Brian Hodge – Rune

Das geschieht:

Mount Vernon, ein Städtchen irgendwo im US-Staat Illinois, Ende der 1980er Jahre: Viel tut sich nicht hier in der Provinz, was vor allem die Jugend frustriert. Wie ihre Altersgenossen vertreiben sich die Freunde Chris Anderson, Rick Woodward und Phil Merkley die letzten Monate vor dem College mit Ferienarbeit und abendlichem Herumhängen. Letzteres findet gern in einem abgelegenen Hain an den Ufern eines kleinen Sees statt, den die Freunde „Tri-Lakes“ nennen. Hier lässt es sich faulenzen und ungestört saufen, hierher kann man auch die Freundin zum Fummeln mitbringen.

Doch eine eigentümliche Stimmung lastet auf Tri-Lakes. Nichtige Anlässe führen zu erbitterten, gewalttätigen Auseinandersetzungen. Seltsame Unfälle geschehen. Eines einsamen Abends stürzt Chris gar ein seltsam aussehender Mann vor den Wagen, der sich bei der Autopsie als sechs Tage alte Wasserleiche erweist!

Die Ereignisse finden ihren bizarren Höhepunkt, als eines Abends Rick quasi vor den Augen seiner Freunde an den Tri-Lakes verschwindet. Nunmehr meiden Chris und Phil diesen Ort, doch der Geist, den sie dort weckten, lässt sich längst nicht mehr in seine Flasche zurückzwingen: Ein Wikinger ist es, der vor vielen Jahrhunderten verflucht wurde und nun rastlos Tri-Lakes heimsucht. Eigentlich soll ein Runenstein ihn bannen, doch der wurde 1940 von einem vorwitzigen Nachwuchshistoriker aus dem Boden gegraben, den unmittelbar darauf die Rache des notorisch missgelaunten Nordmanns traf.

Dass rasches Handeln erforderlich ist, weiß Chris spätestens, als der Wikinger ihn in Träumen heimzusuchen beginnt, die sich als erschreckend realistisch erweisen: Was ihn im Schlaf trifft, verletzt ihn auch in der wachen Realität. Zudem mehren sich die Zeichen dafür, dass nicht nur Chris das Ziel der Attacken aus dem Jenseits ist, sondern auch seine Familie in Lebensgefahr schwebt. Chris muss sich dem Geist stellen, nur: Wie soll ein US-Landei wissen, wie das zu bewerkstelligen ist …?

Alter Geist trifft junge Leute

Weniger ist bekanntlich oftmals mehr. Auf den Roman „Rune“ trifft diese Binsenweisheit sicherlich zu. Brian Hodge erzählt eine einfache, oft erprobte und bewährte Geschichte: Ein Mann wird von soviel Hass und Zorn getrieben, dass er nach seinem gewaltsamen Tod keinen Frieden findet, sondern verdammt ist umzugehen und Verderben über die Unglücklichen zu bringen, die sich an sein Grab verirren. Dass durch einen verhängnisvollen Zufall der Bann gebrochen wurde, der besagtes Gespenst dort ursprünglich fesselte, bringt natürlich weiteren Schwung in die Handlung.

Diese beginnt trügerisch à la Stephen King als „Coming-of-Age“-Story aus der US-amerikanischen Provinz. Drei junge Männer haben die Schule hinter sich gebracht und stehen davor, sich einen Platz im Leben zu erobern. Gekonnt und sehr stimmungsvoll schildert der Verfasser, wie Chris, Rick und Phil zwischen Aufbruch und Angst vor der Zukunft und ihren Herausforderungen schwanken. Wehmut spielt ebenfalls eine Rolle – Mount Vernon ist kein Ort, der viele Möglichkeiten zur Zerstreuung bietet, aber leben lässt es sich hier gut. Vor allem Chris, der in einer intakten Familie groß geworden ist, fällt es schwer zu gehen.

Unmerklich schleichen sich Misstöne ein. Der Leser weiß bereits, dass es an den Tri-Lakes umgeht; ein Prologkapitel schildert die ebenso abenteuerliche wie folgenschwere Bergung des bannenden Runensteins. Was in den folgenden fünf Jahrzehnten an diesem Ort geschah, lässt Hodge seine Protagonisten in einer spannenden Schnitzeljagd nach und nach rekonstruieren. Gleichzeitig manifestiert sich das Grauen deutlicher, bis es die Maske endgültig fallen lässt.

Damit ist der Zeitpunkt gekommen, an dem „Rune“ viel vom bisher unter Beweis gestellten Unterhaltungswert einbüßt – notgedrungen, denn seit jeher schadet nichts einem Rätsel mehr als seine Lösung. Olaf der Schwarze heißt also der zottelige Berserker, der in Sachen brutaler Rache- und Mordlust einigen Einfallsreichtum an den Tag legt. Nunmehr verwandelt sich die Geschichte in das sattsam bekannte Duell zwischen Mensch und Geist. Auch hier leistet Hodge allerdings gute Grusel-Arbeit: „Rune“ ist ein rundum lesbares Werk, dessen Lektüre vollauf zufrieden stellt und neugierig macht auf andere Hodge-Bücher.

Das Leben im Genick

Wie schon erwähnt gefallen Hodges Figuren durch ihre unaufdringliche Präsenz. Die Jugend von Mount Vernon stellt der Verfasser primär aus männlicher Sicht dar, ohne sich jemals auf „American-Pie“-Abwege zu begeben. Zwar ist es schön aber auch schwer, jung zu sein. Die Welt von Chris und seinen Altersgenossen dreht sich keineswegs nur um Dosenbier & willige Mädchen. Das lässt uns Leser Anteil nehmen an ihren Schicksalen.

Auch ohne Wikingerspuk ist Mount Vernon kein von den Alltagsproblemen der modernen Welt isolierter Winkel. Hinter der Kleinstadtidylle lässt Hodges immer wieder Hässliches aufblitzen: häusliche Gewalt, Ausgrenzung, Standesdünkel. Olafs Fluch könnte sich niemals so spektakulär entfalten, fände sein Zorn nicht den idealen Humus: Mount Vernon und seine Bürger bieten ihm mehr als genug Angriffsfläche; viele verbittert brütende Randexistenzen benötigen nur einen Stoß, der sie über die Grenze stößt und explodieren lässt.

Hodge hat uns mit den Personen vertraut gemacht, in die der Geist des Wikingers fährt. Wen es treffen wird, zeichnet sich schon früh ab. Wir können wie Chris nur hilflos zuschauen – welcher Mensch würde ihm glauben, dass spukhafte Besessenheit hinter den Gewalttaten steckt, die Mount Vernon in Schrecken versetzen? Chris wird Verbündete finden, doch genretypisch sind es wiederum Zeitgenossen, die auf ihre Weise im gesellschaftlichen Abseits stehen und quasi nur mit einer Hand aktiv werden können: Die Spannung steigt, wenn das Gute in den Unterzahl und auch sonst eingeschränkt ist.

Exkurs: Wahn & (historische) Wirklichkeit

Ein Wikinger spukt durch die US-Provinz? Ausgerechnet diese abenteuerliche Idee stellt sich als einzige ‚Tatsache‘ heraus, die Autor Brian Hodge in sein klassisches Gruselgarn einfließen lässt. Lange hat sich die Forschung gesträubt, und auch heute lassen handfeste archäologische Beweise auf sich warten. Dennoch ist man sich generell einig, dass nicht Christoph Columbus Anno 1492, sondern ein (namenloser) Wikinger schon fünf Jahrhunderte zuvor einen europäischen Fuß auf das nordamerikanische Festland gesetzt hat.

Das Seefahrervolk trieb es auf der Suche nach Handel und Siedelland nachweislich weit nach Norden und Westen über den Atlantik. Wenn man alten Nordlandsagen Glauben schenkt, so haben die Wikinger etwa vierzig Jahre versucht, an diversen Ostküsten Kanadas und der USA Fuß zu fassen, bevor sie von erzürnten Einheimischen – später „Eskimos“/„Inuit“ und „Indianer“ genannt – sowie einer lang anhaltenden Kälteperiode vertrieben wurden.

Autor

Brian Hodge wurde 1960 im südlichen Illinois, USA, geboren und hat seit dem Ende der achtziger Jahre zehn phantastische Romane und Thriller veröffentlicht. Mit etwa 100 Kurzgeschichten ist er in den meisten Magazinen und Story-Sammlungen vertreten. Hodges Werk ist relativ schmal, wird jedoch von der Kritik und einem treuen Stammpublikum sehr geschätzt. Der Autor wurde für mehrere angesehene Literaturpreise – darunter den „Bram Stoker Award“, den „World Fantasy Award“ sowie den britischen „CWA Dagger Award“ nominiert, gewann aber zu seinem Ärger nie, bis ihm 2004 endlich ein „International Horror Guild Award“ verliehen wurde.

Neben seiner schriftstellerischen Arbeit betätigt sich Brian Hodge als Musiker. „Axis Mundi“ ist ein „musikalisches Projekt“, wie er selbst sagt, das weniger eingängige Melodien als Klangwelten hervorbringt. Auf seiner Website präsentiert Hodge einige Beispiele im MP3-Format.

Taschenbuch: 317 Seiten
Originaltitel: Oasis (New York : Tor Books 1988)
Übersetzung: Andreas Diesel
ISBN-13: 978-3-86552-017-3
http://www.festa-verlag.de

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