Barry Hughart – Die Brücke der Vögel (Meister Li 1)

„Ich heiße Lu, und mein Vorname ist Yu, aber man darf mich nicht mit dem bedeutenden Verfasser von Das Buch vom Tee verwechseln …“
Mit diesem Satz stellt sich ein junger Mann vor, der von allen nur Nummer Zehn der Ochse genannt wird, weil er der zehnte Sohn seines Vaters und sehr stark ist. Er ist der Erzähler in „Die Brücke der Vögel“ und, das sei vorab verraten, auch in allen anderen Meister-Li-Romanen von Barry Hughart. Ein großer, gutmütiger und freundlicher Kerl, dessen Stärke nicht nur in seinen Muskeln liegt.

Eines Tages macht er sich überstürzt auf den Weg nach Peking, um einen weisen Meister in sein Dorf zu holen, denn sämtliche Kinder zwischen acht und dreizehn Jahren sind urplötzlich ins Koma gefallen! Der Meister Li Kao, den er schließlich mitbringt, ist äußerst unansehnlich: uralt, schmutzig und mit einer nicht zu verachtenden Alkoholfahne versehen, außerdem hat er einen kleinen Charakterfehler. Aber er ist äußerst fähig. Binnen kürzester Zeit hat er die Ursache für das Koma gefunden. Mit dem Heilmittel ist es nicht ganz so einfach, denn gemäß der Überlieferung hilft hier nur ein einziges Mittel: die Große Wurzel. Und davon gibt es nur ein einziges Exemplar auf der Welt.

Li Kao und Nummer Zehn der Ochse machen sich auf den Weg, diese Wurzel zu suchen, und schlittern unversehens in eine Geschichte von ungeahnten Ausmaßen, für die sie detektivischen Spürsinn erster Güte und außerordentlichen Einfallsreichtum benötigen, um mit heiler Haut wieder herauszukommen …

„Die Brücke der Vögel“ ist eine Mischung aus Fantasy und Detektivgeschichte.
Eigentlich wollen Li und Ochse ja einfach nur diese besondere Ginseng-Wurzel finden, um die Kinder des Dorfes zu heilen. Aber sämtliche Leute, die eine besondere Ginseng-Wurzel besitzen, sind äußerst ungemütliche Zeitgenossen und neigen dazu, ihr Missfallen durch das Köpfen der missliebigen Person auszudrücken. Dazu kommt, dass die beiden jedes Mal nur Teile der Großen Wurzel ergattern. Um an das Herz der mächtigen Pflanze zu gelangen, sind sie gezwungen, das damit verbundene Rätsel komplett zu lösen.
Das Rätsel selbst, der Aufbau und die allmähliche Aufdeckung der Zusammenhänge zwischen den einzelnen Komponenten sind gut gemacht.

Die Informationen sind so in Häppchen unterteilt, dass der Leser zunächst genauso wenig damit anfangen kann wie Li und Ochse. Im Laufe der Geschichte reimt sich dann einiges zusammen, dennoch braucht der Leser letztlich die Hilfe von Li, um der endgültigen Lösung auf die Spur zu kommen.

Richtig spannend wird es erst gegen Ende, was aber überhaupt nichts ausmacht. Hughart hat seine Geschichte mit einer Menge skurriler Gestalten bevölkert, allen voran Meister Li. Dieser Mann ist ohne Wein überhaupt nicht denkbar, hübsche Frauen und Mädchen wecken regelmäßig in ihm den Wunsch „wenigstens wieder neunzig zu sein“, und seine Geldbeschaffungsmethoden genau wie seine Fluchtideen sind in ihrer Verrücktheit geradezu genial. Dazu kommt ein Betrügerpaar, das erstaunlicherweise immer im passendsten Moment auftaucht, um für Ablenkung und besondere Hilfsmittel zu sorgen, ein Wirtsehepaar, das die verrufenste Kneipe in ganz China führt, ein Gelehrter, der von sämtlichen Frauen seiner Familie unterdrückt wird, und ein Geizhals, der bei jedem vorbeifahrenden Karren mit Steinrädern auf die Straße rennt, um kostenlos die Messer seines Haushaltes zu schärfen!

Gewürzt mit einer tüchtigen Prise trockenen Humors, mit der sowohl Li als auch Ochse das Geschehen beurteilen und kommentieren, ergibt sich eine äußerst unterhaltsame Lektüre.
Stellenweise ist sie allerdings auch überspitzt und drastisch und erinnert an „Kill Bill“, zum Beispiel bei der Beerdigung, oder als Ochse die Reste der von ihrem Schwiegersohn, dem unterdrückten Gelehrten, zerhackten Ahne im Hundezwinger verfüttert.

Zum besonderen Flair des Buches trägt auch der Ort der Handlung bei. China ist ein recht exotischer Hintergrund für Fantasy. Und obwohl das China, wie Hughart es beschreibt, nie existiert hat, finden sich doch deutliche Spuren chinesischer Kultur, sowohl in den literarischen oder philosophischen Zitaten, die Meister Li gelegentlich zum Besten gibt, als auch in der Beschreibung der Götterwelt, den Mythen und Märchen, dem ländlichen Aberglauben und der Tiersymbolik.

Anderes wiederum ist reine Fantasy, wobei die Übergänge meist fließend und für Leute mit geringen Kenntnissen der chinesischen Kultur – wie mich – nicht mehr unbedingt auszumachen sind. Die Verknüpfung ist jedoch frei von Brüchen und ergibt zusammen mit den überdrehten Charakteren, dem Wortwitz und der gut aufgebauten Rätselraterei eine schillernde, bunte und höchst amüsante Geschichte, die einfach vollkommen anders ist als alle Arten von Fantasy, die sonst so unterwegs sind. Eine wirklich erfrischende Abwechslung.

Erstaunlich, dass man von dem Autor so wenig hört. Außer den drei Bänden um Meister Li und seinen jungen Freund, die bereits vor zwanzig Jahren das erste Mal im Fischer-Verlag erschienen und inzwischen von Piper neu aufgelegt worden sind, hat Barry Hughart keine weiteren Bücher veröffentlicht. Dabei wurde der erste Band „Die Brücke der Vögel“ mit dem World Fantasy Award ausgezeichnet. Wirklich schade.

Seine Kenntnisse über die chinesische Kultur schöpfte der gebürtige Amerikaner aus Büchern über Religion und Kultur, Land und Leute, als er im Rahmen seiner Militärzeit bei der US Airforce in Fernost stationiert war, das Festland aber nicht betreten durfte. Die Faszination für dieses Land war so stark, dass er schließlich, zwanzig Jahre später, die Meister-Li-Romane verfasste.
Heute lebt er in Tucson, Arizona.

Taschenbuch: 301 Seiten
www.barryhughart.org
www.piper.de