Charles L. Harness – Die in der Tiefe

Harness Tiefe Cover klein3000 Jahre nach dem III. Weltkrieg sieht sich die neu entstandene Zivilisation durch mutierte Nachkommen der alten Herrscherkaste aus dem Untergrund bedroht … – Die inhaltlich bekannte Geschichte vom bedrohlichen Erbe einer gewaltreichen Vergangenheit wird als spannendes Abenteuer erzählt und angenehm kurz gehalten: kurzweilige „Post-Doomsday“-SF schon älteren Datums, die auf politisch korrektes Moralisieren gänzlich verzichtet.

Das geschieht:

Vor drei Jahrtausenden ging die menschliche Zivilisation in einem weltweit geführten Atomkrieg unter. Die wenigen Überlebenden benötigten lange, um die Folgen zu überwinden. Auch die USA sind untergegangen. Erst allmählich beginnt eine Neubesiedlung der lange verstrahlten Regionen. Viele Artefakte der Vergangenheit wurden aus den Ruinen der großen Städte geborgen, instandgesetzt oder nachgebaut. Dennoch ist das ‚neue‘ Amerika ein Land der Kleinstädte und der Landwirtschaft geblieben.

Die Kenntnis um die Schrecken des Untergangs ist nicht vergessen. Deshalb wissen die Menschen durchaus von „denen in der Tiefe“, den Nachfahren der politischen US-Elite, die sich vor 3000 Jahren vor den einschlagenden Bomben tief unter die Erde flüchteten. Dort sind sie geblieben und begannen zu mutieren. Sie scharen sich weiter um einen „Präsidenten“ und führen Bürgerkrieg gegen die oberirdischen „Sonnenteufel“, deren Männer sie töten, während Frauen verschleppt werden.

Auch die junge Beatra fällt ihnen in die Hände. Jeremy Wolfhead, ihr Gatte, will sie um jeden Preis befreien. Dies bedeutet, den Entführern in ihr unterirdisches Reich zu folgen. Hochwertige Sensoren verbieten den Einsatz der neu erfundenen Waffen. Aber auch die Oberirdischen sind zum Teil mutiert: Jeremy ist ein geschickter Telekinet. Ihm zur Seite steht die intelligente Wölfin Vergil.

Die Reise ins Innere der Erde ist gefährlich. Riesige Höhlen verbergen tückische Fallen und hungrige Kreaturen. Die Zeit drängt, weil Jeremy seine Mutanten-Fähigkeit schwinden fühlt. Er erfährt außerdem vom Plan des Präsidenten, eine uralte, noch immer aktive Satellitenwaffe der Vorfahren zu aktivieren, um die „Sonnenteufel“ zu vernichten und die Oberfläche zu besetzen …

„Post Doomsday“ aber ohne erhobenen Zeigefinger

Seit den Atombomben von Hiroshima und Nagasaki, spätestens jedoch seit der Erkenntnis, dass außer den ‚guten‘ USA auch die ‚böse‘ Sowjetunion über „die Bombe“ verfügte, mehrten sich nicht nur die mit entsprechenden Sprengköpfen gespickten Raketen, sondern auch die Kritik an einem Wettrüsten, das einen III. Weltkrieg auslösen konnte, der gleichbedeutend mit dem Ende der Menschheit gewesen wäre. Schriftsteller reihten sich vorn in die Reihen der Mahner und Warner ein. In den 1950er Jahren entstand in der Science Fiction ein eigenes Sub-Genre: die „Post-Doomsday“-SF, die den Tag X und die daraus resultierenden Folgen anschaulich zu machen versuchte. Dies geschah mal mehr, mal weniger unterhaltsam, denn diesen Geschichten schien eine wichtige Moral innezuwohnen. Sie bestand in dem Appell, die Apokalypse zu vermeiden.

So hausbacken wie diese Parole lasen sich viele „Post-Doomsday“-Werke denn auch. Aus der Darstellung fiktiven Grauens ragte hoch der mahnende Zeigefinger auf, während darunter Geschehnisse und Figuren zu Klischees zu gerinnen begannen. Rückfall in Steinzeit oder Mittelalter plus mutierte Monster plus Geheimnisse einer versunkenen Vergangenheit: So einfach machten es sich zahlreiche Autoren.

Charles L. Harness hat in mehr als einem halben Jahrhundert nur zwölf Romane und etwa zwei Dutzend Kurzgeschichten geschrieben. Qualität ging ihm vor Quantität, und dazu gehörte für ihn nicht nur die Konzeption einer gut geplotteten und spannend umgesetzten Handlung, sondern auch die Vermeidung der genannten (und vieler anderer) Klischees. Wie „Die in der Tiefe“ belegt, ging er ihnen keinesfalls aus dem Weg; er spielte stattdessen mit ihnen und erzielte damit erstaunliche Ergebnisse.

Die Zukunft ist positiv

Die Gegenwart des 3. Jahrtausend nach dem Untergang ist genreuntypisch freundlich. Keineswegs haben die Menschen der (Natur-) Wissenschaft und Technik abgeschworen. Gern greifen sie auf die Kenntnisse der Vorfahren zurück, denn weite Reisen legen sie beispielsweise viel lieber mit einem Gleiter als mit Pferd und Wagen zurück. Das Wissen um die Errungenschaft der Vergangenheit wurde von einer Kirche bewahrt, die es nicht eifersüchtig hütete und ansonsten einen fundamentalistischen Gottesstaat errichtete, sondern es teilte und lehrte: Die strapazierten Klischees vom Wüten einer zukünftigen Inquisition erspart Harness seinen Lesern.

Wohltuend ist auch seine Charakterisierung jener Exklave, die tief unter der Erde die erwähnte Vergangenheit repräsentiert: Es sind keine verstrahlten Mutanten, die stur aber sinnlos uralten Ritualen folgen, sondern Menschen, die sich entwickelt haben und sich der Gegenwart vollauf bewusst sind. Im Inneren der Erde hat sich eine den Verhältnissen angepasste und auf ihre Weise zeitgemäße Gemeinschaft gebildet.

Nicht blinder Hass oder purer Vernichtungswille treibt die Höhlenbewohner an die Oberfläche. Harness postuliert eine konkrete und überzeugende Ursache, die er mit logisch klingendem Technobabble umschreibt und ins Geschehen integriert. Die ‚Lösung‘ des „Präsidenten“ ist dennoch infam; hier reitet der Verfasser zeitgenössisch auf jener Woge des Misstrauens gegen das politische Establishment der USA, die 1974 ihren Höhepunkt in der Entlarvung des realen Präsidenten Nixon fand, der manipuliert und betrogen hatte. Quasi ein zweiter Nixon ist es also, der nicht die Verständigung mit der oberirdischen Bevölkerung sucht, sondern sie auslöschen will.

Kurz und spannend geblieben

In der deutschen Fassung füllt „Die in der Tiefe“ gerade 160 (immerhin intensiv bedruckte) Seiten. Das erstaunt in einer Zeit, da noch die winzigste Idee zu mehrtausendseitigen Endlos-Fortsetzungen breitgetreten wird. So wirkt dieser Roman wie das Konzentrat einer Geschichte, die um ursprünglich angedachte Erweiterungen erleichtert und auf das Grundsätzliche verschlankt wurde. Viele Aspekte dieser zukünftigen Welt bleiben Andeutung. Diese Art der Selbstdisziplin fördert nicht nur die Zufriedenheit mit einer Story, die nicht über Gebühr strapaziert wird, sondern mutet auch wie eine Lektion an: Schaut her, ihr Schwätzer – so wird ökonomisch erzählt!

Ein weiterer Pluspunkt: Harness vermeidet jegliche Gefühlsduselei. „Die in der Tiefe“ ist reich an interessanten, gut ausgearbeiteten Figuren, die dem Leser auch deshalb ans Herz wachsen, weil sie ambivalent bleiben. Jeremy Wolfhead ist ein liebevoller Gatte und generell ein ansehnlicher Geselle. Gleichzeitig ist er ein eiskalter Killer: Wer sich ihm in den Weg zu seiner geliebten Beatra stellt, ist dem Tod geweiht. Die daraus resultierende Diskrepanz zwischen der Rettungsmission und der Zahl der sich dabei addierenden, eigentlich unschuldigen Opfer, die sie fordert, ist Jeremy bewusst. Harness lässt ihn darüber reflektieren. Die Entscheidung ist politisch höchst unkorrekt aber konsequent und ehrlich: Jeremy will seine Beatra zurück, und das um jeden Preis!

Wie Harness Erwartungshaltungen unterläuft, belegt auch seine Charakterisierung der Wölfin Vergil. Sie wurde durch die Einpflanzung eines Stückchens menschlichen Hirngewebes ‚humanisiert‘ – eine zwiespältige Operation, denn Vergil gerät damit in eine ungeliebte Zwischenwelt: Sie ist kein ‚richtiger‘ Wolf mehr, kann aber auch nicht wirklich ‚menschlich‘ werden. Vergil wurde quasi für die Reise in die Unterwelt geschaffen. Als diese Mission erfüllt ist, bleibt sie zurück. Ihr innerer Konflikt wird nicht mehr durch Handlungszwänge und Gefahren ausgeglichen. Vergils Schicksal ist durchaus tragisch.

Überhaupt vermeidet Harness das simple Happy-End. Keine gefährliche Mission endet ohne Opfer; höchstens in Hollywood ist dies so. Zwar bleibt die neue Erde bestehen, aber Jeremy muss seinen Preis zahlen. Die ‚Belohnung‘ für seinen Einsatz bleibt aus, die Früchte ernten andere. Diese Konsequenz in Verbindung mit einer farbenfrohen, ohne Längen erzählten Handlung werten „Die in der Tiefe“ zu einer erfreulich anderen und dennoch – bzw. gerade deswegen – vorzüglichen Geschichte auf.

Autor

Charles Leonard Harness (1915-2005) blieb sein langes Leben lang ‚Nebenbei-Schriftsteller‘, denn eigentlich war er Patentanwalt. Sein Werk blieb deshalb schmal. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb gelangen ihm einige der spannendsten und schönsten Beiträge zur Science Fiction. Schon 1948 erschien „Time Trap“, eine Kurzgeschichte, die Harness als einfallsreichen Verfasser mit einer Vorliebe für verzwickte Plots (und Zeitreisen) zeigt. Fünf Jahre später debütierte mit „The Paradox Man“ (dt. „Der Mann ohne Vergangenheit“) auch als Romanautor. Bis zu seinem Zweitwerk verstrichen volle 15 Jahre. Harness blieb ein Geheimtipp – ein Schriftsteller, der keine Furcht hatte, seine Leser mit komplexen Geschichten zu fordern. Folgerichtig zeichneten ihn die „Science Fiction and Fantasy Writers of America (SFWA)“ 2004 mit dem (ebenso pompösen wie nichtssagenden) Titel „Author of Distinction“ aus.

In den 1970er und 80er Jahren wurde Harness aktiver. Allerdings neigen strenge Kritiker dazu, die nun entstandenen Werke für konventioneller zu halten; Harness schien sich seinen Lesern zu nähern, die besagte Kritiker seit jeher für mehrheitlich dumm halten. Erst 2000 veröffentlichte Harness seinen letzten Roman und setzte sich zur Ruhe, was die SFWA dazu veranlasste, ihn 2004 als „Author Emeritus“ zu ehren.

Taschenbuch: 160 Seiten
Originalausgabe: Wolfhead (New York : Berkley 1978)
Übersetzung: Michael Kubiak
Cover: Roger Stine

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