Sommer 1629: Die „Batavia“, das Flaggschiff der „Herbstflotte“, die im Auftrag der „Vereinigten Ostindischen Companie“ (VOC) im Oktober des Vorjahres die Niederlande via Ostindien verlassen hat, läuft in einem schweren Sturm auf den Riffen einer namenlosen Insel irgendwo im tropischen Ozean auf. Etwa 300 Überlebende können sich retten – sie finden sich mit minimalen Wasser- und Lebensmittelvorräten auf einem öden Eiland wieder. Der Kapitän und der Repräsentant der VOC machen sich mit den Offizieren und einem Teil der Besatzung im Beiboot der „Batavia“ auf, Hilfe zu holen. Ob sie es schaffen werden, das Festland zu erreichen, ist ungewiss. Sollte es ihnen allerdings gelingen, werden sie auf jeden Fall zurückkehren, denn die Laderäume des Wracks bersten förmlich vor Gold, Juwelen, kostbaren Stoffen und anderen Schätzen.
Die Überlebenden müssen sich auf eine lange Wartezeit gefasst machen. Sie sind auf ihr Dasein als Schiffbrüchige nicht vorbereitet. Ohne Führung bricht die Disziplin bald zusammen. Die Inselgesellschaft droht an ihrer Tatenlosigkeit zugrunde zu gehen, da fühlt sich ein Mann berufen, die Zügel in die Hand zu nehmen: Jeronimus Cornelisz, ein Kaufmann, der an Bord der „Batavia“ eher unauffällig geblieben ist. Nun wählt man ihn zum Vorsitzenden eines Inselrates, der den Kampf ums Überleben organisieren soll.
Cornelisz ist ein Mann mit geheimen Träumen von brutaler Herrschaft und perverser Gewalt; nun, da er zum ersten Mal in seinem Leben Macht ausüben kann, lässt er seinen bisher unterdrückten Leidenschaften freien Lauf. Er entpuppt sich als geborener Anführer und geschickter Verführer, der rasch eine Gruppe zu allem entschlossener Männer um sich scharen kann. Sie nennen sich die „Auserwählten“, und sie errichten auf der trostlosen Insel, genannt „Batavias Friedhof“, ein grausames Terrorregime. Cornelisz erklärt sich zum Herrn über Leben und Tod, lässt Kranke und Kinder als „unnütze“ Esser ermorden, zwingt die Frauen sich zu prostituieren, rafft die Schätze der „Batavia“ an sich. Unter dem Vorwand, die drückende Enge auf der Insel mildern zu wollen, lässt Cornelisz mehrfach Männer und Frauen auf benachbarte Eilande übersetzen. Tatsächlich werden sie dort jämmerlich abgeschlachtet und ausgeraubt.
Binnen zweier Monate bringen die „Erwählten“ über 125 Menschen um; bald töten sie offen und aus reiner Mordlust. Die durch Hunger, Krankheit und Furcht geschwächten Überlebenden liefern sich der Willkür fast ausnahmslos aus. Doch der Gipfel der Gräuel ist noch längst nicht erreicht. In dem Wissen, dass ihre Schreckensherrschaft sich bald dem Ende zuneigen oder man sie bei einer Rettung streng bestrafen wird, beginnen die „Erwählten“ sich auch untereinander zu bekriegen. Einig sind sie sich höchstens in ihrem Bestreben, sämtliche Zeugen ihrer Untaten zu beseitigen …
Die wahre Geschichte der „Batavia“ – oder besser die ihrer schiffbrüchigen Besatzung – gehört zu den durchaus bekannten, aber halb vergessenen historischen Episoden. Wenn Gabriele Hoffmann den VOC-Kommandeur Pelzert im zweiten Teil ihres Romans die unglaublichen Ereignisse des Jahres 1629 niederschreiben lässt, hält sie sich damit eng an die Wahrheit. Pelzerts umfangreiche Protokolle stellen eine reiche Quelle dar, aus der auch die Autorin schöpfen konnte.
Da die Ereignisse wahrlich für sich selbst sprechen, übernimmt sie den nüchternen Tenor der Vorlage. Ihr Roman wirkt dadurch über weite Strecken wie eine dokumentarische Bestandsaufnahme. Der Verzicht auf inszenierten Horror und Melodramatik kommt der Geschichte sehr zugute. Dennoch sollte man sich davor hüten, Hoffmanns Schilderung mit der Realität des Jahres 1629 gleich zu setzen. „Die Schiffbrüchigen“ ist ein Roman und damit fiktiv; es gibt zum Beispiel keine Aufzeichnungen eines Ritters Christoph von Eck.
Außerdem unterwirft Hoffmann die reale Geschichte ihrer subjektiven Wertung. „Die Schiffbrüchigen“ soll mehr als reine Unterhaltung sein – nämlich ein romanhafter Essay über das Wesen der Schuld. Das Geschehen von 1629 steht stellvertretend für alle Grausamkeiten, die sich die Menschen im Laufe der Jahrtausende angetan haben; Gräuel, die unzweifelhaft geschehen sind, die aber nachträglich niemand zufriedenstellend erklären konnte und kann, was die Opfer wie die Täter (!) einschließt.
Statt „Batavia Friedhof“ könnte der Ort der Handlung auch Little Big Horn, My Lai oder Auschwitz heißen, wobei Hoffmans Allegorie hauptsächlich auf den organisierten Massenmord der Nazis zielt. Der Aufstieg einer kleinen, aber skrupellosen Clique in krisenhafter Zeit, die Ausgrenzung angeblich „schädlicher“ Minderheiten, die geschickte Eingliederung der schweigenden Mehrheit in eine Unterdrückungs- und Mordmaschinerie, der Terror, der bald seine eigenen Kinder frisst, aber auch das Schweigen, die Fassungslosigkeit und das Leugnen derer, die „dabei“ waren, sobald der Spuk vorbei ist – das sind Phänomene, die untrennbar mit dem „Dritten Reich“, den Kriegsverbrecherprozessen der überforderten Siegermächte und der Grabesstille der deutschen Nachkriegsjahrzehnte verbunden sind.
Dem erzählerischen Talent Gabriele Hoffmanns ist es zu verdanken, dass diese Aspekte sich einerseits nie aufdringlich in den Vordergrund schieben, während sie sich andererseits stets als persönliche Standpunkte der Autorin erkennen lassen. Hoffmanns (resignatives) Fazit, dass „das Böse“ in jedem Menschen lebt und jederzeit und an jedem Ort ausbrechen kann, hat etwas bestechend Logisches, vereinfacht ein komplexes Problem allerdings in vielerlei Hinsicht und muss nicht unbedingt zutreffen. Aber bei einem Roman ist es das Privileg des Autoren, die Wirklichkeit nach eigenem Gusto zu verändern, mit ihr zu spielen und eine persönliche Sicht der Welt ins buchstäbliche Spiel zu bringen.
Wer sich als Leser also nicht berufen fühlt, an einer philosophischen Diskussion über Gut und Böse teilzunehmen, sei beruhigt: „Die Schiffbrüchigen“ funktioniert auch als „normales“, sehr spannendes, wenn auch düsteres historisches Abenteuer.
Jeronimus Cornelisz – die personifizierte Banalität des Bösen. Als Kaufmann führt er ein völlig unauffälliges, von hohen Risiken und gefahrvollen Geschäftsfahrten geprägtes Dasein. Niemand würde in ihm den geradezu archaischen Schreckensherrscher vermuten, in den er sich aus heiterem Himmel verwandelt. Er muss sein geheimen Träume von lustvollem Terror gehabt, aber sorgfältig in seinem Herzen verborgen haben. Nun lässt er ihnen freien Lauf, da niemand ihnen (endlich) Einhalt gebieten kann.
So ist es natürlich nicht. Wieso greift beispielsweise Christoph von Eck nicht ein? Er trägt den Rittertitel und ist eigentlich verpflichtet für Zucht und Ordnung zu sorgen. Doch in diesem Jahr 1629 ist der Ritterstand in uralten Denkmuster erstarrt, trauert kodifizierten Verhaltensvorschriften nach, die von der Zeit längst überholt sind. Von Eck sieht sich als Krieger im Auftrag Gottes; für die Disziplinierung eines Gewaltherrschers fühlt er sich nicht zuständig, so lange ihn dieser nur in Ruhe lässt.
Cornelisz wiederum ist schlau genug zu warten, bis seine Anhängerschaft so stark gewachsen und seine Gegner so schwach geworden sind, dass ihm die Macht in den Schoß fällt. Wäre die Mordlust nicht mit ihm durchgegangen, hätte sein Plan aufgehen können. Aber der amokhafte Blutrausch führt den unheimvoll „befreiten“ Kaufmann letztlich selbst ins Verderben: Als man ihn zur Verantwortung zieht, verhält sich „das Gesetz“ nicht minder grausam als er. Seine Richter und Henker sehen freilich das Recht auf ihrer Seite und sich selbst in der Pflicht, Cornelisz‘ unglaubliche Taten zu sühnen – und das geschieht auf zeitgenössische Art, d. h. nach dem Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Die Überlebenden der „Batavia“ müssen sich den Rest ihres Lebens die Frage stellen, wieso sie mittaten- als Täter, Mitläufer oder Opfer. Sie finden keine Antwort, verstricken sich in gegenseitige Schuldzuweisungen, erwachen – Cornelisz eingeschlossen – aus einem bösen Traum. Und das war die „Batavia“-Katastrophe denn auch: eine unerfreuliche Lektion in der Alltäglichkeit des Bösen, das dich auf eine Weise überraschen kann, mit der du niemals gerechnet hättest: als Unschuldiger, aber auch als Schuldiger.