Robert Holdstock – Mythenwald (Ryhope Wood Zyklus 1)

Expedition in die Tiefen des magischen Waldes

Im Herzen des Waldes Ryhope Wood liegt eine Welt der vergessenen Helden und Urbilder. Schamanen wohnen hier ebenso wie das Böse … Als Steven Huxley 1947 aus dem Krieg heimkehrt, um den Spuren seines inzwischen gestorbenen Vaters und seines verschwundenen Bruders nachzugehen, führt ihn sein Weg nach Ryhope Wood.

In diesem Urwald verläuft die Zeit nicht wie in der Menschenwelt, und die Vergangenheit erwacht zum Leben. Im gleichen Maße, in dem Steven seine eigene Vergangenheit zu bewältigen versucht, wird er hineingezogen in die kollektiven Phantasien zahlloser Generationen, die im Mythenwald greifbare Gestalt annehmen – mitunter tödliche Gestalt …

Der Autor

Robert Paul Holdstock, geboren 1948, begann mit dem Schreiben schon 1968, machte sich aber erst 1976 als Schriftsteller selbständig und schrieb daraufhin eine ganze Menge Genre-Fantasy. Dabei entstanden wenig interessante Trilogien und Kollaborationen an |Sword and Sorcery|-Romanen, unter anderem mit Angus Wells.

Seine Pseudonyme waren unter anderem Robert Faulcon, Chris Carlsen, Richard Kirk, Robert Black, Ken Blake und Steven Eisler.

Holdstock starb am 29. November 2009 im Alter von 61 Jahren nach einem Zusammenbruch infolge einer E.-coli-Infektion vom 18. November 2009. (Wikipedia.de)

Ryhope Wood Zyklus

Erst 1983 und 1984 taucht das für die Ryhope-Sequenz wichtige Motiv des Vater-Sohn-Konflikts im Roman „Mythago Wood“ auf, für den der Autor den |World Fantasy Award| erhielt. Beide Seiten werden getrennt und müssen wieder vereinigt werden. Das Besondere an dieser emotional aufgeladenen Konstellationen ist jedoch, dass die Bewegung, die dafür nötig ist, in einer Geisterwelt stattfindet: dem Ryhope-Forst.

In Holdstocks keltischer Fantasy befindet sich in diesem Urwald, der dem kollektiven Unbewussten C. G. Jungs entspricht, erstens ein Schacht, der mit weiterem Vordringen ins Innere immer weiter zurück in der Zeit führt. Eines der wichtigsten und furchtbarsten Ungeheuer, Urscumug, stammt beispielsweise aus der Steinzeit. Und zweitens finden bei diesen seelischen Nachtreisen durch die Epochen permanent Verwandlungen, Metamorphosen statt. So verwandelt sich die Hauptfigur Tallis in „Lavondyss“ schließlich in eine Dryade, einen Baumgeist. Das ist äußerst faszinierend geschildert.

Am Ende der Nachtreisen warten harte Kämpfe, die auch in psychologischer Hinsicht alles abverlangen, was die Kontrahenten aufbieten können. Und es ist niemals gewährleistet, dass die Hauptfiguren sicher und heil nach Hause zurückkehren können. Denn im keltischen Zwielicht, das noch nicht durch das christliche Heilsversprechen erleuchtet ist, scheint am Ende des Weges keine spirituelle Sonne, sondern dort wartet nur ewige Nacht. Es ist also die Aufgabe des Autors darzulegen, wie dieses schreckliche Ende vermieden werden kann.

Der MYTHAGO-Zyklus bis dato:

1. Mythago Wood (1984; Mythenwald, World Fantasy Award!)
2. Lavondyss (1988; Tallis im Mythenwald)
3. The Bone Forest
4. The Hollowing (1993)
5. Merlin’s Wood (1994, Sammlung inklusive Roman)
6. Ancient Echoes (1996)
7. The Gate of Ivory and Bone
8. Avilion (2008)

Der MERLIN CODEX-Zyklus:

1. Celtika (2001)
2. The Iron Grail (2002)
3. Broken Kings (2007)

Handlung

Als der Soldat Steven Huxley 1947 aus dem Krieg nach England in sein Elternhaus Oak Lodge zurückkehrt, bemerkt er an seinem Bruder Christian, der dort abgeschieden und allein lebt, eine merkwürdige Veränderung. Chris ist, wie schon seit Vater vor ihm, in den Bann des nahen Ryhope-Forsts geraten, eines Überrests der Urwälder aus der Frühzeit des Menschen. Dort treiben seltsame Gestalten ihr Unwesen und verwehren jeden Zutritt. Diese töteten auch Christians Ehefrau, eine keltische Frau namens Guiwenneth, die aus dem Wald stammte. Eigentlich hatte Steven erwartet, ein fröhliches Ehepaar vorzufinden. Hat ihr Verschwinden Christian in so trübsinnige Stimmung versetzt? Steven wagt nicht danach zu fragen.

Das Grab

Bevor er mit Christian das geheime Tagebuch ihres Vaters lesen kann, verlässt Christian eines Morgens eilig das Haus, um in den nahen Ryhope Wood zu wandern. Steven bessert das Haus aus. Doch eines Tages taucht ein archaisch in Felle und Leder gekleideter Jäger mit seinem riesigen Hund bei ihm auf und bittet um Essen. Trotz (oder wegen) seiner Furcht vor dem Riesenhund entspricht Steven dieser Bitte. Mit einem Dank will der Jäger, der sich Magidion nennt, gerade gehen, als sein Hund etwas Interessantes im Garten entdeckt. Doch bevor er es ausgraben kann, wird der Hund zurückgepfiffen. Der Jäger geht mit seinem Hund zurück in den Wald. Als Steven an der interessanten Stelle gräbt, findet er die Leiche einer Frau, der ein Pfeil ins Auge gedrungen ist. Er bedeckt sie wieder: Ist dies Guiwenneth gewesen?

Das Tagebuch

Als Chris zurückkehrt, bestätigt er dies und drängt Steven, endlich Vaters Tagebuch zu lesen. Das Tagebuch berichtet ihm, dass dieser Wald, den er geheimnistuerisch erkundete, ein Ort der Magie und des Mythos sei, an dem die Zeit ihren eigenen Gesetzen folge. Durch die menschliche Imagination entstehen dort wie durch einen Resonanzboden die Sagengestalten der Menschheit wie Artus und Robin Hood als Nothelfer, aber auch viele weit ältere und schrecklichere Wesen. All diese nennt Stevens Vater „Mythagos“, d. h. Mythos-Imagos – Abbilder, wie sie den Archetypen im kollektiven Unbewussten des Menschen gemäß C. G. Jung entsprechen. Der älteste Mythago überhaupt sei der Urscumug, und diesen wollte George Huxley zeit seines Lebens finden.

Guiwenneth

Chris macht ein unerwartetes Geständnis. „Seine“ Guiwenneth sei gar nicht von ihm erschaffen worden, sondern von seinem Vater, der eine Gefährtin im Wald suchte: das Urbild der Kriegerprinzessin. Doch Christian nahm sie ihm weg und lebte mit ihr monatelang im Wald. Bis sie schwächer wurde und er den Fehler machte, sie ins Haus zu bringen. Dort starb sie, erschossen von Mythagos, mit einem Pfeil im Auge. Wenig später fand er seinen Vater halbtot am Waldrand, der kurze Zeit später ebenfalls starb. Chris gibt die Hoffnung nicht auf, Guiwenneth durch den Wald wiederzuerschaffen, und kehrt dorthin zurück.

Der Rachegeist

Steven wartet monatelang vergebens auf ihn, doch im eisigen November 1947 mehren sich die Spuren eines unheimlichen eberähnlichen Wesens in der Nachbarschaft von Stevens Zelt. Wie in einer Explosion der Gewalt brechen dann Christian und der Urscumug selbst aus dem Dickicht hervor. Chris kann seinen Bruder gerade noch vor dem riesigen Ebermenschen in Sicherheit bringen, doch dann zieht er dessen Aufmerksamkeit auf sich und verschwindet, der Verfolger ihm nach.

Steve ist wie geschockt durch das plötzliche Wiedersehen. Chris sah wie ein starker Krieger der Steinzeit aus, mit tödlichen Speeren bewaffnet. Doch der Urscumug war noch weitaus erschreckender. Das Wesen hat sein Gesicht weiß angemalt, und dieses Gesicht gehört Steves Vater! Chris hat den Schrecken des Waldes in der innersten Zone geweckt, seitdem verfolgt dieser ihn. Denn eines ist klar: Der Urscumug will ebenso wie der Vater Rache für den Raub Guiwenneths, den Chris begangen hat!

Zweiter Teil

Nachdem Steven den Wald mit dem Piloten Harry Keeton überflogen und fotografiert hat, hat er zwei merkwürdige Begegnungen. Die erste besteht in einem Schamanen der Bronzezeit, der in einem Boot dahersegelt und Steven eine Botschaft von Christian überbringt: ein Eichenblatt aus Bronze mit dem Buchstaben C darauf eingeritzt. Später sollen Steve und Keeton den Schamanen wiedersehen, der ihnen sehr in ihrem Kampf gegen Christian helfen wird.

Die zweite Begegnung bringt eine rothaarige, keltisch sprechende junge Kriegerin: Guiwenneth, die Geliebte seines Vaters und seines Bruders. Sie ist sehr wehrhaft und als Erstes setzt sie Steven die Spitze ihres Speers an die Kehle – jede Faser eine Kriegerin. Auch Harry Keeton ist von ihrer königlichen Erscheinung beeindruckt.

Steven stößt auf die verlorenen Seiten aus dem Tagebuch seines Vaters und entdeckt darin die wahre Legende Guiwenneths: Sie war schon immer umkämpft, und wer sie gewinnen wollte, musste einen Preis bezahlen. Sie hat Beschützer, die Nachtjäger oder Jaguth. Ihr Vater ist Peredur, begraben unter einem hohen weißen Stein in einem weiten Tal, dort wo das Land beginnt, wo die Geister der Menschen nicht mehr der Zeit unterworfen sind (Lavondyss), das aber von einer Flammenwand abgesperrt wird, welche die Flammenbeschwörer errichtet haben.

Der Raub Guiwenneths

Zur glücklichsten Zeit seiner Liebe zu Guin, die nur wenige Monate währt, kehrt jedoch Chris als Anführer einer Kriegerschar zurück, raubt ihm die Dame und lässt Steven und Harry Keeton, die gegen ihn gekämpft haben, zum Sterben zurück. Der Urscumug, der Chris als Rachegeist ständig auf den Fersen ist, bewahrt Steve vor dem sicheren Tod. Nachdem Steve und Harry wieder auf den Beinen sind, folgen sie Chris, um den „Außenseiter“ zu töten und Guin zurückzuholen.

VORSICHT SPOILER

Von den verborgen lebenden Waldbewohnern der Shamiga, die wie im 4. Jahrhundert v. Chr. hausen, wird Steven als der erwartete Widersacher des widernatürlich handelnden „Außenseiters“ (= Chris) willkommen geheißen: der legendäre „Blutsverwandte“ (kinsman). Auch in den Geschichten, die die „Leben-Sprecherin“ eines solchen Stammes erzählt, spielen die zwei Blutsverwandten eine festgelegte Rolle: als das lebensbejahende und das verneinende Prinzip.

Am Peredur-Stein kann Steve Chris schließlich stellen. Doch der schwer von Guiwenneth verwundete Chris, dem Guiwenneth inzwischen wieder entflohen ist, gelingt es, bei Steven trotz seiner verbrecherischen Handlungen Verständnis zu erwecken. Gehetzt vom Urscumug, sehnt sich Chris nach Frieden im gesegneten Land Lavondyss jenseits der „Feuermauer“. Doch als Steven ihm zum Abschied ein Glücksamulett zuwirft, verursacht er damit Christians Tod in den Flammen.

Schließlich trifft auch die geliebte Guiwenneth sehr geschwächt am Perredurstein ein, doch sie wurde von Christian tödlich verwundet. In diesem Augenblick von Glück und Tragik erscheint wieder der Urscumug, nimmt Guin, die auch dieser einmal liebte, in seine Arme und geht mit ihr durch die Flammen ins dahinter liegende „Reich der Zeitlosigkeit“ – nicht ohne Steven mitfühlend angedeutet zu haben, dass Guin eines Tages zu Steven zurückkehren könne.

SPOILER ENDE

Mein Eindruck

Obwohl Holdstock versucht, die Entstehung von Mythengestalten mit Jungs Theorie von den Archetypen halbwegs rational zu begründen, herrscht doch eindeutig das Irrationale, nicht empirisch Erklärbare vor, wie es in der Charakterisierung des Waldes auftaucht – ein Wald wie Tolkiens „Düsterwald“ und der „Alte Wald“.

Selber Mythago!

Allerdings tritt bei Holdstock der Urwald in bedeutsame Interaktion mit den Menschen, und das führt zu zwei verschiedenen Deutungsmöglichkeiten der Geschichte: Möglichkeit eins: Der Wald schafft Mythengestalten nach den Bedürfnissen der Menschen. Auch Steven könnte für die Waldbewohner eine solche Retter- und Erlösergestalt sein, als Erlöser von der Geißel des „Außenseiters“. Er beziehungsweise seine Rolle passt in ihre Geschichten – ein Mythago des Mythagoreiches, wie Keeton es ausdrückt.

Welche Seite der Realität ist nun Einbildung, die erfundene Story, und welche wirklich? Doch beide bedingen einander, erfahren das jeweils andere als subjektive Einbildung. Das zeigen auch der Prolog und die Coda, sagenähnliche Legenden, in denen der gottähnliche Jäger Mogoch beispielsweise auf den Jäger, möglicherweise Steven, trifft, der auf die Rückkehr seiner Liebsten wartet. Die Geschichten enden niemals.

Der Leben-Sprecher Mensch

Die zweite Deutungsmöglichkeit setzt voraus, dass man die Mythagos durchweg als imaginäre Produkte der Phantasie ansieht, ohne jedes Eigenleben. Demgemäß hätte sich Steven, indem er sich als Antagonist zu Christian in den Wald begab, mit dem Reich der Mythagos und ihrer Legenden von einem kommenden Retter seine eigene Erklärung für sein So- und Da-sein in der Welt geschaffen. Für seinen Verstehensprozess hatte er sich kreativ mit der Welt auseinanderzusetzen und bevölkerte sie mit Mythen und Legenden, die sie erklärten und ihm seinen Platz darin zuwiesen. Dies ist die klassische, ewige Funktion des Mythos (im Sinne von verbaler Ikonographie) für den Menschen, der sich dem Universum, dem Geheimnis von Leben und Tod, gegenübersieht und verstehen will.

Frankenstein

Unter den zahlreichen weiteren Aspekten, die in diese wundervolle Geschichte hineingewoben sind, ist mir beim zweiten Lesen auch die Figur des Dr. Frankenstein eingefallen. Mehrmals erwähnt Steven, der Ich-Erzähler, dass sein Vater George Huxley zusammen mit einem Forscher namens Edward Wynne-Jones (vgl. die Erzählung „The Bone Forest“) schon 1935 spezielle Geräte erfand, um die Mythago-erzeugende Fähigkeit des Gehirns anzuregen. Ja, Huxley ging sogar so weit, dieses Gerät an seinem eigenen Sohn Steven auszuprobieren! Er hat das aber gleich wieder bereut und bleibenlassen.

Es ist höchst ironisch zu verstehen, dass der Urscumug wie Frankensteins Ungeheuer aussieht. Der Urscumug ist sowohl ein Rachegeist, ein Hüter der Wälder als auch das Urbild des ersten Helden der Menschheitsgeschichte – eine Mythago-Gestalt, die George Huxley zeit seines Lebens suchte und zu der er nun selbst geworden ist.

Steve, sein Sohn, hat sein eigenes Frankenstein-Erlebnis, indem er Guiwenneth aus seiner Sehnsucht nach einer Gefährtin, aus zusammengelesenen Sagen und Legenden (Artus‘ Frau Guinevere) sowie aus den Tagebuchnotizen seines Vaters erschafft. Wie soll er sich gegenüber seiner Kreatur verhalten? Er sieht sich in einem moralischen Dilemma, ist er doch versucht, sie als seinen Besitz, als Objekt zu betrachten und ihr keine eigenen Rechte zuzugestehen.

Zum Glück kommt es anders. Sie besteht auf Eigenständigkeit, kann sich selbst wehren (Speer!) wird von einer Gruppe Jägern beschützt (Jaguth) und verfügt über ihre eigene, sehr umfangreiche Legende. Sie ist ein Mythago mit erstaunlicher Tiefe. Steves Schicksal ist mit seiner Schöpfung innig verbunden, denn er liebt sie selbstlos und ergeben. Dass es seinem Bruder und seinem Vater ebenso geht, führt jedoch ebenso zu einer Tragödie wie auch zu Steves Heldentat, als er den „Außenseiter“ tötet und so das Mythagoreich von dessen Fluch erlöst.

Sprechen in Zungen

Der Schamane im Boot heißt Sorthalan. Steve und Harry begegnen ihm auf ihrer Verfolgung Christians wieder, als sie den großen Strom überqueren wollen. Doch Sorthalan verfügt nicht über die Magie der Shamiga-Leben-Sprecherin Kushar, die Steve mühelos verstehen konnte. Sondern Sorthalan muss sich einen Trick einfallen lassen, um Kommunikation zu ermöglichen. Die folgende Szene ist so unheimlich, dass sie mir im Gedächtnis geblieben ist. Sie wirft ein bezeichnendes Licht auf Mythagos und das Verhältnis der Menschen zu ihnen.

Sorthalan beschwört aus Keetons Erinnerungen das Mythago eines Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg: Spud Frampton. Erschreckenderweise redet Spud zwar ganz anders als Harry, doch er sieht genauso aus! Indem Sorthalan seine Gedanken diesem Mythago eingibt, kann er mit Steve und Harry Englisch sprechen und deren Antworten verstehen. Erst nach einer Weile merkt Spud, dass er sich in einer völlig falschen Art von Existenz befindet … Er wird wieder in das Reich der Mythagos zurücksinken.

Road Trip

Die ganze zweite Hälfte des Romans ist ein „Road Trip“, eine Suche, und auf diesem Weg begegnen Steve und Harry zahlreichen sonderbaren Wesen, aber auch viele freundlichen Stämmen (Shamiga etc.) und Dörfern. Vor dem Ende dieser Reise trennt sich Harry Keeton von Steve, um mit Magidion, dem Jäger, weiterzuziehen, der zu Guiwenneths Beschützern gehörte, doch nun einer anderen Dienstherrin, einer Schamanin, folgen muss. Harry Keeton, der selbst einmal in Nordfrankreich in einen Zauberwald geraten war und dort sein entstellendes Brandmal empfing, will ins Land jenseits der Flammenmauer, um in Lavondyss wieder geheilt und zu einem vollständigen Menschen zu werden.

Die deutsche Übersetzung

Die Übersetzung durch Karin Koch vermag die poetische Sprache des Originals einigermaßen einzufangen und schon bald findet sich der Leser gefesselt von dieser ungewöhnlichen Geschichte. Aber es gibt auch etliche Druckfehler im Text, wie in fast jedem Taschenbuch.

Unterm Strich

Robert Holdstock ist, wie diese geraffte Darstellung und Erörterung vielleicht verrät, ein Meister in der einfühlsamen Behandlung tiefer menschlicher Befindlichkeiten: die Jagd nach der entführten Geliebten, nach dem Bruder, der sie raubte, aber auch nach dem Vater, der seine Söhne im Stich ließ, indem er für immer im Mythagowald verschwand. Dies sind jedoch ewige Konstanten: die Suche nach Liebe, das Verfolgen der Wahrheit. Häufig münden Holdstocks Geschichten in tragische Situationen, in denen der Held sich in der Bewertung von wahr und unwahr, gut und falsch, Täuschung und Lüge bewähren muss.

Aber es ist eine Geschichte über die Bedeutung und Funktion von Geschichten an sich. Wie Mythen und Legenden das Gedächtnis eines Volkes bewahren und es sich dadurch selbst eine Bedeutung zumisst. Diesen Vorgang haben die Nazis in Deutschland propagandistisch missbraucht und pervertiert, aber die Engländer haben damit keinerlei Probleme. Wie wichtig solche Mythen sind, zeigt das Beispiel von Tolkiens [„Herr der Ringe“, 1330 eine Verarbeitung von Kriegserlebnissen und die Hervorzauberung einer alternativen Geschichtsschreibung – das Nationalepos der Briten sozusagen. Bemerkenswert, dass es nicht auch in England zum wichtigsten Buch des 20. Jahrhunderts gewählt wurde.

„Mythago Wood“ ist spannend, aber nicht actionreich. Wenn es mal zu Action kommt, so ist sie hart, heftig und meist blutig, aber schnell wieder vorüber. Dafür kommt aber auch die Liebe zu ihrem Recht, und es ist nicht so sehr Sex, was erzählt wird, als vielmehr die erotische Anziehungskraft, die eine so attraktive Frau wie die Kriegerprinzessin Guiwenneth auf einen einsamen Jäger wie Steven ausübt. Aus dieser Beziehung resultiert der ganze Rest des Romans – und ein weiterer Mythos, den die Völker des Mythagowaldes vorhergesehen haben. Steven ist der Mythago-Schöpfer seiner Traum-Frau Guiwenneth, aber auch der Mythago des Waldes selbst. Nicht umsonst ist Oak Lodge, sein Haus, vom Wald eingenommen und durchdrungen worden.

Hinweise

Wer tiefer in das Gewebe dieser wunderbaren Erzählung von der Reise in den Mythenwald eindringen will, der lese Ranke-Graves‘ grundlegende Untersuchung des poetischen Mythos, „Die Weiße Göttin“ (Rowohlt).

Mit „Mythenwald“ hat Holdstock selbst einen kleinen Mythos geschaffen, zu dem er immer wieder zurückgekehrt ist.“Lavondyss“ („Tallis im Mythenwald“) lässt sich als die Erweiterung von „Mythago Wood“ in Richtung auf das Land jenseits der Flammenmauer verstehen. In „The Hollowing“ setzt der Autor den Fortbestand des Mythagowaldes aufs Spiel, und in „Gate of Ivory“ erzählt Holdstock Christian Huxleys Geschichte und davon, wie seine Mutter starb, einen Aspekt, den Steven nur am Rande erwähnt. Dabei wird Christian zu einer Art moderner Orpheus- und Odysseus-Gestalt.

Taschenbuch: 336 Seiten
Originaltitel: Mythago Wood, 1984
Aus dem Englischen übertragen von Karin Koch

ISBN-13: 978-3404130801
www.luebbe.de