William Hope Hodgson – Die Herrenlose (Gruselkabinett 53)

Schrecken und Grauen im Indischen Ozean

Auf hoher See anno 1900: Nach einem schweren Sturm entdeckt die Besatzung des Schiffes Bheopte ein umhertreibendes, herrenloses Wrack. Im Sonnenuntergang beschließen sie, dort an Bord nach dem Rechten zu sehen. Ein – wie sie erkennen müssen – lebensgefährliches Unterfangen … (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt das Hörspiel ab 14. Jahren.

Der Autor

Der Brite William Hope Hodgson (1877-1918) fuhr selbst 1891 bis 1899 in der Handelsmarine zur See, bevor er 1904 mit „The Goddess of Death“ seine erste, recht schwache Mystery-Erzählung veröffentlichte. Schon bald zog er Nutzen aus seinen Erlebnissen auf See. Diese Erzählungen schaffen eine Atmosphäre aus der Einsamkeit eines Schiffes auf hoher See und der Fremdartigkeit dessen, was unter den Wellen liegen mag.

Seine wirkungsvollsten Erzählungen drehen sich um die Verwandlung von Menschen und Dingen in andere Wesen, so etwa unter dem Einfluss eines Pilzes in „The Voice in the Night“ (1907) sowie in „The Derelict“ (1912) – die vorliegende Erzählung – in der sich ein Schiffswrack in ein lebendiges Wesen verwandelt.

Neben vielen weiteren Erzählungen schuf Hodgson zwei große Romane: „The House on the Borderland“ (1908), das von H.G. Wells‘ Roman „Die Zeitmaschine“ (1895) beeinflusst wurde, sowie „The Night Land: A Love Tale“ (1912), das eine Queste auf einer sterbenden Erde schildert.

Unter seinen zahlreichen kommerziellen Stories befinden sich zwei Serien für Magazine: „Carnacki the Ghost-Finder“ (gesammelt 1913) sollte an „John Silence“ (1908) von Algernon Blackwood anknüpfen, und die Serie um Captain Gault weist überhaupt keine übernatürlichen Elemente auf.

„Hodgsons Werk überbrückt die Kluft zwischen den übernatürlichen Schrecken des 19. Jahrhunderts und den wissenschaftlichen Wundern des zwanzigsten, wobei es demonstriert, dass beide gleichermaßen Schrecknisse der Bestürzung und Verwirrung hervorzubringen vermögen“, schreibt die „Encyclopedia of Fantasy“ (meine Übersetzung).

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher und ihre Rollen:

Friedrich Georg Beckhaus: Erzähler
Johannes Berenz: Dr. Dark
Antje von der Ahe: Constance Main
Almut Eggert: Eleanor Main
Hans Teuscher: Captain Gannington
Stefan Kaminski: Mr. Berlies
Michael Deffert: Mr. Selvern
Patrick Roche & Jan Panczak: Matrosen

Marc Gruppe schrieb wie stets das Buch und gemeinsam mit Stephan Bosenius setzte er es um. Die Aufnahme fand in den Planet Earth Studios und im Fluxx Studio statt und wurde bei Kazuya abgemischt. Die Illustration stammt von Firuz Askin.

Handlung

Doktor Dark, der Ich-Erzähler, hat gerade sein Medizinexamen abgeschlossen. Erschöpft und abgebrannt sucht er sowohl eine Einnahmequelle als auch Erholung. Was könnte geeigneter sein als eine Schiffsreise, sagt er sich. Er heuert auf dem Clipper „Bheopte“ an, der als Schnellsegler Tee aus Shanghai nach London transportieren soll. Natürlich bekommt Dark von Captain Gannington nur die übliche Heuer gezahlt.

An Bord bemerkt Dark vor allem den Ersten Maat, den belesenen Mr Berlies, und den zweiten Maat, den zaghaften und empfindsamen Mr Slvern. Es gibt noch einige Passagiere, die aber in Madagaskar von Bord gehen werden. Schon nach wenigen Tagen auf See fühlt sich Dark erfrischt und entspannt.

In Madagaskar gehen alle Passagiere von Bord, doch nur zwei neue wollen mitfahren: Hocherfreut erkennt Dark, dass es sich um zwei Damen handelt. Es sind die betagte Oberschwester Eleanor Main und ihre Nichte Constance, die keck und unternehmungslustig wirkt. Sie wollen nach Shanghai, um eine liebe Freundin gesundzupflegen, die einen schweren Unfall hatte.

Kaum hat die „Bheopte“ das Nordwestkap Madagaskars umsegelt, um Kurs auf Ceylon zu nehmen, als auch schon der befürchtete schwere Sturm aufkommt und das Schiff schwer in Mitleidenschaft zieht. Als die See wieder spiegelglatt daliegt und Flaue herrscht, schaut Dark skeptisch auf die zerfetzten Segel und die zerbrochenen Rahen. Die Rettungsbotte und der Schweinekoben ebenso. Diese Reparatur wird wohl länger dauern.

Sein Blick fällt auf ein fremdes Schiff, das querab auf dem Meer treibt. Es ist ein alter Kahn mit zerfetzten Segeln, und der Kapitän meint, es handle sich um eine „Herrenlose“ – ein uraltes Schiff, das ohne Mannschaft auf dem Meer treibt. Eleanor Main findet, es sehe aus wie ein Geisterschiff, richtig unheimlich. Das findet Constance aufregend. Sie will sich dort mal umsehen, und Dark pflichtet ihr bei, sehr zur Entrüstung Eleanors. Die Besichtigung könne erst nach Abschluss der Reparaturarbeiten erfolgen, entscheidet Kapitän Gannington.

Endlich ist es soweit. Mit sechs Rudern setzen Dark und Constance sowie die drei Offiziere der „Bheopte“ zu der unheimlichen Bark über. Auf die Rufe des Kapitäns antwortet niemand. Um das fremde Schiff hat sich ein dreckiger Schaumteppich gelegt, der stinkt und schleimig aussieht. Doch auf dem Deck können sie ihren vermissten Schweinekoben entdecken – natürlich leer. Mr Berlies erklettert die Bordwand als erster und lässt die Strickleiter herunter, damit die anderen ihm folgen können.

Die Szenerie an Deck ist unheimlich: Alles ist von einer dicken Schicht Schimmelpilz bedeckt. Und in dieser Schicht entdeckt Constance Linien in Purpurrot und Blau, als handle es sich um Adern. Dark kommt sich vor wie auf einem fremden Stern, und Selvern ist die Sache so unheimlich, dass er zur sofortigen Rückkehr rät. Das wird vom Käpt’n abgelehnt, der alles genau untersuchen will – wohl in der Hoffnung auf einen verborgenen Schatz, denkt Constance. Hätten sie nur auf Selvern gehört …

Die Schimmelschicht ist dehnbar wie eine Tierhaut, saugt sich aber den Stiefelsohlen fest. Dampf steigt von unter Deck auf, der sie bald wie ein kalter Nebel umgibt. Sein Geruch ist faulig und krank. Sie eilen zum Achterdeck, das höher liegt. Überall können sie nun Seeläuse krabbeln sehen, manche sogar so groß wie eine Hand. Aus einer abgedeckten Luke hören sie auf einmal ein Pochen, das auf Dark wie der Puls eines gigantischen Herzens wirkt.

Und der Puls beschleunigt sich. Etwas packt Selvern am Fuß …

Mein Eindruck

Die landläufige Meinung lautet, dass Schiffe unbelebte Materie seien. Doch in Wahrheit sind sie ein Ökosystem aus belebter Materie. Muscheln heften sich an die Schiffhaut, Algen setzen sich überall fest, und was sich alles in der Bilge nahe dem Kiel tummelt, will man lieber gar nicht wissen.

Auch die Herrenlose ist so ein Ökosystem. Es besteht zwar aus bekannten Bestandteilen wie Schimmelpilzen und Seeläusen, doch es verbergen sich unter der scheinbar lebendigen Haut noch andere Wesen. Und sie haben es alle auf die Besucher abgesehen. Die Fremdartigkeit des Ökosystems entspricht der von „Leben auf einem anderen Stern“, wie es an einer Stelle heißt. Doch die Frage ist, ob dieses Leben den Besuchern feindlich gesonnen ist. Die Antwort lautet eindeutig ja. Das macht das fremde Ökosystem jedoch nicht bösartig: Es will sich lediglich ernähren.

Dieser Hunger erweist sich für den armen Selvern als verhängnisvoll. Und auch auf die Dame und Dr. Dark haben es die Aliens abgesehen. Immer mehr Wesen machen sich bemerkbar. Sie werden offenbar von einem Zentralgehirn gesteuert, das tief im Innern der Herrenlose befinden muss. Der Puls eines riesigen Herzens beschleunigt sich, als wolle es alle seine Körperbestandteile wecken und mit Blut versorgen. Glauben die Besucher wirklich, dass sie ihm entkommen können?

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecherstimmen entsprechen genau ihren festgelegten Stereotypen. Der frischgebackene Doktor steht für Unternehmungslust und Neugier, er findet sein Gegenstück in Miss Constance, die noch ein Stück kecker ist. Beiden stoßen auf den Protest der älteren Generation, als da wären die alte Tante – wunderbar indigniert: Almut Eggert – und der erfahrene Seebär, Käpt’n Gannington.

Von den Nebenfiguren ist sicherlich die interessante der unglückselige Selvern. Michael Deffert charakterisiert ihn empfindsam und vor allem ängstlich. Schon bald ahnt er das Unheil voraus, das auf dem herrenlosen Kahn auf sie alle lauert. Zuletzt hört man nur noch seine Schreie … Schade, dass der stimmlich sonst so versierte Stefan Kaminski seine Kunst in der Rolle von Mr Berlies nicht unter Beweis stellen kann.

Geräusche

Die Geräusche sind genau die gleichen, wie man sie in einem realistischen Spielfilm erwarten würde, und die Geräuschkulisse wird in manchen Szenen dicht und realistisch aufgebaut, meist aber reichen Andeutungen aus. So ist der Hafen mit Schiffsglocke, Wellenplätschern und Möwenschreien ausreichend charakterisiert, die hohe See durch Wind und Wellenrauschen. Die Figuren lachen rufen, schnuppern vernehmlich – und schreien schließlich noch weit vernehmlicher.

Ganz anders verhält es sich natürlich auf dem fremdartigen Terrain der Herrenlosen. Hier mussten sich die Sounddesigner und Toningenieure etwas einfallen lassen, denn etwas Fremdartiges darf ja nicht vertraut klingen. Klar soweit?

Ich habe mir neben dem pulsartigen Pochen des Schiffes und dem Fauchen undefinierter Wesen auch etliche Male „Sounds“ notiert. Wie diese im einzelnen klingen, ist schwer zu beschreiben – man sollte sie selbst hören. Die meisten haben eine unheimliche und furchteinflößende Wirkung. Der Hörer sei gewarnt! Selbstredend spielen tiefe Bässe eine tragende Rolle. Nichts ist so furchteinflößend wie eine bestimmte tiefe Frequenz. Nicht zufällig ist der letzte Laut, den die Inszenierung aufweist, ein ebensolcher Bass-Klang.

Musik

Die Musik entspricht der eines Scores für ein klassisches Horrormovie. Klassische Instrumente wie Violine, Cello und Kontrabass werden besonders im Fall obengenannten Sounds von elektronisch erzeugten Effekten ergänzt. Auch die Qualität des Halls ist verändert, sodass die Sounds und Stimmen an Bord der Herrenlosen klein und dumpf klingen.

Musik, Geräusche und Stimmen wurde so fein aufeinander abgestimmt, dass sie zu einer Einheit verschmelzen. Dabei stehen die Dialoge natürlich immer im Vordergrund, damit der Hörer jede Silbe genau hören kann. An keiner Stelle wird der Dialog irgendwie verdeckt.

Das Booklet

… enthält im Innenteil lediglich Werbung für das Programm von Titania Medien. Auf der letzten Seite finden sich die Informationen, die ich oben aufgeführt habe, also über die Sprecher und die Macher. Die Titelillustration von Firuz Akin fand ich diesmal passend und stimmungsvoll. Firuz Akin macht auch Werbung für sein Buch „Illustration“, das Mitte Dezember im Heider Verlag erscheinen soll.

Diesmal sind in einem zusätzlichen Katalog Hinweise auf die nächsten Hörspiele zu finden:

Nr. 54 + 55: Alice & Claude Askew: „Aylmer Vance – Abenteuer eines Geistersehers“ (Mai 11)
Nr. 56 + 57: dito: „Neue Abenteuer eines Geistersehers“ (September 2011)
Nr. 58: Lovecraft: „Pickmans Modell“ (November 2011)
Nr. 59: Edith Nesbit: „Das violette Automobil“ (November 2011)

Auf einem Einleger wird Werbung für den Online-Shop Pop.de gemacht, der neben dem Gruselkabinett „über 12.000 andere Hörspiele und Hörbücher zu günstigen Preisen“ anbietet.

Unterm Strich

Obwohl diese großartige und wirkungsvolle Erzählung schon 1912 erschien, nimmt sie doch das Science-Fiction-Motiv des Besuchs auf fremden Welten vorweg. Das hat ja schon 1895 H.G. Wells in „Die Zeitmaschine“ vorgemacht – mit dem Unterschied, dass es dort die Erde der fernen Zukunft ist, die uns so fremdartig erscheint. Hodgson verlegt die fremde Welt ganz ins Hier und Jetzt: als Fremdkörper, der aus vermeintlich unbelebter Materie ein lebendes Ökosystem entwickelt hat. Und es ist stets hungrig.

In einer allmählichen Steigerung der Schrecken, auf die die Besucher stoßen, führt der Autor den Hörer in eine fremdartige Welt, in der die Besucher nichts zu suchen haben – außer sie wollen Lebendfutter werden. Der Autor lässt sich zahlreiche Spielarten unangenehmer Organismen einfallen. Diese sehen alle zwar „normal“ aus, entwickeln aber unangenehme Fähigkeiten. Es ist ungefähr so, als würde sich nach einem Atomunglück eine mutierte Fauna entwickeln. Dass Menschen hier nichts zu suchen haben, macht dieses Ökosystem nicht automatisch böse.

„Neugier ist der Katze Tod“ heißt es im Sprichwort, und auch hier trifft es zu. Es ist der Mediziner und Wissenschaftler, der unbedingt das herrenlose Schiff erforschen will, und der Kapitän hofft auf einen Schatz. Am Schluss, nach einem dramatischen Überlebenskampf, bedauert Dr. Dark – ein ominöser Name, wenn es je einen gegeben hat – nur, dass er keine Gelegenheit hatte, dieses Ökosystem genauer wissenschaftlich zu untersuchen. Denn nach einem zweiten Sturm ist die Herrenlose spurlos verschwunden.

Das Hörspiel

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen.

Diesmal stellt die Fremdartigkeit der „Herrenlosen“ besondere Anforderungen an die Kunst der Sounddesigner, Toningenieure und Tonmischer. Das Ergebnis verfehlt seine Absicht in keinster Weise: Grauen und Schrecken scheinen im letzten Drittel gar nicht mehr aufhören zu wollen. Kein Hörer kann sich dieser Wirkung entziehen.

Audio-CD mit 66 Minuten Spielzeit
Originaltitel: „The Derelict“ (1912)
ISBN-13: 978-3-7857-4477-2
www.titania-medien.de
www.luebbe.de/luebbe-audio