Tom Holland – Der Schläfer in der Wüste

Howard Carter öffnet 1922 das Grab des Pharaos Tutenchamun, der tatsächlich ein Vampir mit außerirdischen Ahnen ist und nunmehr befreit sein Unwesen in der Gegenwart treiben kann … – Gelungene Mischung aus Fakten und Fiktion, die dem berüchtigten „Fluch der Pharaonen“ eine ungewöhnliche ‚Erklärung‘ gibt: spannend, gut umgesetzt und stimmungsvoll in die gewählte Epoche eingepasst.

Das geschieht:

im November des Jahres 1922 glückt dem britischen Archäologen Howard Carter im ägyptischen Tal der Könige eine Jahrhundert-Entdeckung: Er findet das Grab des Pharaos Tutenchamun, und es birst vor Schätzen einer seit Äonen versunkenen Kultur. Doch in die Freude mischt sich Sorge. Carter hat sich lange mit der Geschichte des Tutenchamun und seiner seltsamen Familie beschäftigt. Viele Fragen blieben offen. Wieso zeigen Bildnisse Tutenchamuns Vater Echnaton als grotesk verformte Kreatur mit Elefantenmensch-Schädel, Trommelwanst und spindeldürren Gliedmaßen?

In die Geschichte ging Echnaton als „Ketzerkönig“ ein, der mit der Religion seiner Vorfahren brach und einen neuen Sonnenkult ins Leben rief. Dazu könnte er gute Gründe gehabt haben, wie Carter inzwischen weiß. Vor Jahren spielte man ihm ein uraltes Manuskript zu. Harun al-Vachel, Berater und Kriegsherr des wahnsinnigen Kalifen Al-Hakim, der mehr als zweieinhalb Jahrtausende nach den Pharaonen über Ägypten herrschte, berichtete darin von seinem Feldzug gegen die von Geistern und Ghulen bevölkerte Stadt Lilatt-eh und seine verhängnisvolle Ehe mit der Sklavin Leilat, hinter der sich eine vampirische, unsterbliche Dämonin verbarg. Sie kam vor Urzeiten als Göttin Isis mit den ‚Göttern‘ Osiris und Seth von den Sternen auf diese Erde.

Die drei außerirdischen, mit übernatürlichen Kräften ausgestatteten Wesen vermischten sich mit den Menschen und begründeten die altägyptische Hochkultur. Freilich zahlten diese Nachfahren der Götter einen hohen Preis: Weil sich Mensch und Alien nur bedingt kreuzen lassen, verwandelten sie sich in Zerrbilder ihrer Ahnen und schließlich in lebendige Leichname, die nach dem Blut ihrer Untertanen gierten und daher in schwer gesicherten Pharaonen-‚Gräbern‘ eingesperrt werden mussten, wo sie zu Staub zerfielen.

Doch den Pharao-Vampir Tutenchamun haben die Hohen Priester zu sorgsam verborgen. Er wurde nie gefunden und ‚schlief‘ – bis Howard Carter, der zu spät über ‚abergläubische Legenden‘ nachdenkt, sich daran machte, die mehr als 3000 hungrigen Jahren ungeöffnete Grabkammer aufzubrechen …

Vampir-Alien statt profaner Schimmel

„Der Tod wird auf raschen Schwingen zu jenem kommen, der das Grab des Pharaos anrührt.“ So lautet die Inschrift auf einem Siegel, das Howard Carter angeblich 1922 in der Gruft des Tutenchamun fand. Er und seine Gefährten ignorierten diese Warnung, und in der Folgezeit starben die meisten einen schrecklichen Tod. Eine tolle Geschichte, die allerdings einen kapitalen Schönheitsfehler aufweist: Sie ist von A bis Z erfunden. Nichtsdestotrotz wird sie auch heute noch fleißig erzählt, denn sie klingt gar zu schön, weshalb sich die meisten Zuhörer gar nicht die Frage stellen, was denn von einem Fluch zu halten ist, der ausgerechnet den Hauptschuldigen verschont: Carter lebte bei bester Gesundheit bis 1939. Der ‚Fluch‘ bestand aus einer Kette willkürlich miteinander in Relation gebrachter Zufälle sowie aus alten aber weiterhin virulenten Schimmelsporen, die in besagter Grabkammer lauerten.

Tom Holland, erzählerisches Multitalent aus London, nutzt den imaginären Fluch auf die bestmögliche Weise: Er spinnt ein fabelhaftes Garn daraus, in das er kundig eine ganze Reihe weiterer Rätsel einknüpft, die sich quasi automatisch ergeben, wenn man eine Kultur zu enträtseln versucht, die schon vor dreieinhalb Jahrtausenden untergegangen ist.

Die simple Wahrheit hinter dem Mysterium ist in einem Roman glücklicherweise irrelevant. Daher ist es nicht nur statthaft, sondern auch klug ausgedacht, Echnatons groteske Bildnisse nicht als Produkte einer bizarren und recht kurzlebigen Kunstmode zu betrachten, sondern sie für bare Münze zu nehmen und ihre Ähnlichkeit mit jenen ungelenken Phantom-Zeichnungen zu nutzen, die nach den wirrköpfigen Aussagen ebensolcher ‚Zeugen‘ außerirdische Besucher bei ihrem unguten Tun auf der Erde zeigen.

Grusel-Historien-Drama auf drei Zeitebenen

Wie es sich für eine zünftige X-Akte ziemt, arbeitet Holland vor allem mit Andeutungen. Interessant ist dabei seine Entscheidung, den beiden zentralen Zeitebenen – Ägypten um 1350 v. Chr. bzw. 1922 – eine dritte hinzuzufügen. Ägypten wurde um 1000 n. Chr. von muslimischen Arabern regiert, die selbst über einen überaus reichen Legendenschatz verfügten, aus dem sich Holland großzügig bedient; vor allem sind da die berühmten „Geschichten aus 1001 Nacht“ zu nennen.

Interessant ist auch die für einen Unterhaltungsroman recht komplexe Struktur. Holland erzählt seine Geschichte quasi rückwärts. Er beginnt im frühen 20. Jahrhundert und lässt dann immer ältere Zeugen sprechen. Das funktioniert ganz ausgezeichnet, weil Holland gleichzeitig den sprachlichen Duktus der jeweiligen Epoche imitiert. (An dieser Stelle ein Lob an den Übersetzer, der dies ins Deutsche retten konnte.) Das Treiben der gestrandeten Außerirdischen und ihrer Nachfahren lernen wir dadurch aus zweiter Hand, d. h. gefiltert durch den Wissensstand, die Irrtümer und die Vorurteile früherer Jahrhunderte kennen.

Geschickt entzieht sich Holland auf diese Weise der Verpflichtung, das Grauen beim Namen zu nennen und es dadurch zu entzaubern. Anders ausgedrückt: Das Wort „Außerirdische“ fällt in „Der Schläfer in der Wüste“ an keiner Stelle. Der Verfasser liefert nur gewisse Assoziationen, die sich seine Leser selbst zusammensetzen müssen.

Blick aus dem Augenwinkel

Bemerkenswert ist das hochspannende und elegante Finale, das Holland durch einen Kunstgriff möglich macht. Da haben wir zum einen die Enthüllungen, die uns zuteilwerden, nachdem die Geschichte endlich bis in die Echnaton-Ära vor- bzw. zurückgestoßen ist. Nur mit diesem Vorwissen gewinnt das nun wieder im 20. Jahrhundert spielende letzte Kapitel seine Dynamik.

Wer oder was nun als berüchtigter Pharonen-Fluch dem Grab des Tutenchamum entschlüpft, wird von Holland ebenfalls mit keiner Silbe verraten. Alles geschieht praktisch außerhalb unseres Sichtfeldes. Aber wenn wir die der Graböffnung vorangegangenen 400 Seiten aufgepasst haben, wissen wir doch, was da im Verborgenen geschieht – und gründlich gelesen haben wir, dafür hat Tom Holland gesorgt!

Autor

Thomas Holland wurde am 5. Januar 1968 im englischen Wiltshire, einem Ort nahe Oxford, geboren. In Cambridge studierte er Englisch und Latein. Nach seinem Abschluss arbeitete er für BBC Radio und für das Fernsehen; u. a. adaptierte er klassische Autoren wie Herodot, Homer oder Vergil so, dass sie auch für nicht studierte Hörer-Hirne verständlicher und damit interessant wurden. Wiederum für die BBC aber nun für das TV-Programm schrieb Holland eine Dokumentationsserie, in der er selbst die Bedeutung prähistorischer Fossilien in der menschlichen Mythologie thematisierte. Den Zorn fundamentalistischer Muslime zog er sich 2012 mit einer kritischen Islam-Dokumentation zu, der sich in den folgenden Jahren noch steigerte, weil Holland sich immer wieder deutlich und öffentlich gegen einen radikalisierten Islam aussprach.

1995 debütierte Holland mit zwei Romanen. „Attis“ war ein moderner Thriller, doch prägender wurde zunächst „The Vampyre“ (auch „Lord of the Dead“, dt. „Der Vampyr“): Auf dem Fundament seines historischen Wissens mischte Holland reale Geschichte und Fiktion; hier bereicherte er die Biografie des Dichters Lord Byron um dessen Nachleben als Vampir. Nach dem Millennium schrieb Holland verstärkt Sachbücher, die von Kritik und Leserschaft ebenfalls gut angenommen wurden. Für „Rubicon“, sein Buch über die letzten Jahre der römischen Republik, wurde Holland 2004 mit einem Hessell-Tiltman-Preis für das beste historische Sachbuch des Jahres ausgezeichnet.

Mit seiner Familie lebt Tom Holland in London. Über seine Arbeit informiert er auf dieser Website.

Taschenbuch: 446 Seiten
Originaltitel: The Sleeper in the Sands (London : Little, Brown & Company 1998)
Übersetzung: Wolfdietrich Müller
http://www.ullsteinbuchverlage.de

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