Eine Frau will mit ihrer Kusine und deren Mann ein paar Tage in einem Jagdhaus in den Bergen verbringen. Abends unternimmt das Paar noch einen Gang ins Dorf. Am nächsten Morgen stellt sich heraus, dass die beiden nicht zurückgekehrt sind. Zusammen mit dem Hund macht die Frau sich auf, um sie zu suchen. Plötzlich kehrt der Hund mit blutender Schnauze zurück. Dann stößt sie selbst an ein unsichtbares Hindernis. Es ist eine riesige gläserne Wand. Die Frau, der Hund, eine Katze und eine trächtige Kuh sind in einem genau umgrenzten Stück Natur gefangen.
Die Autorin
Marlen (eigentlich Marie Helene) Haushofer wurde am 11. April 1920 in Frauenstein, Oberösterreich, als Tochter eines Revierförsters geboren. Sie studierte 1940 Germanistik in Wien und Graz und lebte später mit ihrem Mann, einem Zahnarzt, und zwei Kindern in Steyr. Sie starb am 21. März 1970 in Wien. Sie schrieb neben ihrer Tätigkeit als Hausfrau und Sprechstundenhilfe hauptsächlich Romane, Novellen, Erzählungen sowie Kinder- und Jugendbücher. Sie wurde von österreichsichen Schriftstellern gefördert.
Obwohl sie unter anderem 1968 mit dem Österreichischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet worden war, hatten ihre Bücher erst nach ihrem Tod großen Erfolg, als die Frauenbewegung sie für sich entdeckte. Aufgrund der Thematik ihrer Bücher wird sie in der Tradition August Strindbergs gesehen und mit Simone de Beauvoir in Verbindung gebracht.
Die Sprecherin
Elisabeth Schwarz spielte u. a. in Stuttgart, Frankfurt/M. und München Theater. Von 1985 bis 2001 war sie Ensemble-Mitglied des Hamburger Thalia-Theaters. In Film- und TV-Rollen war sie u. a. in „Aus einem deutschen Leben“ und im „Tatort“ zu sehen. (Verlagsinfo)
Handlung
Es ist der letzte Tag des Aprils, als unsere Chronistin mit dem Ehepaar Hugo und Luise Rücklinger in den Urlaub fährt, wobei sie die Kinder zurücklässt. Von deren Vater ist nicht die Rede. Luise ist ihre Kusine. Sie fahren hinauf in die Berge, wo sie im Jagdhaus der Rücklingers wohnen wollen. Auf dem Weg hat Hugo seinen Hund Luchs abgeholt. Es ist ein kluger, abgerichteter Jagdhund, der nur Hugo als seinen Herrn anerkennt.
Es ist die Walpurgisnacht. Abends gehen die Rücklingers noch einmal ins Dorf, und nachdem sie beim Licht einer Petroleumlampe – es gibt keinerlei Elektrizität – gelesen hat, geht sie zu Bett, ohne dass ihre Gastgeber zurückgekommen wären. Das merkt sie aber erst am Morgen, und sie macht sich gleich auf den Weg durch die Schlucht zum Dorf. Als der Hund mit einer blutenden Schnauze zu ihr zurückkehrt und sie daran zu hindern versucht, weiterzugehen, macht sie sich ein wenig Sorgen. Dann stößt sie mit der Stirn an die WAND.
Die Wand ist vollständig unsichtbar, sie kann nicht aus Glas sein, sondern aus einem anderen Material. Es spiegelt nicht, klingt nicht, gibt nicht nach. Zuerst weigert sich ihr Verstand, sich mit dem Hindernis zu beschäftigen. Sie bemerkt, dass die Wand den Bach gestaut hat; das Hindernis reicht nicht tief in den Boden. Da bemerkt sie einen Mann auf einem Weiler jenseits der Wand. Etwas ist sonderbar an ihm: Obwohl er sich am Brunnen wäscht, bewegt er sich nicht, als sei er völlig erstarrt. (Später bemerkt sie noch eine Frau und mehrere erstarrte Vögel.)
Warum ist die Straße leer? Warum kommt niemand? Ist die Welt auf einmal ausgestorben? Hat ein Krieg mit einer neuartigen Waffe stattgefunden, die nur Lebewesen tötet, so wie die Neutronenbombe? Die „humanste Teufelei“. Sie fragt sich, warum nur sie verschont geblieben ist und ob es noch andere Überlebende gibt. Nachdem sie mit Stöcken die Wand markiert hat, erkennt sie deren Verlauf: Sie ist eingesperrt. Panik. Luchs, der Hund, heult nach seinem verlorenen Herrn. Sie schläft nur noch mit einem Gewehr, das geladen neben dem Bett hängt.
Anderntags findet Luchs eine brüllende Kuh, die zwei Tage nicht gemolken worden ist, und treibt sie mit der Frau zum Jagdhaus. Sie erleichtert die Kuh, die sie Bella nennt, von ihrer schmerzenden Last. Auch Bella hat eine blutende Schnauze. Weil sie eine Verpflichtung darstellt, betrachtet sich die Frau nun als Gefangene. Sie beginnt ihren Bericht, den sie an einem 5. November beenden wird, weil ihr das Papier ausgeht. Anhand der Zündhölzchen kann sie ausrechnen, wie lange sie in der Lage sein wird, einmal pro Tag Feuer anzuzünden: zweieinhalb Jahre. Ihre Überlebensfrist.
Denn schon am 27. Oktober fällt der erste Schnee. Nachdem sie Kartoffeln geerntet und Heu eingebracht hat – ungewohnte, harte Arbeit -, zieht sie sich mit einer Katze und mit Luchs ins Haus zurück. Eines der Jungen der Katze, die schneeweiße „Perle“, ist schon gestorben. Draußen in der Wildnis ist das Kätzchen angegriffen und so schwer verletzt worden, dass es in der Hütte gestorben ist, vor den Füßen der Frau. Der Tod ist heimgekommen.
Der Kampf ums Überleben geht weiter, Rehe sind im Winter erfroren, und eine weiße Krähe ist aufgetaucht, die die Frau füttert, bis sie zahm ist. Sie hilft Bella bei der Geburt eines Kalbes, und es geht wieder hinauf auf die Alm. Aber diese ist nicht mehr verlassen …
Mein Eindruck
Die Geschichte ist durchweg sehr einfach in der sprachlichen Gestaltung. Die meisten Beschreibungen drehen sich um den Alltag der namenlosen Hauptfigur und Ich-Erzählerin, die sich von einer Städterin überraschend schnell zu einem „planenden Ackerbauer“ entwickelt. Sie kann offenbar auf viele Kenntnisse zurückgreifen, die ein Stadtmensch nicht besitzt. Das verwundert nicht, wenn man weiß, dass die Autorin die Tochter eines Revierförsters war. Und in den 20er und 30er Jahren, als sie aufwuchs, kannte man noch viele Dinge über das Landleben und beherrschte entsprechende Fähigkeiten. Für uns heutige Stadtmenschen wird der Roman zu einem Ausflug in eine archaische Welt, die am ehesten noch an realistische Fantasyromane erinnert.
Das bedeutet nicht, dass die Hauptfigur keine Zeit zum Denken hätte. Kalte Winterabende und verregnete Nachmittage können sehr lang sein, wenn man ganz allein ist auf der Welt. Beim Denken grübelt sie natürlich über die Ursachen und Folgen der drastischen Veränderung der Welt nach. Wenn ein Krieg die Ursache war und alles außerhalb der Wand tot ist, dann müssten auch die Kinder der Frau tot sein. Sie wagt nicht, sich das vorzustellen. Sie fragt sich, wo die Sieger bleiben, die ja das leere Land besetzen müssten. Kein einziger Sieger taucht jemals auf. Es muss ein furchtbarer Krieg sein, der keinen Sieger kennt – etwa ein Atomkrieg.
Nachdenken über die Frau an sich
Und obwohl sie nun auch über Begriffe wie Ehre, Freiheit und Liebe nachdenkt, ist es doch etwas anderes, was ihre Tätigkeiten anschaulich vor Augen führt. Es ist die Selbstverwirklichung einer Frau unter den – unrealistischen, weil utopischen – Bedingungen einer Isolation von jeglicher männlicher Dominanz und Einengung. Die Frau entdeckt eine Gegenwelt ohne soziale und technologische Zerstörung, ja, aber nur in ihrem eng umgrenzten, von der Wand beschützten Bereich. Diese Wand ist schon bald kein Hindernis mehr, sondern Teil ihres Ichs, an den sie nicht mehr denkt, weil sie ihn als gegeben hinzunehmen gelernt hat.
Das bedeutet aber nicht, dass hier kein Mann auftauchen kann. Als es unvermittelt dazu kommt, entlädt sich das Aufeinanderprallen der beiden Existenzwelten in einer Explosion tödlicher Gewalt. Drei Lebewesen kommen um. Danach ist das Leben der Frau erheblich ärmer, aber sie sieht auch jetzt noch einen Silberstreif am Horizont. Sie will nicht zulassen, dass die weiße Krähe stirbt.
Unterdrückung vs. Entfaltung
Nach Meinung von Literaturlexika ist es das Anliegen der Autorin, „die Unterdrückungsmechanismen aufzudecken, denen die Frau (also vor der Frauenbewegung) in einer patriarchalischen Gesellschaft ausgesetzt ist. Das entspricht einem Diktum von Simone de Beauvoir aus dem Jahr 1951: ‚Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.‘
Die Bereitschaft der Frau, die ihr zugewiesene Rolle hinzunehmen, und das Scheitern weiblicher Ausbruchsversuche werden psychologisch aus frühkindlichen Erfahrungen [der Autorin] abgeleitet.“ Die einfache Sprache ist dennoch auf subtile Weise ausdrucksstark; sie deutet tiefe Emotionen lediglich leise an. Tiere – im Roman etwa der Jagdhund Luchs – sind die Spiegel dieser Gefühle und dürfen sie deutlicher zeigen. Die Hauptfigur in „Die Wand“ legt ein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen für alle Tiere an den Tag, die ja ihre einzigen Freunde sind.
Angeblich wirken die Zwänge des Frauenalltags blockierend auf die weibliche Persönlichkeitsentfaltung, und eine Folge sei die geistige und psychische Isolation. Die Autorin hat in Romanen wie „Eine Handvoll Leben“ (1955), „Die Tapetentür“ (1957) und „Die Mansarde“ (1969) dieses Thema variiert. In ihrem bekanntesten Roman, der negativen Utopie „Die Wand“, der im Jahr 1963 erschien, hat die Isolation eine symbolhafte Gestalt angenommen: eine transparente, ringsum eingrenzende Wand.
Diesmal engt die Wand nicht nur ein, sondern beschützt auch einen Spielraum für die Entfaltung einer Frau. Das Auftauchen eines Mannes bedroht diese Existenzform, wird keineswegs als Gelegenheit zur Fortpflanzung erkannt und genutzt, sondern führt vielmehr zu Zerstörung von Leben. Wahrscheinlich, so legt die Chronistin nahe, aufgrund eines Missverständnisses. Ist das nicht typisch für das Verhältnis zwischen Frauen und Männern?
Heidi-Land ist abgebrannt
„Die Wand“ ist also weit davon entfernt, eine Bergidylle à la „Heidi“ aufzubauen und zu befürworten. Hier, wo der Wildbach rauscht, kommen auch keine feschen Förster und Wilderer nächtens zu den Dirndln, um an ihre Stubenfenster zu klopfen. Das Bild, das die Autorin zeichnet, ist vielmehr das eines fortwährenden Kampfes ums nackte Überleben, wie sie es selbst als Förstertochter kennen gelernt haben dürfte. Was sie befürwortet, ist die Hand der Frau, die das Gedeihen und Wachsen von Flora und Fauna fördert, wohingegen der Mann, als er dann auftaucht, lediglich zerstört. Doch auch diese Utopie ist nur begrenzt haltbar: zweieinhalb Jahre, dann sind alle Zündholzer verbraucht.
Exkurs: Frauen-Utopias
Interessant wäre es auch gewesen, zwei oder mehr Frauen zusammen leben zu lassen. Die Zahl der weiblichen, um nicht zu sagen: feministischen Utopias ist nicht gerade groß, aber es gibt sie doch in einer beachtlichen Anzahl. Selbst männliche Großliteraten wie Gerhart Hauptmann haben sich darin versucht („Die Insel der Großen Mutter“, 1924). Später zählten „Herland“ und andere Inselwelten in der Tradition von Samuel Butlers „Erewhon“ (= „nowhere“ rückwärts geschrieben) dazu.
In den siebziger und frühen achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden auch in Science-Fiction und Fantasy Frauenutopias, so etwa „Der Strand der Frauen“ von Pamela Sargent, „Planet der Frauen“ von Joanna Russ und „Die Frau am Abgrund der Zeit“ von Marge Piercy.
Wegweisend ist auch Ursula K. Le Guins preisgekrönter SF-Roman [„Die linke Hand der Dunkelheit“ 785 (auch „Winterplanet“), in dem die Angehörigen der einheimische Bevölkerung des Planeten Gethen vor ihrem Fruchtbarkeitszyklus nicht wissen, ob sie männlich oder weiblich sein werden. Da gibt es für Außenweltler interessante Entdeckungen zu machen, z. B. in einer Monarchie …
Die Sprecherin
Elisabeth Schwarz verfügt über eine angenehme, reife Stimme, die sie eindrucksvoll zu modulieren versteht. Kein Wunder, denn sie ist ja bereits seit Jahrzehnten Schauspielerin. Aber das sind andere Sprecherinnen auch, und doch ist damit noch nicht gesagt, ob man ihnen auch gerne zuhört. Bei Schwarz ist das jedoch der Fall. Man hört ihr die Anteilnahme am Schicksal der Chronistin von „Die Wand“ an. Ihr Vortrag ist ebenso subtil im Ausdruck wie der Text selbst. Ich habe festgestellt, dass man ihn öfters hören sollte. Man kann immer wieder Neues dabei entdecken.
Unterm Strich
„Die Wand“ ist einer der grundlegenden Texte der so genannten „Frauenliteratur“ – Literatur von, für und über Frauen. Zur Zeit der Frauenbewegung, also in den 60er, 70er und frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, fand die negative Utopie der Autorin viel Beachtung. Aber auch heute noch ist es interessant und vor allem bewegend zu lesen, wie eine isoliert lebende Frau lernt, selbständig zu überleben, obwohl sie von den Annehmlichkeiten der städtischen Zivilisation und von jeglicher männlicher Unterstützung (Landarbeit ist verdammt harte Arbeit!) abgeschnitten ist.
Dabei sollte man nicht übersehen, dass als Ursache für die Ausgrenzung offenbar eine neue Art von Krieg dient: Die Geheimwaffe hat alles Leben jenseits der „Wand“ erstarren lassen und abgetötet. Doch die Sieger marschieren nicht ein. (Die Autorin erlebte die Nazis in Wien und Graz, wo sie 1940ff studierte.) Als endlich doch einmal ein Mann auftaucht, ist das Ergebnis wieder einmal ein Missverständnis und die Zerstörung von Leben, so als wäre der Krieg, die technologische, von Männern befohlene Zerstörung, in das Tal der Frau eingedrungen.
Das Szenario erinnert an andere Bücher über das Überleben von Frauen nach einem verheerenden Krieg, sei er nun atomarer, chemischer oder gar biologischer Natur. (Es gibt einen Comic namens „Y“, in dem nach einer Seuche nur ein einziger Mann überlebt hat, die Frauen aber die Zivilisation weiterführen. Als er in ihrer Mitte auftaucht, gibt es ein paar recht hässliche Szenen.)
Die Sprecherin vermittelt die bewegenden Bilder und Szenen, die die Autorin ihrer Chronistin in den Mund legt, ebenfalls ausdrucksstark, aber dabei nicht übertrieben, sondern subtil. Ich könnte ihr stundenlang zuhören.
Hinweis
Das Buch wurde bereits 2002 vom kleinen Verlag |Hörsturz| vertont, mit der Schauspielerin Julia Stemberger („Der König von St. Pauli“). Die aktuelle, ebenfalls gekürzte Fassung ist preisgünstiger.
140 Minuten auf 2 CDs
Hörbuch Hamburg
ISBN 3899031962
ISBN-13: 978-3899031966