Herles, Wolfgang – Dann wählt mal schön

Fragt man den Mann auf der Straße nach seiner politischen Lageeinschätzung, wird man vermutlich hören: „Der Schröder kann’s nicht, die Merkel wird’s auch nicht packen. Im ganzen System steckt der Wurm drin.“ Wolfgang Herles, ZDF-Journalist für Politik und Kultur, sagt in seinem neuesten Buch „Dann wählt mal schön“ das Gleiche etwas ausführlicher. Das Versagen bei den drückenden Problemen wie der Arbeitslosigkeit liege an fehlendem Mut und bringe die Demokratie insgesamt in die Krise. Unter diesen Umständen bringen Wahlen – oder vorgezogene Neuwahlen – keine Besserung, wie der bitter-ironische Titel aussagt. In acht Kapiteln beschreibt Herles verschiedene Aspekte dieser Lage.

Im ersten Kapitel _Von der Politikverdrossenheit zur Demokratieverdrossenheit_ sieht Herles durch die Unfähigkeit der Parteien und die Gleichgültigkeit der Bürger eine Politikverdrossenheit, welche die Demokratie in Gefahr bringen könne. Populistische Politiker schüren falsche Erwartungen, die die Lage eher noch verschärfen. Zur Erklärung, warum nun gleich die Demokratie bedroht wäre, fällt Herles nichts anderes als das alte Klischee vom bösen Deutschen ein, der die Demokratie zu spät kennen gelernt habe, sie eigentlich immer noch ablehne und sich lieber hinter – gerne auch mal kriegerische – Führer schare. Dass die Briten sich unter unzähligen Leichen ein in der Geschichte einmaliges Kolonialreich zusammengeräubert hatten und Freiheit und Demokratie außerhalb ihrer Insel nur selten vertraten, dass die Franzosen seit 1789 gleich drei autoritäre Führer kürten (Robespierre, Napoleon Bonaparte, Napoleon III.) und dass heute in etlichen osteuropäischen Ländern die alten kommunistischen Parteien höhere Wahlergebnisse haben als die SED-PDS-Linkspartei in den neuen Bundesländern, davon lässt sich Herles seine einmal angewöhnten Vorurteile nicht durcheinander bringen. Seitenweise zitiert er dann aus Uwe Tellkamps heiß diskutiertem Roman (!) „Der Eisvogel“, als handele es sich dabei um ein wissenschaftliches Werk, und unterstellt ohne jeden Beleg, dass viele Deutsche die radikalen Äußerungen des Protagonisten teilten. Im Abschnitt über Extremismus folgt das, was man befürchten durfte: Buchhalterisch protokolliert er etliche Lappalien über die sächsische NPD und verlässt das Thema seines Buches. Linksextremismus und Islamismus kommen dagegen nicht vor, die PDS hält Herles allen Ernstes für „verfassungstreu“ (S. 43).

Der Bevölkerung wirft Herles neben der Anspruchshaltung Gleichgültigkeit und Inkompetenz vor. Doch die von ihm genannten Umweltgruppen, die zum Schutze des Feldhamsters den Ausbau der Infrastruktur verhindern, sind eine kleine Minderheit und haben nur deshalb gelegentlich Erfolg, weil Gerichte ihren Beschwerden aufgrund bestehender Gesetze recht geben. Dagegen haben vier bis fünf Millionen Deutsche 1999 gegen die doppelte Staatsbürgerschaft unterschrieben und damit mehr politischen Verstand bewiesen als die Regierung. Während in den Niederlanden und Großbritannien eingebürgerte Moslems islamkritische Regisseure oder Londoner U-Bahn-Passagiere umbringen, erhalten in Deutschland täglich neugeborene ausländische Kinder per Automatismus einen deutschen Pass. Dass die Deutschen aber heute in der Tat so gleichgültig sind, die Sache so kurz vor der Wahl nicht wieder aufs Tapet zu bringen, wäre einer Erörterung wert (aber dazu müsste einem das Thema schon eingefallen sein).

Das Kernproblem dieses Kapitels ist es, dass zentrale Begriffe wie Demokratie, Populismus und Extremismus nicht definiert werden und Herles nun fröhlich seine Floskeln und Urteile repetieren kann. Immerhin fordert er deutliche inhaltliche Auseinandersetzungen, den Mut zur Freiheit samt ihrer Risiken und bekennt sich zur Marktwirtschaft als integralem Bestandteil der Demokratie (S. 33).

Das zweite Kapitel _Die Reihen fest geschlossen_ (Preisfrage: Woher stammt dieses Zitat?) beschreibt die Machtausübung der Parteien und ist schon lesenswerter. Auch hier gibt es keine Definitionen der Begriffe Demokratie oder Führung, aber zumindest Annäherungen. Wenn die Führungsprinzipien des früheren neuseeländischen Finanzministers Douglas referiert werden, ist das ein Höhepunkt des Buches. Aber sobald es interessant wird, bricht Herles ab. Hier wäre eine Analyse der aufgezählten Grundsätze am Platze gewesen. Auch sonst, wenn Herles konkret wird und Probleme wie die Macht des Bundesrates (S. 56), die Mediendemokratie (S. 60f) oder den „Geschlossenheitskult“ der Parteien (S. 62ff) beim Namen nennt, kratzt er nur an der Oberfläche und huscht zum nächsten Punkt.

Und wieder mal ist das Volk an allem schuld: Wenn solche Politiker, die auf Show statt auf Inhalte setzen, Karriere machen und solche, die Fehler zugeben und zurücktreten, keine zweite Chance erhalten, dann nur, so Herles, weil das Volk es so wünsche, und nicht etwa weil berechnende Parteiführer dies so steuerten. Beweise oder zumindest Anhaltspunkte für diese Behauptungen? Wieder Fehlanzeige. Der Autor selbst erwähnt Friedrich Merz (CDU), Oswald Metzger (Grüne) und Horst Seehofer (CSU), der als „in der Bevölkerung und der Parteibasis verankert“ (S. 71) galt. Alle drei wurden von ihren Parteiführungen kaltgestellt, nachdem sie programmatische Defizite der eigenen Parteien angesprochen hatten. Was könnte also ein einfacher Bürger erreichen, wenn schon die Funktionäre der zweiten Reihe scheitern?

Sehr lesenswert dagegen sind Herles’ Beschreibungen der Techniken und Methoden, mit denen echte Diskussionen unterbunden werden, seien es Totschlagargumente („alternativlos“, „soziale Gerechtigkeit“), die Förderung von Anpassern oder die Zurückhaltung der Parteiführer in Grundsatzfragen. Die Weltfremdheit idealistischer Vorstellungen von „Objektivität“ oder „Gemeinwohl“ wird ebenso wie auch die unrühmliche Rolle der Presse beim Ersticken harter Diskussionen dargestellt. Das hat man selten so deutlich und rücksichtslos gelesen. Die Attacke gegen die Selbstverdummung namens „Politische Korrektheit“ bleibt bei aller Richtigkeit erstaunlich zahm.

Das dritte Kapitel _Die Entwertung der Politik_ behandelt die Entmachtung des vom Volk gewählten Parlamentes. Herles beschreibt den Abfluss der Parlamentsmacht in die sechs Richtungen Regierung, Bürokratie, Medien (und Wahlkampfmarketing), Berater, EU und internationale Wirtschaft. Die vielen Facetten der (Selbst-)Entmachtung des Gesetzgebers wie das Fehlen von Denkfabriken oder die Ein-Themen-Berichterstattung der Medien werden von Herles deutlich benannt, leider geht er auch hier nicht in die Tiefe. Weiter benennt er Probleme des Wahlrechts, so z. B. dass der Bürger am Wahltag nur eine Partei mit ihrer vorgegebenen Bewerberliste und |allen| ihren Programmpunkten wählen kann. Erfrischend ist es, wenn zu den Problemen auch mal Lösungsvorschläge gemacht werden. So liest man, dass sich in England Bewerber um ein Unterhausmandat einer fachlichen Prüfung unterziehen müssen oder der Parteienkritiker Johannes Heinrichs die Ersetzung des Bundestages durch vier Fachparlamente vorgeschlagen hat. Man hätte hier noch das Kumulieren und Panaschieren aus einigen deutschen Kommunalwahlrechten erwähnen können. Dass es aber noch tiefer liegende Konflikte gibt, die nichts mit der politischen Ordnung in Deutschland oder den gegenwärtigen Problemen zu tun haben, reißt der Autor immerhin an: Einerseits heißt Demokratie Mehrheitsentscheidung, andererseits hat die Mehrheit nicht immer Recht. Einerseits wollen wir weniger Bürokratie, andererseits mehr Einzelfallgerechtigkeit. Einerseits braucht das Parlament des Fachwissen der Experten, andererseits sind die Grenzen zwischen beraten und entscheiden fließend.

In den Kapiteln 4 und 5 _Das Elend des Populismus_ bzw. _Kleines Panoptikum der Populisten_ dokumentiert Herles den Populismus der Altparteien. Endlich erfolgen auch Definitionen dieses für das Buch so wichtigen Begriffs. Populismus ist danach die emotionale Propaganda-Nebelkerze. Man macht gute Laune, verkündet Optimismus, redet die Probleme klein und erzählt einfach, was das Publikum (mutmaßlich) hören will. Verdienstvoll ist die Entlarvung eines spezifisch bundesdeutschen Populismus, dem Gerede von der guten, alten Zeit mit Vollbeschäftigung und funktionierenden Sozialversicherungen, die bestimmt bald wiederkomme, man müsse nur etwas Geduld haben. Wenn Herles die Methoden der Politiksimulation seziert, von Job-Gipfeln (erinnert sich noch jemand?) bis zu (Ohn-)Machtworten, ertappt man sich während der Lektüre beim Grinsen und denkt an die Worte des römischen Dichters Juvenal: „Es fällt schwer, keine Satire zu schreiben“. Das Abwürgen von Diskussionen durch moralische Aufheizung von Themen wird am Beispiel Tsunami gut beschrieben, wäre aber einer tiefer gehenden Untersuchung wert gewesen. Im Panoptikum werden der Spaßkanzler, Franz „Heuschrecke“ Müntefering, Bayern-Ede, „Politpopper“ Westerwelle und Bundestaxifahrer Joschka in ihrer jeweiligen Ausprägung von Populismus beschrieben. Eine Sonderstellung hat Angela Merkel inne, die „Vorsitzende der kalten Herzen“ („Die Zeit“); sie ist offenkundig sogar für Populismus zu blass. In diesen aufschlussreichen wie witzigen Porträts kommt Herles seinem Anspruch auf Analyse am nächsten.

Die _Politik im Glashaus_ präsentiert das sechste Kapitel. Es ist zu begrüßen, wenn Politiker das Arbeitsleben kennen und auch werthaltige Arbeit leisten. Von daher sagt Herles völlig zu Recht, dass Nebentätigkeiten von Politkern nicht grundsätzlich verwerflich sein müssen … aber sein können. Es werden einige interessante Fälle von Interessenüberschneidung politischer und geschäftlicher Tätigkeiten |namentlich| genannt (S. 174 ff). Am Fall von Ludger Vollmer (Grüne) und der Bundesdruckerei sieht man, dass es beim Visa-Skandal nicht nur um Schlampereien oder Multikulti-Fanatismus ging, sondern auch gut verdient wurde (S. 175). Die Namen der Parteispendenskandale der letzten Jahre wie Hunzinger, Bimbes oder Elf-Aquitaine zu lesen, ekelt einen nur noch an. Der Abschnitt über Ämterpatronage bleibt etwas dürr; hier wird nur ein Fall besprochen, der leider immer noch nicht ganz geklärt ist.

Schwachpunkte sind die beiden letzten Kapitel _Das Versagen der Gesellschaft_ und _Der Moses-Komplex_. Zunächst gibt es einen Rundumschlag gegen das Bildungssystem, die Wirtschaftselite und die sogenannten Intellektuellen. Wieder mal hechelt Herles durchs Gelände, alles nur kurz anreißend. Peinlich ist hierbei der Abschnitt über die Manager. Gerade aufgrund ihrer Gestaltungsmöglichkeiten bilden die Manager eine sehr heterogene Gruppe. Herles wird hier selber populistisch, indem er ihnen pauschal eine rücksichtslose und kurzsichtige Profitgier unterstellt. Natürlich gibt es solche Fälle, aber dann soll man diese Beispiele beschreiben und keine Klischees verbreiten. Bezeichnenderweise enthalten die Seiten, auf denen die Meinungsäußerungen besonders wüst ins Kraut schießen, die wenigsten Belege und Quellenangaben. Im letzten Kapitel wiederholt der Autor mit dem von ihm entdeckten „Moses-Komplex“ anhand der biblischen Geschichte vom Auszug aus Ägypten noch einmal die Hauptthesen des Buches: Moses (der autoritäre Führer) führt mit Drohungen und Versprechungen die Israeliten (das Volk), die zwischen Anpassung und Murren schwanken, durch die Wüste, während sein Bruder Aaron (der Populist) ihnen erzählt, was sie hören wollen. Abschließend folgen dann doch noch einige konkrete, wenn auch altbekannte Vorschläge, von der strikten Aufgabentrennung zwischen Bund und Ländern bis zur Begrenzung von Amtsdauern. Geradezu rührend ist jedoch der Aufruf an die Wähler, ungültige Wahlzettel abzugeben. Mittlerweile dürfte der Anteil ungültiger Stimmen vom Promillebereich auf fünf Prozent (!) angestiegen sein. Aber die Medien, auch Herles’ Haussender ZDF, liefern uns am Wahlabend weiterhin nur die prozentualen Ergebnisse und lassen die ungültigen Stimmen ganz unter den Tisch fallen. So heißt es dann auf der letzten Seite: „Dann wählt mal schön“, aber es bringt ja eh nichts. Alles Scheiße, euer Wolfi.

_Fazit_: Die derzeitige verrückte Lage zwischen Schröders Kapitulationserklärung im Mai und dem wahrscheinlichen Neuwahltermin im September 2005 hat Wolfgang Herles zum Anlass genommen, ein Buch über die grundsätzlichen strukturellen Probleme der deutschen Politik zu schreiben. Vielleicht haben sich Autor oder Verlag höhere Verkaufszahlen erhofft, wenn das Buch noch vor den Neuwahlen erscheint, jedenfalls scheint vieles unausgereift und mit heißer Nadel gestrickt. Grundsätzlich wäre diesem Buch, das zwar kaum wirklich Neues bringt, aber sein komplexes Thema umfassend beleuchtet, eine zweite, dann aber gründlich überarbeitete Auflage zu wünschen. Wolfgang Herles könnte sich große Verdienste erwerben, wenn er dann
– sich strikt auf sein Thema konzentriert und nicht abschweift,
– seine zentralen Begriffe definiert,
– die Aspekte der verfahrenen Lage nicht nur an der Oberfläche beschreibt, sondern wirklich analysiert,
– mehr erprobte Lösungsbeispiele aus der Vergangenheit oder dem Ausland präsentiert,
– und seine teils irrationalen Meinungsäußerungen entweder belegt oder unterlässt.

Überhaupt sollte Herles seine Abneigung gegen die deutschen Bürger selbstkritisch überdenken. Wenn Patriotismus nur altmodisches Gedöns ist, warum sollte sich dann überhaupt noch jemand für unser Land einsetzen? Wenn das Volk wirklich dumm, habgierig und kurzsichtig ist, warum sollte man dann noch für die Demokratie sein? Und wenn überhaupt alle – Volk, Politik und Wirtschaft – unfähig sind und Reformen unmöglich machen, warum lohnt es sich dann noch, kritische Bücher zu schreiben?

Auf jeden Fall sollten in einer möglichen zweiten Auflage einige sachliche Fehler beseitigt werden:
Franz Schönhuber war vielleicht von Anfang an Mitglied der Republikaner, gegründet wurde die Partei aber von Ekkehard Voigt und Franz Handlos (S. 38).
Dass es in der BRD noch keine Ein-Parteien-Regierung gegeben hat, liegt an Mehrheitsverhältnissen und politischen Entscheidungen, aber keineswegs an Vorgaben des Grundgesetzes oder des Wahlrechts (S. 55).
Fremdsprachen sind nützlich. Wenn man z. B. weiß, dass im Englischen |interest| nicht nur Interesse, sondern auch Zins heißen kann, versteigt man sich nicht zu abenteuerlichen Interpretationen über die Titel britischer Dokumente (S. 178).