Hawkes, Judith – kalte Hauch des Flieders, Der

Für David und Sally Curtiss geht ein Traum in Erfüllung. Die jungen Parapsychologen haben anscheinend ein „richtiges“ Spukhaus gefunden. Ist dies der Durchbruch für die viel belachte und verspottete „Wissenschaft von Dingen, die es nicht geben kann, aber trotzdem gibt“? Im Auftrag eines privaten Forschungsinstituts sollen sie den Gerüchten um Geistererscheinungen im Gilfoy-Haus auf den Grund gehen.

„Ihr“ Haus steht in Skipton, einer kleinen, verträumten Stadt im Westen des neuenglischen US-Staates Massachusetts. Auf den ersten Blick wirkt sein Anblick ernüchternd; es wurde zwar in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erbaut, aber Samuel Collins Gilfoy, der Bauherr, war ein sachlich denkender Mann, der für den überladenen Stil des viktorianischen Zeitalters nichts übrig hatte.

Die Recherchen lassen sich zäh an. Das Gilfoy-Haus stand lange leer, bevor sich David und Sally vor zwei Wochen dort eingemietet hatten. Frühere Bewohner sind verstorben oder unbekannt verzogen oder weigern sich, von ihren Erlebnissen im Haus zu berichten. Die wenigen Zeugen liefern vielversprechende, aber einander widersprechende Aussagen. David und Sally selbst fanden noch kein einziges Anzeichen für übernatürliche Ereignisse, obwohl sie das Haus vom Keller bis zum Dachboden untersucht und überall modernste technische Aufzeichnungsgeräte aufgestellt haben. Sally, die über hellseherische Fähigkeiten verfügt, hat allerdings bereits einige Unstimmigkeiten bemerkt, die sie David indessen verschweigt; mit der Ehe der beiden Wissenschaftler steht es nicht zum Besten, doch sie lassen den Konflikt schwelen, statt sich auszusprechen.

David lädt Rosanna, ein weibliches Medium, ins Gilfoy-Haus ein, und während einer Séance gelingt es endlich, Kontakt zu einem der „Hausgeister“ aufzunehmen. Wer es ist, bleibt aber unklar; die Indizien weisen auf Julian Gilfoy hin, der 1906 in jungen Jahren und unter ungeklärten Umständen im Haus zu Tode kam.

Endlich mehren sich die Zeichen für einen echten Spuk im Gilfoy-Haus. Während David dies mit wachsender Begeisterung registriert, keimt in Sally Besorgnis auf. Der Geist des Hauses scheint langsam Besitz von David zu ergreifen, der dies entschieden abstreitet. Sein Interesse verwandelt sich langsam in eine Obsession. Schließlich verlässt Sally das Gilfoy-Haus, während ihr Ehemann zurückbleibt. Kurze Zeit später ruft er sie an und teilt ihr mit, er habe das Haus ‚gereinigt‘. Sally kehrt zurück, doch als sie das Haus betritt, weiß sie nicht, wer sie dort empfängt – David oder Julian …

Das verwunschene, von Geistern heimgesuchte Haus – eines der ältesten Sujets der fantastischen Literatur und ein Dauerbrenner bis auf den heutigen Tag. Mitten im eigenen Heim, dort, wo man sich sicher glaubt und Zuflucht vor den Beschwernissen des Alltags sucht, wird man von übernatürlichen, unsichtbaren Kräften geplagt – ein Albtraum, der in zahllosen Büchern und Filmen, Comics und Computer-Spielen eifrig heraufbeschworen wird.

Im Subgenre der Geisterhaus-Literatur gibt es einige geradezu klassische Themen. Sehr beliebt ist die Geschichte von der harmlosen Durchschnitts-Familie, die ahnungslos in ein Spukhaus einzieht, um dort aus dem Jenseits gepiesackt zu werden (das „Poltergeist“/“Amityville“-Muster). Hawkes greift ein zweites, ebenso beliebtes Motiv auf: Eine Gruppe von Wissenschaftlern untersucht ein heimgesuchtes Haus. Anfangs noch skeptisch und mit allem ausgerüstet, was Labors und Forschungsstätten hergeben, müssen sie auf die harte Tour lernen, dass es tatsächlich Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die sie (bzw. die Schulweisheit) nicht erklären können.

„Der kalte Hauch des Flieders“ ragt aus der Flut der Spukhaus-Romane zunächst ein gutes Stück heraus. Hawkes geht recht sachlich an das Thema heran. Von vornherein vermeidet sie es, mit billigen Tricks Spannung zu erzwingen. Es gibt keine in Gefahr zu bringenden Kinder (allerdings einen niedlichen Hund …), keinen verrückten, missgestalteten „Gast“, der sich im Keller oder auf dem Dachboden versteckt, keine verbotene Liebe, die einst tragisch endete und aus dem Jenseits fortgesetzt wird, oder was der abgegriffenen Klischees mehr sind. Die Autorin hat ausführliche Recherchen über das Thema PSI in allen seinen schillernden Farben angestellt. Ihre Kenntnisse lässt sie oft und gern in die Geschichte einfließen, aber solche Exkurse wirken nicht aufgesetzt, sondern informativ.

Überhaupt verschweigt Hawkes niemals die vielen Schwierigkeiten, der sich moderne „Geisterjäger“ ausgesetzt sehen. Die Parapsychologie ist ein junger und höchst ungeliebter Seitentrieb am Baum der Wissenschaft, dem die meisten „seriösen“ Forscher zu gern mit einer scharfen Axt zu Leibe rücken würden. Die Erforschung des Jenseits ist eine undankbare Aufgabe, da die Geister, so es sie denn gibt, leider keinerlei Interesse daran haben, sich der Welt der Lebenden unter Bedingungen zu präsentieren, die Betrug, Fehlinterpretation oder Halluzination definitiv ausschließen. Die Folge: Obwohl es die Anhänger des Okkulten vehement abstreiten, ist es bisher niemals gelungen, schlüssige und wirklich überzeugende Beweise für „das Jenseits“ zu erbringen. (Den Quantenphysikern geht es übrigens ebenso, aber das scheint seltsamerweise niemanden zu stören …)

Die Ausgewogenheit, mit der sich Hawkes ihrem Thema nähert, bedingt denn auch die gravierende Schwäche des Buches: Die Autorin konnte sich niemals wirklich entscheiden, ob sie nun einen „echten“ PSI-Roman oder einen Psycho-Thriller schreiben sollte. Spukt im Gilfoy-Haus nun der Geist des unglücklichen Julian umher? Ist das Haus nur eine „Batterie“, welche Wut und Unglück seiner längst verstorbenen Bewohner gespeichert hat? Haben sich David und Sally so sehnsüchtig einen „echten“ Geist gewünscht, dass sie ihn quasi selbst erst ins Leben gerufen haben? Interpretieren sie Vorkommnisse als Botschaften aus dem Geisterreich, für die es bei nüchterner Betrachtung völlig natürliche Ursachen gibt? Hawkes hält sich alle Optionen offen; der Leser soll selbst entscheiden. Leider bleibt dadurch auf den letzten zweihundert Seiten die Spannung allmählich auf der Strecke. Ein echter Höhepunkt bleibt aus.

Natürlich ist es klug, die subtil entwickelte Atmosphäre nicht durch ein Pandämonium urplötzlich aus allen Mauerritzen und Parkettspalten hervorquellender Gespenster zu zerstören, aber so läuft die Handlung einfach allmählich aus. Der eigentliche Schluss ist zwar logisch, andererseits aber doch nicht so neu oder originell, dass er dies ausgleicht. „Der kalte Hauch des Flieders“ (der Titel widerspricht übrigens entschieden dem Anspruch auf subtilen Tiefgang, den der Rowohlt-Verlag erhebt – „Julians Haus“ wäre korrekt und angemessen gewesen, doch offensichtlich traut man dem dummen deutschen Grusel-Fan nicht zu, ein Buch mit diesem Namen aus dem Regal zu ziehen) ist aber auf jeden Fall eine schöne Abwechslung von den Dampfhammer-Schockern à la King, Koontz oder Hohlbein, die seit einigen Jahren zumindest in den großen Verlagshäusern die Programmplätze für fantastische Literaturtitel blockieren.