Hayder, Mo – Pig Island

_Hexenjagd: das Ende der Vernunft_

Als der Journalist Joe Oakes eine zurückgezogen lebende Sekte auf einer abgelegenen schottischen Insel besucht, will er eigentlich nur das Rätsel um ein Touristenvideo lüften. Es zeigt zwei Sekunden lang ein großes Wesen, das auf zwei Beinen geht, aber einen langen Schwanz trägt. Sind die Sektenmitglieder Satanisten? Oakes kennt den Sektenführer Malachi Dove schon seit langen Jahren.

Doch Oakes Erwartungen werden enttäuscht. Dove ist verschwunden. Warum will absolut niemand in der Sekte etwas über die satanische Erscheinung auf dem Video sagen? Und was verbirgt sich hinter dem hohen Elektrozaun jenseits der zentralen Schlucht? Es kommt zu einer gewalttätigen und blutigen Auseinandersetzung. Und Oakes muss sich fragen, ob es nicht seine Einmischung war, die erst zu dieser Katastrophe geführt hat.

_Die Autorin_

Mo Hayder wurde in Essex geboren, verließ mit fünfzehn ihr Zuhause, um in London das Abenteuer zu suchen, und hat später viele Jahre im Ausland verbracht. Dabei lebte sie u. a. in Japan, wo sie als Hostess in einem Tokioter Nachtclub arbeitete. Mit ihrem Romandebüt, dem Psychothriller „Der Vogelmann“, wurde sie zur Bestsellerautorin.

Diesem Buch folgte „Die Behandlung“, ebenfalls ein Psychothriller mit Detective Inspector Jack Caffery. Diesen Erfolg unterstrich sie mit dem fulminanten Thriller [„Tokio“. 2194 Sie hat Creative Writing studiert und unterrichtet gelegentlich auch an ihrer alten Uni, der Bath Spa University. Hayder lebt als freie Schriftstellerin mit Lebensgefährte und Tochter in London. „Pig Island“ ist ihr vierter Roman.

_Handlung_

Joe Oakes ist schon seit vielen Jahren ein investigativer Journalist für die Regenbogenpresse. Er stammt aus der Liverpooler Arbeiterklasse, und das merkt man seiner ruppigen Ausdrucksweise deutlich, in der das F-Wort eine prominente Stellung einnimmt. Er hat einen Bruder, Finn. Mit dem besuchte er vor über 20 Jahren den Mann, bei dem ihre krebskranke Mutter Geistheilung erhofft und nicht gefunden hatte: der selbsternannte Reverend Malachi Dove. Der leitet eine Sekte von Leuten, die der modernen Medizin abgeschworen hat und wie die Wiedergeborenen Christen nur auf Gottes Hilfe vertraut: die PHM oder Psychogenic Healing Ministries.

Als seine Mutter unter Qualen starb – sie verweigerte Morphium – lernte Joe, Malachi Dove bis aufs Blut zu hassen und drohte ihm den Tod an, sollte er jemals seinen Weg kreuzen. Nun jedoch ist es soweit.

Auf der Flucht vor dem US-Finanzamt IRS hat sich Dove eine kleine schottische Insel gekauft, die man allgemein Pig Island nennt, im Gälischen aber Cuigeach Eilean oder Hinkende Insel. Der Grund, warum Joe mit seiner Frau Lexie hinfährt, ist ein Touristenvideo, auf dem zwei Sekunden lang ein großes schwarzes Wesen mit einem langen Schwanz zu sehen ist, das aufrecht geht. Haben sich die PHM-Leute mit dem Teufel eingelassen?

Als sein Kontaktmann Blake ihn an der Küste abholt, befürchtet Joe bereits das Schlimmste, doch der Empfang der kleinen PHM-Gemeinde auf der Insel ist freundlich. Sie wollen etwas Wichtiges von Joe. Malachi Dove lebt noch, auf der anderen Hälfte der Insel, jenseits einer tiefen von Giftmüll verseuchten Schlucht. Und ihm gehört der meiste Grund und Boden hier. Den wollen sie haben. Und weil Joes Story über Eigg Island bereits zu einem ähnlichen Ergebnis geführt hat, soll er ihnen helfen, diesen Grund und Boden zu erhalten, um ihn gewinnbringend zu verkaufen. Alles klar?

Ist Joe völlig klar und recht. Doch deshalb ist er nicht hergekommen. Und außerdem gibt es Widerstand gegen diesen Plan. Die Familie Garrick fordert, dass Dove in Ruhe gelassen werde, weil er mit dem Satan im Bunde steht. Nach einem beeindruckten Blick in die aus dem gewachsenen Fels geschlagene Kapelle der Gemeinde sucht Joe einen Weg, der ihn auf das Land von Dove führt. Die 17-jährige Sovereign Garrick hilft ihm dabei.

Die erste der drei Expeditionen endet am Drahtzaun. Dort wachen Videokameras über jede Bewegung. Dass Pig Island seinen Namen nicht umsonst trägt, wird aus den alle drei Meter auf die Zaunpfähle gespießten Schweinsköpfen ersichtlich, die wie Teufelsfratzen Besucher abschrecken. Der Erfolg dieser Maskerade ist durchschlagend. Man steckt Joe in Arrest. Doch an einen Sprung aus dem Fenster haben seine Wächter offenbar nicht gedacht.

Seine zweite Expedition endet dramatischer. Joe hat eine Drahtschere mitgebracht. Leider hat er nicht bedacht, dass der Elektrozaun enorm geladen ist und interpretiert das statische Summen um eine Millisekunde zu spät als das, was es andeutet: einen derart gewaltigen Stromschlag, dass Joe für Stunden wie gelähmt auf der Erde liegt. Als Malachi Dove gemächlich erscheint, kann er Joe in aller Ruhe mit der Axt ein Ding verpassen, von dem sich Joe erst nach zwei Wochen erholt hat. Lexie ist entsprechend entsetzt.

Joe ist hartnäckig. Ein Boot bringt ihn zur Doves Domizil. Es ist leer, scheint aber bewohnt zu sein. Doch wo ist der Erzfeind? Es gibt nur eine logische Erklärung: Dove ist in der PHM-Gemeinde. Als Joe dort endlich eintrifft, glaubt er, in seinen schlimmsten Albtraum geraten zu sein. Denn hier ist keine Menschenseele mehr am Leben. Nur die Schweine. Sie fressen …

_Mein Eindruck_

Dies ist nicht einmal das erste Drittel dieses an Überraschungen reichen Thrillers. Joe findet auf der Insel nicht nur Malachi Dove, sondern auch dessen Tochter Angeline. Diese junge Frau von knapp 19 Jahren weist einige Besonderheiten auf, von denen die sichtbarste sicherlich ihr Schweif ist. Offenbar ist sie es, die auf dem Touristenvideo kurz in Sicht kommt. Was es mit dieser Deformierung auf sich hat – damit muss nicht nur Joe, sondern auch dessen Frau Lexie zurechtkommen. Bei Joe löst sie einen erotischen Schub aus, bei Lexie, die Angeline zunächst halb fürsorglich, halb egoistisch aufgenommen hat, einen Schub blanker Eifersucht.

Überhaupt, Lexie. Sie stammt im Gegensatz zu dem Arbeitersohn aus der oberen Mittelklasse. Nicht nur verrät ihr Wortschatz, den sie in ihren Briefen an ihren Psychotherapeuten schreibt, eine viel bessere Bildung, sondern auch völlig andere Werte, als Joe sie an den Tag legt. Das zeigt sich deutlich an der Reaktion der beiden auf den Arzt, der Angeline als erster untersuchen darf. Der richtig edel gekleidete Mann ist genau Lexies Kragenweite bei der Partnerwahl, doch für Joe ist er nur ein Kleiderständer, der sich doch eigentlich selbst lächerlich vorkommen müsste. Angelines Reaktion auf die unterschiedlichen beiden Menschen Joe und Lexie fällt dementsprechend aus. Sie sucht Schutz, aber nur bei Joe.

Doch Joe hat dafür kaum einen Blick, ist er doch nur von einem besessen: von dem spurlos verschwundenen Malachi Dove. Zusammen mit den führenden Beamten der Polizei der Grafschaft Strathclyde Strujters und Danso jagt er einem Mann nach, der sich letzten Endes als Phantom erweist. Die Folgen sind nichts weniger als tragisch zu nennen. Statt nachzudenken, verrennt sich Joe in einen Albtraum. Bis es zu spät ist.

|Das dicke Ende|

„Pig Island“ scheint nach dem zweiten Drittel so dahinzuplätschern, aber der Schein trügt. Hätte nämlich der Leser etwas länger nachgedacht als Joe Oakes, dann wäre er auf die Lösung des Rätsels gekommen: Warum wurden in der Kapelle Spuren von 31 Menschen gefunden, obwohl doch in der Sekte nur 30 gelebt haben? Dass Malachi Dove den Tod gefunden haben könnte, will Joe einfach nicht in den Schädel. Lieber jagt er einem Phantom hinterher. Oder schreibt an seinem Buch über das, was er auf Pig Island erlebte.

Doch Angeline ist keine Puppe, die man in die Ecke stellen könnte, sondern ein lebendiges Wesen, das zwar anders gebaut ist, aber dennoch unbestreitbar weibliche Attribute aufweist: Er verliebt sich in sie. Sein Bruder Finn ist erst abgestoßen, dann fasziniert – das Buch, das Joe schreibt und er als Literaturagent verkauft, wird garantiert ein Bestseller. Und die Fotosession mit einer glamourös auftretenden Angeline wird bestimmt der Hammer.

Doch wie so oft hat auch diese Geschichte ein dickes Ende. Joe sieht es nicht kommen und der Leser, der aus seinem Blickwinkel die Entwicklung betrachten muss, ebenso wenig. Die Überraschung, die Struthers und Danso auf Lager haben, stellt die bisher erzählte Geschichte auf den Kopf. Joe kann kaum so schnell denken, dass er gleich begreift, was hier nicht stimmt. Man hält ihn für den Schuldigen, dabei muss es doch jemand anderes gewesen sein! Können das die sturen Bullen denn nicht kapieren?

Mit Joe verstehen wir uns nur allzu gut. Und das zwingt den Leser, entweder die letzten Seiten mehrmals zu lesen oder den Roman nochmals von vorne anzufangen. Denn nun haben alle Beobachtungen und Deutungen, die Joe uns liefert, eine völlig andere Bedeutung, und zwar nicht nur am Anfang auf Pig Island, sondern auch später im Fall Lexie.

Diese Umkehrung aller Annahmen im Licht neuer Erkenntnisse und Folgerungen kann nur der Leser selbst leisten. Das erweist sich als Geniestreich der Autorin. Denn nun ist es der Leser selbst, der das Grauen erzeugt und schier am eigenen Verstand zweifelt. Wie konnte dieser oder jener Hinweis nur übersehen werden? Wie ist ist es möglich, dass man so leichtgläubig auf die Annahmen des braven Joe Oakes hereinfiel?

|Der Skeptiker wird bekehrt|

Joe ist ein abgebrühter Erforscher des so genannten Übernatürlichen. Geistheilungen, weinende oder blutende Statuen, verkleidete Riesenaffen oder Urmenschen – er entlarvt alles als Scherz und Betrug. Er ist der geborene Skeptiker und sein Geschäft als Enthüllungsjournalist für die Sensationsblätter besteht genau darin, mit Mitteln der Vernunft den Betrug durch religiösen Wahn oder Aberglauben aufzudecken. Er würde sich für den Weißen Ritter der Vernunft halten, wenn dieses Bild nicht so abgeschmackt wäre.

Aber Joe ist es am Schluss, der heulend und schreiend an der Straße steht und einer wegfahrenden Frau nachbrüllt: „You evil witch!“ Wie konnte es so weit kommen, dass er einen religiösen Begriff – „evil“ – und einen des Aberglaubens – „witch“ – in einem Atemzug nennt und zwar voll irrationalem Hass? Es ist das Kunststück der Autorin, den Weg, der an diesen Endpunkt führt, geradezu unmerklich zu pflastern und dann noch einen draufzusetzen. Es sieht für die Polizei so aus, als sei es Joe, der am Massaker auf Pig Island schuldig sei. Durch seine eigene Blödheit, seine Verblendung durch Dove, hat er zugelassen, dass er nicht mehr klar denkt, und das Unheil quasi eingeladen, das nun schließlich über ihn hereinbricht.

|Hexenjagd|

Mehrere Aspekte machen die Geschichte dieses Romans aktuell relevant, besonders für Briten. Es geht um Ausgrenzung einer anders orientierten religiösen Gemeinschaft. Dass Christen inzwischen auch mit muslimischen Glaubensangehörigen ein Problem haben, dürfte bekannt sein. Das Problem wurde verschärft, als Muslime im Namen Allahs Bombenanschläge auf Unschuldige verübten (Juli 2005). Eine wahre Hexenjagd begann, in deren Verlauf die Täter und deren Familien gesucht und teilweise verhaftet wurden. Für rechtsgerichtete Kreise ein gefundenes Fressen, um gegen alle Andersartigen zu hetzen.

Es ist kein Zufall, dass Antiterroreinheiten bei der Aufklärung des Massakers auf Pig Island eingesetzt werden. Diese Leute sind eben am besten für die Spurensuche und das Aufspüren Verschwundener gerüstet. Für Joe sieht es aus wie auf einem Filmschauplatz, als die Cops ihr Lager aufschlagen. (Eine sehr gut geschilderte Szene.) Sie stellen die Normalität auf den Kopf. Und wenn sich Joe ein wenig mehr für ihre Ergebnisse interessiert hätte statt für ihr schräges Outfit, wäre ihm manches Ungemach erspart geblieben.

Das ungewöhnlich Ironische an der Handlung von „Pig Island“ resultiert daraus, dass die Hexenjagd dem völlig falschen Ziel gilt. Mit Joe werden wir dazu verleitet, Malachi Dove für das Ziel zu halten und andere Möglichkeiten auszublenden, als hätten wir Scheuklappen. Wie sehr sich dieses Denken an seinem Urheber rächt, stellt sich erst ganz am Schluss, auf den letzten zehn Seiten, heraus: Er fängt sich in seiner eigenen Falle. Der wahre Schuldige spaziert in die Freiheit. Da nützt Joe all sein Toben und Wüten nichts mehr. Und man darf darauf wetten, dass er einen Sündenbock finden wird.

Dieses Verhalten gemahnt an das mancher Politiker, zum Beispiel an den nicht besonders schmeichelhaft erwähnten Tony Blair. Er zeigte mit dem Finger auf Saddam Hussein, weil der angeblich „Massenvernichtungswaffen“ herstellte. Dass diese nur in den Papieren der CIA existierten, scheint seiner Politikerlaufbahn nicht geschadet zu haben. Er fand genügend Sündenböcke, beispielsweise einen Wissenschaftler, der solche „Todesfabriken“ im Auftrag der UNO untersucht hatte. Ob der britische Geheimdienst schuld an dessen Freitod war, ist nicht ganz geklärt.

|Die Sprache|

Ich habe das Buch im Original gelesen. Das war nicht ganz einfach. Oh nein, die Sprache, derer sich Lexie als gebildete Frau bedient, stellte kein Problem dar. Höchstens dann, wenn sie mal einen ausgefallenen Mode- oder Gourmetausdruck verwendete, der mir nicht geläufig war.

Joes Ausdrucksweise ist ein ganz anderes Kaliber. Er ist ein Scouser, also ein Eingeborener der Region Liverpool (Die aus Newcastle heißen „Geordies“.), und spricht und denkt wie ein Eingeborener der Arbeiterklasse. Wenn ich nicht schon mal ein Jahr in England gelebt hätte, dann hätte ich meine liebe Not mit diesem Dialekt gehabt. Aber ich lebte in einer Mietergemeinschaft, zu der auch einige Angehörige der Arbeiterklassse gehörten, unter anderem ein Geordie. So brauchte ich nicht jedes zweite Wort nachschlagen. Das Buch konnte ich daher in nur drei Tagen lesen.

Das ist noch nicht alles. Hinzu kommen noch die Schotten in Dumbarton und Glasgow. Die Autorin bedankt sich ausdrücklich bei einer Schottin, dass sie ihr die Urgründe des Glasgower Dialekts erschlossen habe. Wer noch nie über Ausdrücke wie „bairn“ (Junge), „wee“ (klein) oder „burn“ (Bach, wie in Bannockburn) gestolpert ist und weiß, was sie bedeuten, der braucht ein schottisches Wörterbuch. Das gibt es sicher auch online, z. B. als Touristeninformation.

Ulkig fand ich die Ausdrücke „pet“ und „hen“, die die beiden genannten Polizisten für Frauen reserviert haben. Frauen als Schoßtiere oder Hennen zu bezeichnen, finde ich überhaupt nicht angebracht. Aber man sollte das nicht zu eng sehen. Wahrscheinlich werden diese Ausdrücke eher neckisch gebraucht.

_Unterm Strich_

„Pig Island“ ist ein selten fies erzählter Thriller. Wer meint, er hätte, wie Joe Oakes, die Lösung des Rätsels schon nach 125 Seiten, der irrt sich gewaltig. Das dicke Ende kommt noch. Sobald man den Schluss gelesen hat, muss man entweder von vorne anfangen oder schwer darüber nachgrübeln, welche Folgen diese Informationen für den Rest der Handlung haben. Das Grauen entsteht erst im Hirn des Lesers, nachdem das Buch geschlossen ist. Dabei tauchen auch etliche Fragen und Widersprüche auf, aber die lassen sich durch genauere Lektüre klären.

Somit steht „Pig Island“ in einer Reihe mit der Klasse besonders fieser Thriller, deren Schluss den ganzen Rest des Buches umdeutet. Nur in seltenen Glücksfällen ahnt der gewitzte Leser nicht, was da auf ihn zukommt. „Pig Island“ ist ein solcher Fall. Und das mit etlichen aktuellen Aspekten, die ich oben aufgeführt habe.

Es ist im Original kein Buch für Englischanfänger, sondern erfordert vielmehr eine Bekanntschaft mit den englischen Dialekten, die sich wohl kaum in der Schule oder auch nur an der Uni erwerben lässt. Man muss schon vor Ort praktische Erfahrungen mit den Dialekten und ihren Sprechern gesammelt haben, um die Wörter und ihre Bedeutungsaspekte einigermaßen zutreffend einzuordnen. Ein Wörterbuch der Scouser und Geordies dürfte man wohl lange suchen dürfen, nehme ich mal an.

Weder Sprache noch Erzählstil sind herausragend, aber die Story haute mich um.