Landkarten waren und sind mehr als simple Wegweiser. Um das in ihnen fixierte Wissen entbrannten früher regelrechte Kriege. Heute sind alte Karten wertvolle Dokumente und begehrtes Diebesgut, das oft viel zu nachlässig geschützt wird … – Ein nur scheinbar papiertrockenes Thema der Historie wird kundig und spannend erläutert. Leider lassen die Abbildungen zu wünschen übrig, und der Autor wird ein wenig esoterisch; trotzdem ein Lern- und Lesevergnügen.
Dunkle Geschäfte mit Karten
Portugal im Jahre des Herrn 1592: Das kleine Land am Westrand der iberischen Halbinsel beherrscht die Meere und gebietet in Asien, Süd- und Mittelamerika über ein Kolonialreich, das an Größe das Mutterland weit übertrifft. Damit dies so bleibt, werden die Seekarten streng unter Verschluss gehalten, denn die Portugiesen wissen: Nicht militärische Macht, sondern der Wissensvorsprung sichert ihre Präsenz auf den Weltmeeren; die Konkurrenz weiß schlicht nicht, wie sie dorthin gelangen kann, wo Handelsgüter und Schätze locken.
Allerdings schläft besagte Konkurrenz nicht. Just wurden die Brüder Cornelius und Frederik Houtman aus Amsterdam mit einer fetten Prämie geködert. Im Auftrag lieber ungenannt bleibender Landsmänner sollen sie die begehrten Karten während einer angeblichen Handelsreise nach Portugal einfach stehlen. Doch sie werden erwischt und ins Gefängnis geworfen.
Vier Jahrhunderte später fällt einer gelangweilten Studentin in der ehrwürdigen „George Peabody Library“ zu Baltimore (USA) ein betont unscheinbarer Mann auf, der offenbar heimlich mit einer Rasierklinge Kartenblätter aus alten Büchern schneidet! Die alarmierten Sicherheitskräfte nehmen den seltsamen Bücherfreund fest und landen dadurch einen Coup: Gilbert Bland jr. ist der „Al Capone der Kartographie“, wie ihn die Presse bald nennen wird. Seit Jahren bereist er die Archive und Bibliotheken seines Landes, um dort die Bestände gezielt um jene Karten zu erleichtern, die unter Sammlern begehrt und damit gut zu verkaufen sind. Über 250 Karten im Wert von mehr als 500000 Dollar stellt die Polizei bei Bland sicher, doch ist davon auszugehen, dass die Dunkelziffer jener Werke, die auf Nimmerwiedersehen verschwunden sind, noch weitaus höher liegt; vom Schaden, der mit der systematischen Zerstörung intakten bibliophiler Kostbarkeiten einher ging, ganz zu schweigen.
Instrument der Zivilisation
Der Journalist Miles Harvey wird auf den Fall Gilbert Bland aufmerksam. Bis dato rezensierte er Reiseberichte aus aller Welt, sodass eine gewisse Affinität zum Thema Kartographie bestand. Nun will Harvey der Geschichte des wohl schlimmsten Kartendiebes der Geschichte nachgehen; es wird eine vier Jahre währende, höchst abenteuerliche Reise zurück in die Geschichte einer Wissenschaft, in der sich die Grenzen zwischen Geografie, Politik und Kunst verwischen und die von Verbrechen und Wahn begleitet wird. Harvey nimmt seine faszinierten Leser auf einen Streifzug mit, der sie staunend und überwältigt erkennen lässt, dass sich die menschliche Zivilisation zu einem guten Teil auf ihre Karten gründet. Schon in der Steinzeit war das so, und dieser Bogen lässt sich mühelos über die Antike und das Mittelalter bis in die Jetztzeit und die Ära der satellitengestützten Kartographie schlagen.
Wie sich das Bild der Welt über viele Jahrhunderte gewandelt hat, ist das eine Thema, dem Harvey viel sachkundige Aufmerksamkeit widmet. Dabei fesselt nicht nur die historische Darstellung, die immer wieder durch spannende Exkurse und Anekdoten nicht nur aufgelockert, sondern ideal ergänzt wird, sondern auch Harveys Talent, sein nur scheinbar papiertrockenes Thema mit Leben zu erfüllen: „Gestohlene Welten“ ist kein der Bauern- bzw. Leserfängerei verpflichteter Titel, sondern beschreibt eine seit ewigen Zeiten übliche Praxis der Kartographie.
Karten sind nicht nur nützlich, Karten sind auch schön anzuschauen, weil in ihre Erstellung in der Regel große Mühen, viel Zeit und noch mehr Geld investiert werden. Auch hier hat sich Harvey schlau gemacht und die Kartographen von heute besucht. Wer hätte gedacht, dass sie im digitalen Zeitalter weiterhin viele Techniken anwenden, die schon bekannt waren, als die unbekannten Weiten der gezeichneten Weltmeere noch mit allerlei Ungeheuern bevölkert wurden? Und weiterhin ist Wissen gleich Macht: Die Kartenkünstler der Gegenwart sind kaum weniger geheimniskrämerisch und knausrig mit ihren Informationen wie ihre Vorfahren, und hinter den Kulissen geht es wie vor 400 Jahren ziemlich rau beim Wettlauf um die beste (und am besten verkäufliche) Karte zu!
Objekt der Begierde
Um die inhaltlich wie formal definitiv überholten alten Karten hat sich eine eigene Interessengemeinschaft formiert. Geboren aus der Faszination des Fremden, der Freude am kunstvoll Dargestellten oder einfach schlichter Geldgier wurde die antike Karte zum Wertobjekt. Dazu bedurfte es der Schaffung eines Mythos‘, um die Zahl potenzieller Sammler und Kunden zu vermehren. Das Fundament war nach Harvey bereits vorhanden. Wer kennt nicht Literaturklassiker wie „Die Schatzinsel“ von Robert Louis Stevenson oder „Der Schatz der Sierra Madre“ von B. Traven, in denen alte Schatzkarten zum Katalysator für Legenden werden? So ist es bis geblieben, nur dass heute geschäftstüchtige Männer und Frauen die daraus erwachsende Liebe zu alten Karten gezielt fördern.
Miles Harvey besucht Graham Arader, den selbst ernannten Papst des Handels mit antiquarischen Karten, der diesen zu einer regelrechten Wachstumsindustrie gepusht hat. Sagenhafte Gewinnspannen, verblüffend gutgläubige Käufer und das notorische Desinteresse der breiten Öffentlichkeit und vor allem der Behörden schaffen einen Mikrokosmos, in dem zwielichtige Elemente hervorragend gedeihen.
Harvey recherchiert die Hintergründe einer ganz eigenen Form der Kriminalität, die ausgezeichnet von den alten Karten lebt. Gilbert Bland war und ist beileibe kein Einzelfall. In Archiven und Bibliotheken rekonstruiert Harvey, wie Bland seine Raubzüge realisieren konnte. Er kommt zu der deprimierenden Erkenntnis, dass es schrecklich einfach wäre, ähnlich zu handeln. Karten und Bücher haben keine echte Lobby, sind keine herzigen Pandabären oder schnittigen Oldtimer, die von der Öffentlichkeit quasi adoptiert und mit Spendengeldern bedacht werden. Sträflich unterbezahlte und überarbeitete Angestellte sollen in schlecht gesicherten aber leicht zugänglichen Gebäuden etwas schützen, für dessen Erhalt sich niemand wirklich zuständig fühlt. In Zeiten leeren Kassen ist auch nicht damit zu rechnen, dass sich dies ändern wird.
Harvey schildert die Wut und die Hilflosigkeit derer, die mit diesen Problemen fertigwerden müssen. Das Schicksal der „Peabody Library“, in deren Hallen Bland, der Kartendieb, festgenommen werden konnte, ist nur eines der vielen gut gewählten, aber deprimierenden Beispiele dafür, wie Einrichtungen, die einst mit dem hochherzigen Ziel gegründet wurden, auch dem sprichwörtlichen kleinen Mann Zugang zum gesammelten Wissen dieser Welt zu gewähren, wirtschaftlich systematisch ausgehungert werden und zu reinen Lagerhäusern verkommen, in denen die aufbewahrten Schätze nicht selten buchstäblich verrotten, noch bevor sie gestohlen werden.
Recherche wird zur Selbstfindung
In der zweiten Hälfte beginnt „Verlorene Welten“ an einer typisch US-amerikanischen Krankheit zu leiden: Miles Harveys Ausflug in die Wunderwelt der Kartographie verwandelt sich in einen Selbsterfahrungs-Trip mit küchenpsychologischer Nabelschau. Plötzlich meint der Verfasser unsichtbare Bande zwischen sich und dem Objekt seiner Jahre währenden Recherchen zu entdecken, die der nüchterne Leser nur schwer oder gar nicht nachvollziehbar findet. Natürlich ist es wichtig (wenn auch nicht überraschend) zu erfahren, dass sich hinter Gilbert Bland kein dämonischer Mabuse des Kunstraubes verbirgt, sondern nur ein gewöhnlicher Dieb, der im Privatleben ein Versager und armes Würstchen ist. Trotzdem bemüht sich Harvey, Bland zum unfreiwilligen Helden in der Tragödie seines Lebens aufzuwerten. Immerhin bemerkt er es und ist auch ehrlich genug, seinem Publikum zuzugeben, dass er zunehmend eigene unbewältigte Probleme auf Bland projiziert. So ist es vermutlich nur gut, dass sich dieser stets hartnäckig geweigert hat, sich von Harvey interviewen zu lassen: Der Leser möchte gar nicht so viel über Gilbert Bland, sondern mehr über die Kartographie hören. Nach ihrer Geschichte und ihren Geschichten wird man eindeutig süchtig, und glücklicherweise kehrt der Verfasser immer wieder zu ihr und ihnen zurück.
Die einzigen Wermutstropfen in diesem schmackhaften Sachbuch-Cocktail stellen die Abbildungen dar. Fototafeln gibt es nicht, nur Kartengrafiken werden schwarzweiß wiedergegeben. Doch diese stehen selten mit dem Text im Einklang, sondern meist isoliert da. Zudem arbeitet Harvey mit schlecht gewählten Ausschnittvergrößerungen, die skurrilen, aber aus dem Zusammenhang gerissenen Details den Vorzug geben.
Trotzdem: „Verlorene Welten“ ist ein Juwel seiner Gattung – ein Sachbuch mit Thriller-Qualitäten, das wieder einmal unter Beweis stellt, dass eigentlich kein Thema gibt, für das man seine Mitmenschen nicht begeistern kann. Man muss es nur geschickt genug an- bzw. darstellen!
Website des Verfassers
Taschenbuch: 352 Seiten
Originaltitel: The Island of Lost Maps – A True Story of Cartographic Crime (New York : Random House 2000)
Übersetzung: Andrea Ott
http://www.randomhouse.de/btb
Der Autor vergibt: