Alexa Hennig von Lange ist die wohl schillerndste unter den jungen Autorinnen Deutschlands. So jung ist die 1973 in Hannover geborene, ehemalige „Bim Bam Bino“-Moderatorin aber auch nicht mehr. Inzwischen lebt sie nach langem Aufenthalt in Berlin mit ihrem Mann und den zwei Kindern wieder in Hannover.
Literarisch ist man 1997 auf sie aufmerksam geworden, ihr Debüt „Relax“ hielt sich lange in den Bestsellerlisten und bestach durch die authentische und schonungslose Jugendsprache der Autorin. Wie es so häufig ist, wurden die folgenden Romane „Ich bin’s“ und der Tagebuchroman „Mai 3D“ zu echten Enttäuschungen und ließen am Talent des Rotschopfes zweifeln. Zurück zu alter Stärke hatte sie zum Glück mit dem Jugendbuch „Ich habe einfach Glück“ im Jahre 2001 gefunden, für das sie schließlich mit dem Jugendliteratur-Preis ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschienen „Erste Liebe“ und „Mira reicht’s“ 2004. Die Erstausgabe zu „Woher ich komme“ wurde 2003 veröffentlicht.
Die Handlung des 100 Seiten kurzen Romans ist gar keine. Die 30-jährige, namenlose Protagonistin fährt mit ihrem Vater ans Meer, wie es die Familie jeden Sommer getan hat. In der Gegenwart hält man sich aber nicht lange auf, auf den gesamten Text bezogen nur wenige Seiten. Es ist ein stiller und träger Ausflug, den Vater und Tochter hier unternehmen. Das Meer, der Ort, zu dem es die Beiden gezogen hat, ist der Ort der Erinnerungen, die wie Schatten immer wieder, meist nur kurz, an der Oberfläche erscheinen.
Jede Erinnerung ist nur wenige Sätze lang, bricht so unvermittelt, wie sie aufgetaucht ist, ab und wird von einer anderen abgelöst. Die Protagonistin geht in Gedankensprüngen ihre Kindheit durch. Diese ist auf den ersten Blick eine glückliche. Man erfährt, dass sie einen kleinen Bruder hatte, der im Sommer, immer wenn die Familie zum Urlaub ans Meer gefahren ist, Geburtstag hatte. Liebevoll, fast poetisch werden Situationen dieser Sommertage geschildert, aber es klingt auch viel Wehmut darin an. Eines Sommers wird die Familie während des geliebten Sommerurlaubs für immer auseinander gerissen. Bei einem Spaziergang im Watt wird man von der Flut überrascht. Die Protagonistin kann sich an den Strand retten und muss zusehen, wie nur ihr Vater aus dem Wasser zurückkehrt.
Es tun sich inmitten dieser tragischen Gegebenheit und Schilderungen einer oberflächlich normalen und glücklichen Kindheit aber auch noch weitere düstere Abgründe auf. So zum Beispiel die Affäre der Mutter mit dem Nachbarn.
„Woher ich komme“ ist ein ruhiges und schlichtes, so zerbrechlich wie die Erinnerungen der Protagonistin wirkendes Buch. Es ist ebenfalls eine authentische Erzählung. Die Erinnerungen wurden ausgezeichnet von der Autorin gestaltet und angeordnet. Die von der Protagonisten erinnerten Dinge liegen schon mehr als ein Jahrzehnt zurück. Durch diesen Umstand wirken sie auf den Leser oft unklar und schemenhaft, an einigen Stellen aber bemerkenswert detailliert. Es sind meist die schönen Erinnerungen, wie die tiefe Verbundenheit mit dem Bruder oder Gesten der Mutter, die sich in das Gedächtnis eingebrannt haben, die präzise und emotional berührend wiedergegeben werden.
Angesichts der letztendlich mehr als tragischen Kindheit verbergen sich viele Dinge im Kopf der Protagonistin, die sie scheinbar noch nicht für sich abschließen konnte. Durch die räumliche Nähe zu diesen Erinnerungen (das Meer) brechen sie unweigerlich und geballt hervor. So wird es für den Leser schwierig, diese in einen Kontext einzuordnen, denn sobald sich Klarheit anbahnt, wird eine Erinnerung von der anderen abgelöst. Zeitliche und räumliche Sprünge folgen dabei aufeinander, bis sich das Angedeutete gegen Ende des Romans mehr und mehr entblättert, aber immer noch viel Raum für die Fantasie des Lesers lässt.
„Woher ich komme“ ist kein Buch, das sich mit der dramaturgischen Entwicklung einer Handlung oder der von Charakteren aufhält. Die Handlung ist die Vergangenheit, und die muss sich der Leser schon selbst erarbeiten. Wer sich darauf einlässt, kann einige gute Stunden mit einem höchst interessanten und für die Autorin außerordentlich erwachsenem Buch verbringen.
|Leseprobe| aus der Taschenbuchausgabe Februar 2005, Seiten 9/10.
»Meine Mutter und ich sahen, wie sich der Priel mit Wasser füllte, und der Sand war nicht mehr da, und mein Vater war weit draußen, hörte unsere Rufe nicht, und der Himmel war blau. „Lauf so schnell du kannst!“ Meine Mutter schubst mich in die Richtung, in der sie den Strand vermutet, und das ist die richtige Richtung, und ich renne so gut es geht, im feuchten Sand, und Mama versinkt in die andere Richtung, in Richtung meines Vaters, meines Bruders. Der war klein und wusste von nichts. Ging an Papas Hand und hatte uns zugewinkt. Die Sonne stand über uns, flirrend, keine Wolken, einfach nur Himmel und sehr viel Raum. Zwischen Mama und mir, zwischen mir und meiner Familie wurde der Abstand immer größer.
Mein Vater kam allein zurück.«