhalt

„Germania“ ist nicht nur inhaltlich ein Genuss. Deutsche Krimis leiden oft unter einer ungelenken Sprache, deren dumpfe Ausdrucksschwäche vor allem im sog. Regional-Krimi zum Genrestil zu gehören scheint. Gilbers ist in Ausdruck und Grammatik durchaus elegant; man kann es auch so in Worte fassen: Er ist ein ausgezeichneter Erzähler, dessen ‚Stimme‘ man gern zuhört.

Handlung, Hintergrund und Historie gehen so eine selten gelungene harmonische Verbindung ein, ohne dass die Spannung darunter leidet. Um einschlägige Klischees weiß Gilbers Bögen zu schlagen. „Germania“ wird zum doppelten Horrortrip. Die fieberhafte Jagd auf einen Killer führt durch die irrwitzige Realität von Hitlers Albtraumreich. Das Ende ist quasi offen und muss offen sein, da die Geschichte sonst ihren Sinn verlieren würde. Eine Fortsetzung ist möglich, und dieses Mal empfindet der Leser dies nicht als Bedrohung. Auf jeden Fall wächst die Neugier auf weitere Werke des Verfassers!

Autor

Harald Gilbers (geb. 1969) studierte Anglistik und Geschichte in Augsburg und München. Er arbeitete als Feuilleton-Redakteur beim Fernsehen und wurde später als freier Theaterregisseur tätig. Gilbers lebt in Erding. „Germania“ ist sein erster Roman.

Harald Gilbers im Internet

Taschenbuch: 537 Seiten
www.droemer-knaur.de

eBook: 705 KB
ISBN-13: 978-3-426-41017-8
www.droemer-knaur.de

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