Hennen, Bernhard – Wahrträumer, Der (Magus Magellans Gezeitenwelt)

Der |Piper|-Verlag gibt derzeit deutschsprachiger Fantasy eine größere Chance in seinem Programm und setzt nicht mehr nur auf ausländische Autoren. So ist im Sommer 2003 mit „Der Wahrträumer“ auch der erste Band eines 12-teiligen Zyklus, entworfen vom vierköpfigen Autorenteam |Magus Magellan|, erschienen. Anders als viele Fantasy-Romane behandelt die Saga der „Gezeitenwelt“ nicht das unerschöpfliche Thema des „Kampfes einer Schar Auserwählter gegen das (Ur-)Böse“, sondern erschafft eine eher phantastisch-realistische Welt, für die man sachkundigen Rat von Geophysikern, Archäologen, Anthropologen und Biologen eingeholt hat. Die Autoren beschäftigen sich mit der Frage, welche Auswirkungen der Einschlag eines Asteroiden auf die Länder und Völker der Gezeitenwelt hat – und wie die Folgen der Katastrophe Gesellschaft und Kultur verändern können.

Der Autor von „Der Wahrträumer“, Bernhard Hennen, ist allerdings kein Neuling mehr. Mit etwa fünfzehn phantastischen und historischen Romanen, wie „Die Könige der ersten Nacht“, sowie seinen Arbeiten an Rollenspielsystemen ist er schon einer der bekannteren deutschen Autoren.

Alessandra Paresi hat es nicht leicht, in ihrem Dorf zu überleben. Die meisten verachten die Waise und halten sie für einen Unglücksbringer. Nur der Stumme Tormo und der kauzige Einsiedler Orlando halten zu ihr. Dann aber scheint das Mädchen sein Glück zu machen. Durch einen überraschenden Walfang – denn es ist auch noch ein Wagnis, die am Strand angespülten Riesen des Meeres zu töten -, wird sie zur reichsten Frau des Dorfes.

Daran kann sie sich aber nicht lange erfreuen. Eine Abordnung der Priesterschaft des |Abwesenden Gottes| erscheint. Um einen immer heller leuchtenden Stern zu bannen, sollen Auserwählte sich als Märtyrer zu Tode fasten, und Alessandra soll eine davon werden. Doch das Mädchen beginnt, auf der Reise an dem Sinn ihres Opfertodes zu zweifeln und wehrt sich dagegen. Schließlich flieht sie und kehrt zurück, aber sie findet ihre Heimat vernichtet vor. Nur wenige haben das Desaster überlebt und können berichten, was geschehen ist, unter ihnen auch ihre Freunde. Der in das Meer gestürzte Stern hat eine riesige Springflut ausgelöst. Diese verheerte die Küsten.

Ihre Verfolger brechen die Suche ab, denn durch die Katastrophe bricht Chaos aus und man benötigt jeden Glaubenskämpfer und Priester, um die Ordnung im Land aufrecht zu erhalten. Denn nicht weltliche Fürsten, sondern die Kirche des |Abwesenden Gottes| regiert hier mit strenger Hand. Einer ihrer Vertreter ist Francesco, der trotz seines Versagens, die Märtyrerin zum Heiligen Berg zu bringen, zum obersten Richter einer Provinz ernannt wird. In den nun folgenden Monaten hat er alle Hände voll zu tun, um Gerechtigkeit walten zu lassen, denn Missernten, Kälte und Hunger lassen die Menschen aufbegehren. Deshalb ist es umso wichtiger, die zu bestrafen, die sich an der Not bereichern wollen, wie etwa einen reicher Kaufherrn. Und dann ist da noch ein unheimlicher |Atemdieb|, der Menschen die Kraft raubt und sie dahinsiechen lässt. Ist er nur ein Hirngespinst der Kranken und Hungernden oder tatsächlich ein übernatürliches Wesen, das zum Erbe einer längst vergessenen Vergangenheit gehört? Bei seiner Suche nach Antworten entdeckt Francesco Geheimnisse, die einem Menschen den Tod bringen können.

Neben seinen Aufgaben versucht der Priester immer noch, seinen Fehler wieder gut zu machen, und lässt Alessandra, die sich mittlerweile mit Tormo und Orlando in die Berge zurückgezogen hat, jagen, bis man ihm auch dies verbietet, da andere Aufgaben wichtiger scheinen.

Die junge Frau findet indessen Unterstützung bei einer Gruppe, die gegen die strenge Herrschaft der Kirche aufbegehrt, aber um dort wirklich anerkannt zu werden, soll sie ein Zeichen setzen, und den |Atemdieb| erledigen, der in einer Stadt sein Unwesen treibt. Das bedeutet für sie aber auch, sich unter den Augen ihrer Häscher zu bewegen. Der alte Orlando ist bei diesem Unterfangen an ihrer Seite, doch auch er ist in Gefahr, da er auf der Todesliste der Kirche steht, wie sich nun herausstellt.

Fern dieser Ereignisse versucht der Seruun, die Anfeindungen verschiedener Angehöriger seines Volkes zu überleben und eine neue Heimat bei einem anderen Stamm zu finden. Der junge |Geistertänzer| ist ein mächtiger Schamane, der nicht nur die Rituale beherrscht, sondern auch über mächtige Kräfte gebietet. In seinen Träumen vermag er, die Zukunft zu sehen, doch wer hört schon gerne auf jemanden, der nur Not, Verzweiflung und Katastrophen, wie einen langen Winter, voraussieht. Erst als seine Ahnungen eintreffen, vertraut man seinem Wort, dass es besser ist, in den Süden zu ziehen, aber auch dort sind die Nomaden Widerständen ausgesetzt – durch Einheimische, die ihr Land verteidigen…

Die Idee, eine Welt zu schildern, in der nach einer Katastrophe der Mensch des Menschen größter Feind ist und Magie eine weitestgehend untergeordnete Rolle spielt, ist in der Fantasy bisher nur selten verwendet worden, da das Thema leicht in die Science-Fiction abgleiten kann. Deshalb verzichtet Bernhard Hennen bewusst auf die Verwendung technischer oder wissenschaftlicher Begriffe, sondern konzentriert sich darauf, in zwei Handlungssträngen eine spätmittelalterliche Gesellschaft zu schildern, die von Glauben und Aberglauben in festem Griff gehalten wird. Nicht zuletzt orientieren sich Kirche und Ritterschaft ganz eng an christlichen Vorbildern; Kultur, Gesellschaft, Landschaftsbeschreibungen und Namen sind an die des westlichen Mittelmeeres angelehnt. Geschickt vermischt er kirchliche Intrigenspiele und mystizistische Geheimniskrämerei, wie sie aus vielen historischen Romanen bekannt sind, mit einem eher abenteuerlichen Handlungsstrang um die eigensinnige Harpunierin Alessandra. Schamanismus und Indianerromantik bringt dagegen der dritte Handlungsstrang um den |Geistertänzer| Seruun ein, der zunächst allein und später mit seiner Gefährtin Grasfeder ums Überleben kämpft.

Bernhard Hennen weiß in „Der Wahrträumer“ das Konzept geschickt und stimmungsvoll umzusetzen, so dass kaum Langeweile aufkommt. Leider hat der Roman auch Schwächen: Zwar besitzt jeder Handlungsstrang eine eigene Dynamik, die ihn vorantreibt, aber Bernhard Hennen gelingt es nicht, die drei Themen am Ende richtig zusammenzuführen oder aufzulösen. Gerade die letzten 50 Seiten des Buches wirken gedrängt und überhastet, als sich die Ereignisse um den |Atemdieb| und Alessandra plötzlich überschlagen, und werden nur zu einem geringen Teil aufgeklärt – fast so, als würden die Geschehnisse in einem weiteren Roman fortgesetzt werden. Beschreibungen von Umgebung und kulturellen Eigenheiten oder innerkirchlichen Intrigenspielen nehmen wie in einer Rollenspielkampagne einen großen Raum ein, während die Charakterisierung der Figuren eher in den Hintergrund tritt. Selbst die Hauptfiguren Seruun, Francesco und Alessandra bleiben blass und lassen sich auf wenige Züge zusammenstreichen, der interessante Hintergrund einiger Nebenfiguren wird nicht weiter ausgeführt. Action und Spannung wird durch äußere Elemente wie Folter erzeugt.

Daher werden vor allem Leser, die dem Rollenspiel offen gegenüberstehen, auf ihre Kosten kommen. Trotzdem bleibt zu wünschen, dass die zukünftigen Autoren des Zyklus, Hadmar von Wieser, Thomas Finn und Karl-Heinz Witzko, auch der Geschichte und den Charakteren ein wenig mehr Raum geben. Auf jeden Fall lohnt es sich, das Projekt erst einmal weiter zu verfolgen, da es sich abseits der üblichen Genrethemen bewegt.

_Christel Scheja_ © 2003
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