Böse Prinzessin Pirlipat vs. Marie: eines der besten Weihnachtsmärchen
Marie Stahlbaum hat eine rege Phantasie. Alles, was ihr begegnet, birgt für sie ein Geheimnis. Beim Rest ihrer Familie stößt sie damit auf größtes Unverständnis. Einzig der etwas wunderliche Onkel Drosselmeier scheint sein Patenkind zu verstehen. Zu Weihnachten schenkt er Marie einen Nussknacker. Postwendend gerät das junge Mädchen in ein phantastisches Abenteuer, denn der Mausekönig und seine hinterlistige Mutter Frau Mauserinks haben mit eben jenem Nussknacker noch eine Rechnung offen…(Verlagsinfo)
Mit der Musik des russischen Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowski („Schwanensee“). Derzeit, Xmas 2022, neu im Kino!
Der Autor
Ernst Theodor Amadeus Hoffmann lebte von 1776 bis 1822. Zu seinen Hauptwerken zählen die Romane „Die Elixiere des Teufels“ und „Lebensansichten des Katers Murr“ sowie diverse Erzählungssammlungen, vor allem „Die Serapionsbrüder“. Er schrieb auch eine Oper mit dem Titel „Undine“. Als „Gespenster-Hoffmann“ abqualifiziert, markiert er Höhepunkt und Spätphase der deutschen, der Schwarzen Romantik. „Der Sandmann“ ist eine seiner bekanntesten Erzählungen und darf in keiner Geschichtensammlung über frühe Roboter und Automaten fehlen.
Die Sprecher/Die Inszenierung
Die Rollen und ihre Sprecher:
Erzähler: Roland Hemmo
Geheimrat: Otto Mellies
Geheimrätin: Susanne Uhlen
Luise: Tanya Kahana
Fritz: Maximilian Artajo
Marie: Gabrielle Pietermann
Drosselmeier: Norbert Langer
Christian Elias: Robin Kahnmeyer
Gerda: Ursula Sieg
Klara: Christel Merian
Dr. Wendelstern: Hasso Zorn
Piff Schnetterdeng: Marius Clarén
Mamsell Klärchen: Regina Lemnitz (dt. Stimme von Kathy Bates u. a.)
Frau Mauserinks: Cornelia Meinhardt
Mausekönig: Marcel Collé
König: Wilfried Herbst
Königin:Monica Bielenstein
Pirlipat: Cathlen Gawlich
Marc Gruppe, der auch das Skript schrieb, führte zusammen mit Stephan Bosenius Regie. Die Illustration stammt wie immer von Firuz Askin.
Handlung
Es ist Heiligabend bei Geheimrat Stahlbaum, und seine Kinder Marie, die Jüngste, und Fritz linsen bereits durch den Türspalt ins Prunkzimmer, wo der Christbaum steht und die Geschenke warten. Oder doch nicht? Man ist jedenfalls enorm gespannt. Fritz erschreckt sein Schwesterchen, das ja sogar noch an Engel glaubt, damit, dass ihr wohl bloß ihr Patenonkel Drosselmeier, der Uhrmacher, irgendso ein mechanisches Ding mitbringt. Fritz jedenfalls ist überzeugt, jede Menge Zinnsoldaten und ein Holzpferd zu bekommen, das er dressieren kann.
Da sieht Marie draußen vorm Fenster einen seltsamen Jungen, der unter einer Laterne steht. Sie fragt sich, ob er wohl verzaubert ist und erlöst werden müsse. Unter dieser massiven Attacke wirrer Phantasie gerät Fritz in Panik und ruft seine Mutter zu Hilfe. Auch sie ist ein rein praktisch denkender Mensch, doch als sie den Jungen sehen will, ist er weg. Was nur ihren Verdacht nährt, dass Marie nicht ganz richtig im Kopf ist. Maries ältere Schwester Luise spricht dies auch offen aus, was doch recht unhöflich ist. Mutter sorgt sich, dass so viel Phantasie sicherlich ungesund ist.
Und bei der Bescherung bekommt Marie schon wieder ein Märchenbuch! Nachdem alle mit Geschenken versorgt sind, tritt Onkel Drosselmeier ein. Er schenkt Marie eine Holzpuppe, die den Geschwistern überaus hässlich vorkommt: ein Nussknacker. Fritz macht ihn sogleich beim ersten Test kaputt. Der Onkel tröstet Marie, damit sie gut auf den Nussknacker aufpasst, und geht. Danach müssen alle Kinder ins Bett.
Mitternacht
Um Mitternacht tritt Drosselmeier aus dem Uhrenkasten und repariert seine mechanische Puppe, verleiht ihr seine Magie. Dann versteckt er sich erneut, als der Mausekönig mit seiner Mutter Mauserinks erscheint. Die Alte hasst die Menschen und will ihrem Sohn ein eigenes Reich verschaffen. Ihr einziger Feind ist jedoch der Nussknacker. Da – ein Miauen warnt sie vor der Hauskatze, und sie verstecken sich.
Es erscheint aber bloß Marie, die nach ihrer Puppe Mamsell Klärchen schauen will. Sie findet den Nussknacker, der sie warnt: „Eine Schlacht steht bevor!“ Nämlich gegen den Mausekönig und seine Mutter. Marie hakt nach, und der Nussknacker gesteht ihr, dass er einst Frau Mauserinks ins Exil gebracht habe. Zur Strafe ließ sie den Prinz in diese Nussknackergestalt verzaubern. Wer er wohl war, will Marie gerade fragen, als Kanonendonner dröhnt – und die Schlacht beginnt!
Schlag eins
Doch kaum schlägt die Uhr eins, als die Puppen ihr Leben wieder verlieren. Doch die Familie wundert sich, wie tief die Wunde in Maries Hand ist. Sie sei von Mäusen gebissen worden? Na so was! Mama, Luise und Fritz sind von solchen Hirngespinsten schwer genervt. Doch sie finden tatsächlich Nagetierspuren. Sofort wird der Krieg gegen die Nager ausgerufen und das Hausmädchen Klara angewiesen, Fallen aufzustellen.
Prinzessin Pirlipat
Da tritt Onkel Drosselmeier ein. Er wisse Bescheid und wolle nach Marie, seinem Liebling, sehen. Das ist in Ordnung, und während alle anderen auf ihre Zimmer gehen, erzählt er Marie eine gar wunderliche Geschichte. Denn sie erklärt, wie es zur ewigen Feindschaft zwischen dem Nussknacker und den Mäusen kam. Es war einmal eine äußerst verzogene Prinzessin namens Pirlipat, die bekam von ihren Eltern, dem König und der Königin, jeden Wunsch erfüllt …
Weihnachtsmorgen
Am nächsten Morgen findet die Familie eine schlafende Marie auf dem Sofa vor. Man macht sich größte Sorgen. Vor allem dann, als Marie eine überaus phantasievolle Geschichte von einer Prinzessin, einem verzauberten Uhrmacher und einem Mausekönig erzählt. Die Geheimrätin ruft kopfschüttelnd nach Doktor Wendelstern. Doch keiner von ihnen vermag zu erklären, wie die goldene Krone in Maries Hand gelangt ist. Da klopft es an der Tür …
Mein Eindruck
Wieder einmal setzt E. T. A. Hoffmann in einer Erzählung – und es ist eine seiner schönsten – die prosaische Wirklichkeit der preußischen Bürger gegen die kreative Phantasiewelt der Romantik. Denn zu der Zeit, als man von Siegmund Freud noch nichts gehört hat, war schon einigen Autoren klar, dass in der Seele des Menschen Kräfte schlummern, die weit über die Zwänge der Realität hinausgehen. So auch hier. Diese psychischen Kräfte, vulgo: „Phantasie“ genannt, müssen gegen den bürgerlichen „Realismus“ antreten. Doch welche Seite wird gewinnen?
Diesmal ist es die junge Marie, die den Kampf ausfechten muss. Ihre Vorstellungswelt ist fest in den Märchen verankert und verwandelt jedes Rätsel in einen neuen Zauber, so etwa den einsamen Jungen unter der Laterne. Er wird ganz am Schluss ihres Abenteuers in der Nacht nach Heiligabend noch eine wichtige Rolle spielen.
Onkel Drosselmeier spielt eine Art Weihnachtsmann der sonderbaren Art: Er verfügt, wenn schon nicht über richtige, so doch zumindest über die mittelbare Magie der Märchen. Und so verzaubert er Maries Phantasie erneut. Ausgestattet mit dem Wissen über den Konflikt zwischen dem Mausekönig und dem Nussknacker (an dem v. a. Prinzessin Pirlipat schuld ist), greift sie ein, um nicht nur einmal, sondern zweimal eine wahrhaft heroische Schlacht zu schlagen.
Sie gewinnt und nimmt dem Mausekönig seine Krone ab, denn die steht dem Nussknacker zu. Nun muss sie nur noch den verzauberten Nussknacker von seinem Fluch erlösen. Da klopft es an der Tür und Onkel Drosselmeier stellt seinen Neffen Christian Elias aus Nürnberg vor. Der Junge will mit Marie spielen.
Die Ironie ist deutlich: Marie ist mutiger als ihr Bruder Fritz (benannt nach Friedrich dem Großen) mit seinen Zinnsoldaten und Holzpferdchen. Und ihr steht der Sinn nicht nach irdischen Dingen wie Zuckerwerk, sondern vielmehr nach sinnhaften Dingen wie Puppen, die Geschichten erzählen – und nach den Geschichten selbst. Das wiederum ist ironischerweise ihrer Mutter höchst suspekt, ihrem Vater aber recht lieb.
Der Vater tritt selten auf, um seine Hand über Marie zu halten, vielmehr ist es der reichlich verschroben erscheinende Uhrmacher / Spaßmacher / Geschichtenerzähler Drosselmeier, der Marie die wichtigste Hilfe ist. Doch wofür stehen die Mäuse und der Nussknacker? Der Nussknacker ist ein verzauberter Prinz und die Mäuse seine Feinde – sie haben ihn verflucht. Der Mausekönig bzw. seine Mutter begehren nur Macht und materielles Wohlleben, z. B. in Gestalt von Speck. In ihnen sind negative Impulse der Seele verkörpert.
Marie erkennt durch Drosselmeiers Geschichte den Zusammenhang und will den Prinzen erlösen. Dies ist eine andere Art von Liebe als der allseits so begehrte EROS des Begehrens. Dies ist AGAPE, die Liebe, die hingibt und erlöst. (Es gibt noch eine dritte Spielart, aber die spielt hier keine Rolle.) Durch ihre Phantasie und ihr mutiges und liebevolles Eingreifen gelingt es Marie, diesen Fluch aufzuheben und den Krieg beizulegen.
Wäre dies doch auch zwischen Völkern möglich, mag sich der kriegsgeplagte Preuße Hoffmann anno 1816, als die Geschichte in der Sammlung „Die Serapionsbrüder“ erschien, erfleht haben. Er lässt uns Marie als den Geist der Weihnacht erscheinen, als das eigentliche Christ-Kind, von dem die prosaische Mutter brabbelt und der Vater raunt, als wäre es nur eine Legende. In Marie verkörpert sich Hoffmanns Utopie, durch phantasiegestützte Empathie und christliche Nächstenliebe den Frieden herbeizuführen, nicht nur zwischen Völkern, sondern auch in der preußischen Gesellschaft. Ein frommer Wunsch, der geradewegs ins Biedermeier führte – und von dort zur März-Revolution von 1848.
Die Sprecher/Die Inszenierung
Die Sprecher engagieren sich hörbar für diese Kindergeschichte. Sie spielen auf zwei Ebenen: auf der Realitätsebene und auf der Phantasieebene. Während die männlichen Sprecher auf der Realitätsebene entweder Jungs oder ältere Herren verkörpern, so lassen sich die weiblichen Rollen in (sehr unterschiedliche) Mädchen, Kinder- und Hausmädchen sowie in die Familienmutter einteilen. Die Hauptrolle spielt dabei natürlich Marie, welche on Gabrielle Pietermann mit größter Begeisterung und Glaubwürdigkeit dargestellt wird. Gegenüber dieser zentralen Rolle verblassen alle anderen.
Und Marie ist auch die Einzige, die auch auf der Phantasieebene auftritt. Nachdem Onkel Drosselmeier, der von Norbert Langer sehr vertrauenswürdig porträtiert wird, in die Geschichten eingeweiht worden ist, kann Marie selbständig agieren. So gelingt es ihr, die zwei Mäuse zu besiegen und den Nussknacker zu erlösen. Der Nussknacker klingt nicht allzu hölzern, denn das wäre zu lächerlich gewesen.
Vielmehr ist die lächerlichste Person des gesamten Stück Prinzessin Pirlipat. Cathlen Gawlich, eine erfahrene Synchronsprecherin, kann in dieser Rolle ihrem Affen Zucker geben und das verzogenste und gemeinste Gör spielen, das man sich nur vorstellen kann. Sie weint und greint, jammert, schreit und wettert so ordinär, dass es entweder einen Stein erweicht oder einen auf die Palme bringt. In meinem Fall war es Letzteres. Diese Figur bleibt einem in Erinnerung.
Geräusche
Die Geräusche ist zunächst die eines normalen Heiligabends, doch wird die kitschige Romantik keineswegs übertrieben. Da knarzen Türen und Kanonen donnern sogar hörbar! Martialische Musik erklingt aus dem Hintergrund und man möchte schwer bezweifeln, dass es sich um ein Friedensfest handelt.
Musik
Eben jene stellenweise martialische Musik wird von Tschaikowski beigetragen, der extra auf dem Cover der CD erwähnt wird. Zum Glück sind alle anderen Passagen recht friedlich und idyllisch gestaltet. Allerdings fand ich sie nicht sonderlich eindrucksvoll. Die Musik, die sonst extra für die GRUSELKBANINETT-Hörspiele geschrieben wird, wirkt passender und ist somit wirkungsvoller. Im Vergleich dazu wirkt Tschaikowskis Musik wie ein Notbehelf. Eigentlich schade drum.
Booklet
Das Booklet listet sämtliche Sprechrollen mit ihren Sprechern sowie die Macher auf. Informationen über Hoffmann und Tschaikowski sucht man vergeblich. Die sind für das kindliche Publikum wohl auch nicht so wichtig. Stattdessen findet sich im Mittelteil Werbung für alle 20 Folgen der ANNE-Hörspielreihe.
Unterm Strich
Diese Weihnachtsgeschichte gehört zu den besten überhaupt. Ihre christliche Botschaft ist allerdings viel stärker verschlüsselt als etwa die in Charles Dickens‘ „Christmas Carol“. Deshalb ist die Aussage weniger leicht zu verstehen und sollte von Erwachsenen erklärt werden. Wenn aber ein Kind schon von verzauberten Prinzen, Prinzessinnen auf der Erbse, Rumpelstilzchen-haften bösen Geistern und erlösenden Feen weiß, dann kann es die Geschichte ganz leicht begreifen: Marie ist das Christ-Kind, das den verfluchten Prinzen erlöst und die gierigen Mäuse besiegt. Und natürlich würde jedes Mädchen mindestens einmal im Leben ein Christ-Kind und eine gute Fee sein, nicht wahr?
Recht interessant ist hierbei die Rolle des Geschichtenerzählers und Uhrmachers Drosselmeier, der anstelle eines Kirchenvertreters auftritt. Seine Aufgabe besteht darin, Marie die Zusammenhänge zu erklären und die Magie der Phantasie wirken zu lassen. Durch Phantasie, also Seelenkräfte, bewirkt er hier mehr als etwa eine fromme Bibelgeschichte von einem Mann in Judäa oder sonst wo, der ans Kreuz genagelt wurde (was doch eine recht schauerliche Horrorszene ist, wenn man sich das mal vorstellt).
Das Hörspiel
Die Sprecher agieren auf den zwei Ebenen der Realität und der Phantasie. Nur Marie ist auf beiden Ebenen vertreten. Deshalb fällt ihrer Figur eine Schlüsselrolle zu. Gabrielle Pietermann spielt Marie jedoch ganz wunderbar und bezaubernd. Seltsamerweise (oder gerade deshalb volle Absicht) ist ihre Gegenspielerin nicht die Mutter des Mausekönigs, von Regina Lemnitz schön boshaft dargestellt, sondern vielmehr die verzogene, völlig egoistische Prinzessin Pirlipat. Pirlipat, in jeder Hinsicht Maries Gegenpol, wird von Cathlen Gawlich so nervtötend dargestellt, dass sie dem Hörer stärker in Erinnerung bleibt als die Hauptfigur. Da soll noch einer behaupten, die Schurkenrolle wäre undankbar!
Was die Musik angeht, so hätte der Produzent besser eine eigens angepasste Hintergrundmusik wählen sollen als jene von Tschaikowski. Die Musik des Russen wirkt etwas blass im Vergleich zu den GRUSELKABINETT-Musiken. Außerdem habe ich das bekannte Nussknacker-Leitmotiv gesucht und nicht vernommen. Vielleicht habe ich es einfach überhört.
1 Audio-CD mit über 74 Minuten Spieldauer
Hörspiel von Marc Gruppe nach der Erzählung von E. T. A. Hoffmann
mit der Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowski
ISBN 978-3-7857-4393-5
http://www.titania-medien.de
Der Autor vergibt: