Hearn, Lian – Schwert in der Stille, Das (Der Clan der Otori – Band 1)

Bisher hatte der junge Tomasu noch keine Vorstellung davon, was Menschen einander antun können – bis zu dem Tag, als die Reiter vom Tohanclan sein Dorf dem Erdboden gleichmachen, alle Menschen töten und auch seine Familie nicht verschonen. Von diesem Tag an nimmt das Leben des 15-Jährigen eine dramatische Wendung – Auf der Flucht vor den Mitgliedern des Tohanclans, denen er in jener schrecklichen Nacht noch begegnet ist, trifft er auf Lord Shigeru Otori, den Anführer der Otori, der sich seiner annimmt. Als Dank dafür, dass Shigeru ihm das Leben gerettet hat, legt Tomasu sein Schicksal vollständig in die Hände des Clans und entdeckt mit dem Leben im Schloss des Lords eine völlig neue Sichtweise auf die Dinge. Aus dem schlauen Jüngling Tomasu wird der intelligente Takeo, ein junger Schüler, der unter seinen Lehrmeistern die Bräuche des Clans, die Malerei und die Kampfkunst erlernt und darüber hinaus Fähigkeiten entdeckt, von denen er bislang noch nichts wusste.

So erlernt Takeo die Fähigkeit, für eine kurze Zeit unsichtbar zu sein oder aber an zwei Stellen zur gleichen Zeit zu erscheinen, eine Methode, die ihm an mancher späteren Stelle noch als lebensnotwendig erscheinen soll. Gleichzeitig findet Takeo aber auch vieles über seine Vergangenheit und die Geschichte seiner Familie heraus und stellt dabei fest, dass er gar nicht so zufällig auf Lord Shigeru getroffen ist.

Zur gleichen Zeit aber wird an anderer Stelle das Schicksal der jungen Kaede erzählt, die von ihren Eltern als Geisel an die Kriegsherren abgegeben worden ist und dort bis aufs Äußerste verachtet wird. Nach einigen tödlichen Zwischenfällen sagt man ihr nach, dass ihre Anwesenheit den Tod bringe. Eines Tages ändert sich auch ihr Schicksal, denn um das Bündnis zwischen den beiden Clans zu beschließen, soll Kaede den Lord des Otori-Clans ehelichen. Gegen ihren Willen tritt sie die Reise an, lernt dabei ebenfalls den mittlerweile herangereiften Takeo kennen und verliebt sich in ihn. Auch Takeo ist von der jungen Dame angetan, darf sich aber aus Respekt nicht dementsprechend verhalten.

Mit der Zeit bekommt Takeo jedoch immer mehr zu spüren, was eigentlich hinter der Geschichte der einzelnen Clans steht, welchen Zweck er in dieser ganzen Sache erfüllt und welche politischen Intrigen und Lügen sich aus den ganzen Ränkespielen seines Lords ergeben. Schließlich gerät Takeo in eine Welt der Geheimnisse, der Lüge, aber vor allem der Rache.

Liebe und Rache, Treue und Verrat, Schönheit und Tod, um all jenes geht es im ersten Teil der Reihe um den Clan der Otori, und es ist schon sehr beeindruckend, wie die Oxford-Studentin Lian Hearn all diese Werte miteinander verknüpft, ohne dass dabei auch nur annähernd Verwirrung entsteht. Im Gegenteil, von der ersten Zeile an hat die Wahl-Australiern eine fesselnde, fiktive Geschichte entwickelt, die ganz klar an die japanischen Traditionen des Mittelalters angelehnt ist, in dieser Form aber indirekt auch an aktuelle Themen anknüpft. Sehr imponierend ist, wie detailliert sie die vielen Charaktere beschreibt, ihre Verhältnisse und Beziehungen zueinander erläutert, dabei aber überhaupt nicht ausschweifen muss. Schon sehr bald hat man sich so in die Welt der Otori und ganz besonders in den Körper des Takeo, der hier aus der Ich-Perspektive beschrieben wird, versetzt und verspürt den Drang, immer weiter in die verlogene Welt der Lords und ihrer Mitstreiter einzudringen.

Dabei schafft es Hearn immer wieder, den Leser aufs Neue mit plötzlichen Wendungen und Überraschungen zu konfrontieren; Spannung ist jedenfalls von Anfang an garantiert. Lediglich die Tatsache, dass die beiden Protagonisten Kaede und Tomasu alias Takeo eines Tages aufeinandertreffen, war vorhersehbar, macht die Geschichte aber nur noch interessanter, da sich hierdurch ganz neue Verknüpfungen und Spannungsmomente ergeben, die man dringend erforschen möchte.

Trotz ihrer einfachen Schreibweise – prinzipiell konzentriert sich Lian Hearn abgesehen von einzelnen Landschaftsbeschreibungen nur auf das Wesentliche – hat die Autorin so einen Roman erschaffen, der nicht nur fasziniert, sondern auch zum Nachdenken anregt. Und noch einmal muss ich erwähnen, wie toll Hearn die Figur des Takeo lebendig werden lässt; um dies erneut zu verdeutlichen: ein Junge, der sein ganzes Hab und Gut, seine Familie, seinen ganzen Besitz, ja seine ganze Welt verliert und dennoch die einzig sich bietende Chance ergreift, um ein neues sinnvolles Leben zu starten, in dem er zur Hauptfigur eines politischen Machtspiels wird. Ebenso gelungen ist es, wie die Schriftstellerin auf geheimnisvolle Weise von den Kriegen der Clans erzählt, vom mysteriösen ‚Stamm‘ berichtet und immer wieder Hinweise zu Takeos Vergangenheit ins Spiel bringt, diese aber erst einmal offen lässt – all das zeugt von ganz großer Klasse und macht dieses Buch zu einem dringenden Lesetipp. Ganz gleich, welche Art von Belletristik man privat bevorzugt, „Das Schwert der Stille“ enthält von allen Stilelementen ein wenig und legt sich so im Hinblick auf die Zielgruppe keine Beschränkungen auf. Ich denke, genau dass ist es, was die Arbeit einer hervorragenden Autorin auszeichnet.

|Empfohlen ab 14 Jahren
Peter Pan Prize 2004 (IBBY Schweden)
Deutscher Jugendliteraturpreis 2004 (Jugendjury)
„Die besten 7 Bücher für junge Leser“, Deutschlandfunk / FOCUS: September 2003|
Deutsche Webseite: http://www.otori.de