Ian Watson – Der programmierte Wal

Das Menetekel der Wale

Mitte des 21. Jahrhunderts scheinen die Sowjets eine Methode entwickelt zu haben, Bewusstseinsinhalte von einer Person auf eine andere zu übertragen. An der japanischen Küste wird ein russischer Junge aufgefischt, der politisches Asyl beantragt und nachweisbar Bewusstseinsinhalte eines Jahres zuvor verunglückten Kosmonauten im Gehirn gespeichert hat.

Es ist den Russen offenbar auch gelungen, einen Pottwal mit ins Gehirn implantierten Computersonden zu programmieren, der im Pazifik kreuzt und mit menschlichen Gehirnen in Kontakt steht. Jonah, damit kein Wal mehr, aber noch längst kein Mensch, aber ein denkendes Wesen, leidet. Und bald beginnen die Wale herdenweise Selbstmord zu begehen, nachdem sie über ihren Artgenossen das menschliche Bewusstsein kennengelernt haben … (abgewandelte Verlagsinfo)

Der Autor

Ian Watson gehört zu den literarisch versiertesten und intelligentesten britischen Autoren. In den letzten Jahren ist er durch die Science-Fiction-Trilogie um das „Buch Mana“ und das „Buch vom Fluss“ sowie diverse WARHAMMER-Bände bei uns bekannt geworden.

Der Zeitreiseroman „Orakel“ erschien bei Bastei-Lübbe. „Das Babel-Syndrom“ war sein erster veröffentlichter Roman (1973) und erregte sofort Aufsehen in der Fachwelt. Er wurde mit dem französischen Apollo Award ausgezeichnet.

Handlung

Der Pottwal Jonah ist von russischen Wissenschaftlern mit einem menschlichen Bewusstseinsmuster geprägt worden. Es ist das Bewusstsein des krebskranken Pavel Tschirikow, der auf der Insel Sachalin nach dem Verlust seines Bewusstseinsinhalts dahinvegetiert, traurig beäugt von seiner Geliebten, der Wissenschaftlerin Tanya Tarskij. Diese wiederum wird sorgenvoll von ihrem Professor Kapelka beobachtet, dem Leiter dieses riskanten Projekts.

Der Denkstern

Jonahs Aufgabe ist es, nach U-Booten der Amerikaner zu suchen. Regelmäßig taucht er an die Oberfläche, um mit Klicklauten Bericht zu erstatten. Deren Wal-Code wird von Tanya entschlüsselt und in Menschensprache übersetzt. Eines Tages hat sie Aufregendes zu melden: Jonah hat sich mit anderen Pottwalen zu einem sogenannten „Denkstern“ zusammengefunden, um etwas zu beraten. Ist dies eine Walvariante eines Computers?

Bekannt ist zudem, dass die Pottwale nach einem solchen Denkstern einen Befehl oder eine Bitte an ihre Vettern, die Bartenwale, richten. Diese sind in der Lage, ein komplexes Signal akustisch über sämtliche Ozeane hinweg zu senden. Was die Russen nicht wissen: Die Empfänger dieses Signals sind Kleinwale, die spielerisch damit alles Mögliche anstellen.

Zur Zeit ist ein Funktionär aus Moskau zu Besuch. Orlow ist einerseits scharf auf die schmächtige Tanya, andererseits interessiert ihn diese „Denkmaschine“ der Pottwale. Ob Jonah wohl in der Lage wäre, die Suchergebnisse dieses amerikanischen Astronomen Paul Hammond zu überprüfen, die derzeit in aller Welt für solche Furore sorgen, fragt er Kapelka. Kapelka, in Sorge um sein lukratives Projekt, sagt vorsichtshalber ja. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf.

In Mexiko

Denn Paul Hammond hat mit seiner Riesenschüssel im mexikanischen Mezapico nicht bloß herausgefunden, dass unsere Milchstraße in ca. 70.000 Jahren mit einer Schwestergalaxie – eben der nach ihm benannten Hammond-Galaxis – kollidieren wird. Diese Entdeckung hat ihm schon den Nobelpreis und etliche Schlagzeilen eingebracht. Doch nun posaunt er einen weit größeren Hammer hinaus: Gott habe diese Galaxien zwar erschaffen, sich dann aber aus dem Staub gemacht! Unser Universum sei nur ein Schatten des wahren Universums. Das Ergebnis ist die Abschaffung der Religion; an ihre Stelle tritt nihilistischer Mystizismus.

Die Folgen der Pressekonferenz, die Hammond und seine Mitarbeiter geben, bestehen a) in einer Welle von Selbstmorden in den ganzen USA, b) in einem gefährlichen Auflauf von Fanatikern wie „Satans Sklaven“ vor den Toren der Radioteleskop-Station in Mezapico, der in ein Massaker mündet, und c) in einer Rebellion von Hammonds eigener Frau Ruth, die ein Kind von seinem Partner Richard Kimble hat. Sie vögelt nach Herzenslust mit einem der Reporter. „Wie eine Tempelprostituierte“, kommentiert ein anderer Journalist. Sie wirft beide raus.

In Japan

Doch der amerikanische Geheimdienst ist auch nicht untätig. Die japanischen Verbündeten haben ein weiteres Produkt der Sachalin-Forschungseinrichtung Prof. Kapelkas aufgefischt: Der sechsjährige Junge Georgi Nilin zeigt ein auffälliges Interesse an Delfinen und vor allem Pottwalen. Kann er sich mit ihnen verständigen, fragt sich Agent Gerry Mercer. Mr Kato, der Direktor des forschenden Walmuseums auf einer japanischen Insel, begeht Selbstmord, als sich all seine Verdienste, Erkenntnisse und Illusionen über Wale in Luft auflösen.

Die Krise

Mercer beschließt, sich an Hammonds Mitarbeiter Richard Kimble zu wenden, um den Code aus den Klicklauten der Pottwale zu knacken. Kimble hat darüber veröffentlicht. Zusammen fliegen sie zu Kapelka nach Sachalin. Unterdessen lässt Orlow den Pottwal Jonah umprogrammieren. Jonahs Verhalten, schon bislang von seinen Artgenossen als anstößig wahrgenommen – er wollte doch tatsächlich mit einer schwangeren Walkuh anbandeln -, wird zunehmend fremdartiger.

Die Krise kommt, als Mercer Orlow dazu überreden kann, Jonah die Aufgabe zu geben, mit dem Gedankenstern der Wale die These Hammonds zu überprüfen, dass es keinen Gott gebe. Die Pottwale reagieren bestürzt: mit einem weltweiten Befehl an alle Zahnwale. In Japan, Sachalin, Kalifornien, Mexiko – überall werfen sich die Zahnwale und Delfine auf die scharfen Küstenfelsen, um zu sterben …

Mein Eindruck

Der Autor ist ein Meister darin, verschiedene Elemente und Motive in eine verzweigte Handlung einzuflechten, die einzelnen Stränge dann aber miteinander zu verschlingen, um so eine Krise herbeizuführen. Auf diese Weise scheint das Geschehen weltweit stattfinden, obwohl es für den einzelnen Beobachter, etwa Tanya oder Richard, immer nur Einzelaspekte zeigt.

Erst wenn die Menschen mit ihren Ideen, Vorstellungen und Schicksalen zusammenkommen, ergeben sich positive Aspekte: Erkenntnisse und Liebschaften. So verlieben sich etwa Tanya und Richard auf der Stelle ineinander, denn beide haben etwas verloren, das sie wiedergewinnen wollen – im jeweils anderen.

Diese beiden Kennzeichen von Watsons frühen Romanen machen die Geschichten einerseits attraktiv von einem menschlichen Standpunkt aus. Andererseits sind die Ideen, die er aufgreift, keineswegs einfach zu begreifen. Einen Wal zu verstehen, der auf einmal menschliche Bestrebungen zeigt, das geht ja noch an, und dementsprechend faszinierend ist sein Verhalten: Es ist das eines Alien.

Doch schon der Vorgang, das Bewusstseinsmodell eines Menschen auf ein Walgehirn zu übertragen, wird von Prof. Kapelka, Orlow und Mercer so detailliert und fundiert erörtert, dass ein Leser ohne die Kenntnisse eines Gehirn- und Sprachforschers möglicherweise nur noch „Bahnhof“ versteht. So sieht eben anspruchsvolle Science-Fiction aus Großbritannien aus. Sie wird heutzutage kaum noch in dieser Form geschrieben.

Zunächst irritiert auch das Auftreten des Jungen Nilin, der so großes Interesse an Pottwalen zeigt. Was hat es mit ihm auf sich? Ist er eine falsche Fährte des Autors? Nein, er ist ein Köder der Russen, um das Interesse der amerikanischen Geheimagenten zu wecken und diese nach Sachalin zu locken. Raffiniert eingefädelt, aber der Leser fragt sich nach dem Sinn dieser Figur. Es gibt aber einen symbolischen zweck des Jungen: Er ist die menschenförmige Variante des Pottwals Jonah. Was dem Jungen widerfährt, das geschieht auch analog dazu mit Jonah: der Missbrauch, das fremdartige Bewusstsein, die geistige Labilität.

Ganz wunderbar ist hingegen die Schilderung des „Denksterns“ der Pottwale. Diese Herrscher der Meere, so erfahren wir, haben seit hunderten von Jahrtausenden, über alle Eiszeiten hinweg, ihre eigene Evolution mithilfe dieser Zusammenkünfte gelenkt. Kein Wunder also, dass sie so klug sind. Aber der Autor setzt noch einen obendrauf: Die Pottwale geben den anderen Walarten vor, was zu tun ist. Ein Befehl, und die Bartenwalen posaunen ihn rund um den Globus hinaus. Hier hat der Mensch eine ebenbürtige Intelligenz vor sich – und ignoriert, missbraucht und tötet sie, um sie zu verspeisen – deshalb auch das Japan-Szenario.

Als wäre das alles nicht schon riskant genug, ist nur noch die Lunte am Pulverfass nötig: Hammonds Verkündung, dass kein Gott existiere. Der Astronom ist ja nicht irgendwer, sondern ein Nobelpreisträger. Aber er ist auch ein Egozentriker, dass andere Menschen missbraucht, wie es ihm gefällt – und wie es die russischen Wissenschaftler mit den Walen und Kindern machen. Als Hammonds Idee auf den Kosmos der Wale trifft, die ja ihrer Ansicht nach die Welt lenken, kann es nur eine Antwort geben: „Es gibt einen Gott, und der bringt alle Zahnwale dazu, sich umzubringen!“ Dieser Gott ist der Wal und seine Art.

Die Übersetzung

Walter Brumm hat hier schwierigen Jargon zu bewältigen gehabt, und meistens machte er einen guten Job. Aber es sind ihm auch eine Menge Fehler unterlaufen.

S. 30: „Niedergekämpft und getötet, lassen sich aus [dem Leib des Zehnarms/Riesenkalmars] köstliche Bissen herausreißen. Seine Arme, ihrer Saugfähigkeit beraubt, gleiten glatt, schwer und angenehm durch die Kehle, den Bauch zu füllen.“ Dieser Absatz ist in Stil und Satzstellung eine direkte Übertragung aus dem original. Deutscher Stil ist das jedenfalls nicht. Es ist nicht die einzige Stelle, an der es sich der Übersetzer so leicht gemacht hat.

S. 66: „Was ist Paranoia? Selbsttäuschung, Größenwahn…“ Nein, ist sie eben nicht. Was der Autor beschreibt, ist Hybris, nicht Verfolgungswahn. Die antiken Götter bestraften Hybris, also die anmaßende Beanspruchung einer emporgehobenen Stellung durch einen Sterblichen, regelmäßig aufs Grausamste. Im Buch erfolgt diese „Strafe“ mit dem Massenselbstmord der Zahnwale.

S. 68: „Diese bescheidenen Feststellungen vor mir“. Es müsste „von mir“ heißen. Wiederum lausiger Stil.

S. 68: Ein, zwei Sätze weiter heißt es: „ohne die Obertöne zu bemerken“. Im Deutschen sagt man „Unterton“.

S. 84: „Ich habe ein[e] Nase für solche Sachen.“ Das E fehlt.

S. 85: „Bauer, der meint, das[s] Wissenschaftler die Existenz Gottes bewiesen hätten…“ Das S fehlt.

S. 132: „Er wandte sich zu Tom Winterburn, ohne Chloe Pattons [Arm? Handgelenk?] loszulassen.“ Offensichtlich fehlt hier ein ganzes Wort!

S. 195: „Mount Palomor“ statt „Mount Palomar“.

Unterm Strich

Ich habe mehrere tage gebraucht, um diesen anspruchsvollen Roman zu bewältigen. Fachjargon aus Sprach- und Hirnforschung, aus Astronomie und Walkunde tummelt sich hier in fast jedem Kapitel. Da war ich froh über jede Abwechslung, so etwa in den ironischen, ja, fast schon komödiantischen Szenen mit Richard, Hammond und Ruth – und ihrem Baby Alice: „Guck mal, Ally, heute sehen wir dumme Wale!“

Aber schon gewisse Fremdartigkeiten wie etwa die Indios, die sich durch Pfiffe verständigen wie Wale mit Klicklauten, oder der Anblick eines Geiers auf einer Antennschüssel eines Radioteleskops – da merkt man schon, dass man sich in einem SF-Roman befindet. Hinzukommen noch Actionszenen wie der Schuss auf den Benzintank eines amerikanischen Motorrad-Bikers, der eine Explosion zur Folge hat. Für solche Effekte war immer J. G. Ballard gut, oder wenigstens Michael Moorcock.

Die ganze Konstruktion leuchtet mir durchaus ein, ebenso wie die Aussage. Man muss halt ein wenig darüber nachdenken. Erkenntnisse und Vor-Urteile bekommt der Leser hier nicht auf dem Silbertablett serviert, sondern vielmehr ein Rätsel, dessen Verästelungen zunehmen und zugleich Hinweise auf die Lösung liefern. Der Autor arbeitet mit Metaphern, Analogien und Parallelen, die einander kommentieren. Da blitzt eine Menge intellektueller Humor durch. Mit am besten gefielen mir die Szenen mit Jonah, dem intelligent gemachten Pottwal. Ist er nun ein Alien unter seinesgleichen? Die Antwort auf diese spannende Frage folgt im Finale.

Apropos Pottwal: Natürlich kann man diesen Roman auch als Watsons Antwort auf Herman Melvilles klassischen Walfängerroman „Moby Dick oder Der Weiße Wal“ (1851) lesen. Wo Kapitän Ahab nur das boshafte Ungeheuer im Wal sieht, den Satan persönlich, da sieht Watson den Gott, selbst wenn er uns wie ein Alien erscheint. Es sind zwei Seiten der gleichen Medaille: Das Andere, das muss immer entweder Gott oder Teufel sein. Wir müssen entscheiden, was es für uns – und was es für die Erde als Ganzes ist.

Leider ist die Übersetzung nicht hundertprozentig gelungen, sondern stellenweise ein richtiges Ärgernis. So etwa dann, wenn deutlich, dass der Übersetzer einfach nur die englische Satzkonstruktion nachäfft, statt sie zu einer deutschen zu machen. Dann klingt der Stil einfach nur holprig und unecht.

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 5,00 von 5)

Taschenbuch: 220 Seiten
Originaltitel: The Jonah Kit (1975)
Aus dem Englischen von Walter Brumm
ISBN-13: 978-3453010093

www.heyne.de