„Die letzten 100 Tage …“ bietet „Geschichte light“, d. h. als Mischung historischer Fakten und persönlicher Zeitzeugenberichte – leicht verständlich, mit „menschlichem Gesicht“, reich bebildert. Die Darstellung hakt nicht die üblichen „wichtigen“ Ereignisse ab, sondern schildert die letzten Kriegsmonate unter Berücksichtigung aller Beteiligten, Täter wie Opfer, Mitläufer wie Regimegegner, Befreier wie Befreite: ein sinnvoller Einstieg in eine komplexe Materie.
Chronologisch nähert sich die Darstellung ausgehend vom 30. Januar dem Kriegsende am 8. Mai 1945. In fünf Großkapitel gliedert sich der Text (Januar 1945, Februar usw.), von denen die Kapitel „Januar“ und „Mai“ naturgemäß recht kurz ausfallen. Jedes Großkapitel wird durch einen Text eingeleitet, der kurz das Gesamtgeschehen im jeweiligen Monat erläutert und Zusammenhänge herstellt. Jedem Einzeltag sind anschließend zwei Buchseiten gewidmet; dieses Schema wird streng durchgehalten.
Die Einzeltag-Einträge bilden in ihrer Gesamtheit keinen einheitlichen Überblick, denn die Spannbreite der angesprochenen Themen soll möglichst groß sein; sie schließt deshalb das militärische und politische Geschehen ein, berücksichtigt aber stets auch Kunst, Kultur oder Sport. Dem „großen“ Ereignis wird ebenso viel Raum gewidmet wie dem Alltäglichen und dem Einzelschicksal. Zu Wort kommt weniger zeitgenössische Prominenz, sondern der „kleine Mann“ bzw. die „normale Frau“ im Getriebe der Kriegsmaschinerie: der Flakhelfer, die Hausfrau, der KZ-Häftling, die Flüchtlingsfrau, der Kriegsgefangene u. a. Im individuellen Erleben spiegelt sich so der „Endkampf“ wider: primär als Kampf um das nackte Leben, als undurchschaubares Tohuwabohu auch aus alliierter Sicht, als Katastrophe auf allen Ebenen, die selbst den Beteiligten unbegreifbar erschien.
Unterhalb des Textblocks läuft über jede Doppelseite ein „Nachrichtenticker“: Weitere wichtige Ereignisse des Tages, die keine Berücksichtigung im Haupttext finden konnten oder sollten, werden hier im Telegrammstil aufgelistet. Selbst Hitlers Ende im „Führerbunker“ findet nur hier Erwähnung – es bildet nur einen der unzähligen Mosaiksteine, aus denen sich der Leser ein Bild von den letzten 100 Tagen des Zweiten Weltkriegs zusammensetzen muss.
Illustriert wird dieses Buch mit über 160 oft großformatigen Bilddokumenten und Karten, gedruckt auf qualitätsvolles Kunstdruckpapier und deshalb von bemerkenswerter Eindringlichkeit.
Zum 60. Mal jährt sich das Finale des II. Weltkriegs. Eigentlich endete dieser ja zweimal: am 8. Mai in Europa, am 2. September in Asien. Hartmanns & Hürters 100 letzte Tage beschränken sich indes auf den europäischen Schauplatz, was angesichts der Fülle des Materials sowie der Beschränkung auf einen historischen Überblick akzeptabel ist.
Denn „Die letzten 100 Tage …“ ist ein Sachbuch im klassischen Sinn: geschrieben nicht für Spezialisten, sondern für den Laien, der sich für die Geschichte interessiert, aber nicht durch allzu offensichtliches Fachlatein abgeschreckt werden möchte. Schon die historisch sinnfreie Begrenzung auf ausgerechnet 100 letzte Tage ist ein Zugeständnis an die Leserschaft. In diesem Sinne vermitteln die Autoren Wissen auf denkbar moderne Weise: Sie bieten „historische Häppchen“ an, die auch den intellektuell stets fluchtbereiten Mitgliedern der multimedialen MTV/Pisa-Generationen X, Y und Z munden dürften.
Wobei dies keineswegs ein Kniefall vor einer traurigen Realität, sondern eine geschickte Anpassung an das moderne Leseverhalten ist. Wenn der „Lehrer“ gut vorarbeitet, ist es durchaus möglich, sich ein Thema quasi selbst zu erarbeiten, aus Facetten ein Gesamtbild zu verschaffen. Was sogar von Vorteil ist, da es „das“ Bild vom Zweiten Weltkrieg wahrscheinlich gar nicht gibt.
Hartmann & Hürter legen in kurzen Einstiegskapiteln Zusammenhänge offen. Dann gehen sie in Details. Bei näherer Betrachtung lassen sie freilich die Zeitzeugen nicht einfach nur sprechen. Ihre Äußerungen werden von den Autoren ausgewählt, in ein übergeordnetes Gerüst gebettet, kommentiert, interpretiert, wenn nötig korrigiert, da solche Zeugnisse aus der Vergangenheit trotz (oder wegen) ihrer Unmittelbarkeit nicht zwingend der Wahrheit entsprechen müssen.
Die ein- und überleitenden Texte sind mit großer Sorgfalt verfasst. Gerade in der Beschäftigung mit dem „Dritten Reich“ wird jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Historikerkollegen, die Medien und selbst berufene Tugendwächter läuten gern die Pestglocke – dies vor allem, wenn sie Relativierungen des NS-Unrechts wittern. Auch wenn hier immer wieder über das Ziel hinausgeschossen wird, so fördert die Gewissheit, von scharfen Kritikeraugen beobachtet zu werden, auf der anderen Seite die Sorgfalt von Autoren, die sich der thematischen Herausforderung stellen. Hartmann & Hürter wagen es und gewinnen. Auch in der erforderlichen Verkürzung achten sie auf historische Präzision.
Ausgewogenheit ist ein weiteres Merkmal ihres Werks. Zu Wort kommen sie alle: die „guten Deutschen“, die „bösen Nazis“, die Mitläufer; die Übergänge sind da fließender als den meisten Zeitzeugen selbst oder den Nachgeborenen klar ist. Die Opfer des Naziterrors werden nicht verklärt, sondern behandelt, wie sie es verdient haben: als ganz normale Menschen, die wegen einer kriminellen Wahnidee buchstäblich aus ihrem Leben gerissen wurden. Die schwer oder gar nicht begreifbare Selbstverständlichkeit und Alltäglichkeit, mit der dies anscheinend möglich war, wirkt viel erschreckender als jedes pathetische Zwangsgedenken, bei denen mit der Gnade der späten Geburt gesegnete Politiker betroffene Minen aufsetzen, Kränze austeilen & „Nie wieder!“-Reden schwingen.
Die letzten 100 Kriegstage werden selbstverständlich auch aus der Sicht der alliierten sowie der sowjetrussischen Zeitzeugen kommentiert. Hier schlägt das noch heute nachwirkende Unverständnis darüber durch, wieso die Deutschen, die selbst am besten wissen mussten, dass für sie der Krieg verloren war, den Kampf bis zum bitteren Ende nicht aufgaben. US-Amerikaner, Briten, Franzosen, Russen – sie alle kamen nicht nur in ein feindliches, sondern in ein zutiefst fremdes Land. So geht es uns Lesern von Heute ebenfalls, zumal der Verdrängungsprozess in Deutschland – die Autoren gehen auch darauf ein – bereits in diesen 100 letzten Tagen mächtig einsetzte.
Schon angesprochen: die Qualität der Bilder, die zudem gut ausgewählt, d. h. nicht tausendfach gesehen wurden und den Text illustrieren, ergänzen, kommentieren. Ein Bild sagt in der Tat oft mehr als tausend Worte. Absurdität und Agonie des „Drittes Reichs“ werden selten so offensichtlich wie in jenem Bild, das Adolf Hitler im Februar 1945 weiterhin in Großmachtsträumen schwelgend tief versunken beim Anblick eines bizarren Metropolis-Modells der geplanten „Führerstadt“ Linz zeigt („Tag 34“). Der Krieg ist längst mehr als verloren, aber er läuft wie geschmiert weiter – man beginnt zumindest zu ahnen wieso.
Christian Hartmann und Johannes Hürter arbeiten als Historiker am Institut für Zeitgeschichte in München. Dort forschen sie seit Jahren über die Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Die Ergebnisse geben sie einerseits als Dozenten an der Universität der Bundeswehr München weiter, während sie andererseits für eine Fülle von Publikationen zum Thema verantwortlich zeichnen. Hartmann wirkte außerdem als wissenschaftlicher Berater bei dem Aufsehen erregenden Filmwerk „Der Untergang“ mit.