Stephen M. Irwin – Der Sog

In seiner australischen Heimatstadt entdeckt der hellsichtige Nick eine mörderische, im Wald hausende Hexe; während er dieser das Handwerk legen will, wartet sie darauf, dass Nick in ihren Bannkreis gerät … – Inhaltlich und formal gelungener Horror im Stephen-King-Stil: Durchschnittsmenschen werden mit einem sehr realen Grauen konfrontiert. Die Geschichte fesselt, doch Debüt-Autor Irwin geriet an einen Lektor, der ihm zu viele Längen durchgehen ließ.

Das geschieht:

Nach dem tragischen Tod seiner Frau kehrt Nick Close aus England in seine australische Heimatstadt Tallong zurück. Ohnehin als Witwer emotional stark angeschlagen, leidet er nach einem Motorrad-Unfall unter dem Zweiten Gesicht: Nick sieht die Geister derer, die durch Mord oder Selbstmord zu Tode gekommen sind.

Mit Tallong verbinden Close keineswegs glückliche Kindheitserinnerungen. Im Jahre 1982 wurde hier Tristram Boye, sein bester Freund, ermordet. Vor 25 Jahren entging der junge Nick selbst dem Täter nur zufällig. Die Bluttat ereignete sich in einem Waldstück, das an der Carmichael Road bis in das Stadtgebiet hineinreicht. Dieser Wald erschien Nick schon damals verflucht. Ein unerklärlicher Sog ging von ihm aus, und an seinem Rand fand er seltsam verstümmelte Tierkadaver.

Nur Stunden nach Nicks Heimkehr ereignet sich im Wald ein weiterer Mord. Der Heimkehrer stellt sich seiner Angst, geht zum Tatort – und findet tatsächlich den Geist des toten Kindes, der von einer unsichtbar bleibenden Macht zwischen die Bäume gezerrt wird. Wenig später taucht Tristrams Bruder auf, erklärt Nick, dass er damals hätte sterben sollen, und schießt sich den Schädel mit einer Schrotflinte weg: Die Kreatur im Wald hat Nicks Eindringen registriert und geht zum Gegenangriff über.

Gemeinsam mit seiner Schwester Suzette recherchiert Nick, dass Tallong Ort einer Serie nie geklärter Kindsmorde ist, die weit in die Vergangenheit reichen. In einer Kirche findet er Hinweise auf den „Grünen Mann“, ein uraltes Wesen, das schon die Menschen der vorchristlichen Zeit verehrten und fürchteten. Doch sein eigentlicher Gegner ist eine uralte Hexe, die dem „Grünen Mann“ dient. Nick beschließt, dem Schrecken und den Morden ein Ende zu bereiten. Er macht er sich in den Wald von Tallong auf; eine kapitale Fehlentscheidung, denn er begibt sich buchstäblich in die Höhle einer Löwin, der schon auf Nick wartet …

Ausgetretener aber gut gepflasterter Pfad

Man glaubt es als viel- bzw. leidgeprüfter Freund des phantastischen Romans kaum, dass zwischen platonisch brünstigen Vampirchen, den aktuell ins Beststeller-Licht flatternden Engeln oder den bewährten Metzel-und-Schnetzel-Bolden noch ganz klassische Schreckgestalten ihr Handwerk verrichten. Man muss sie zumindest suchen, was besonders dann gilt, wenn sie unauffällig bleiben: „Der Sog“ ist ein Taschenbuch, das ohne flankierende Werbung, mit einem wenig zündenden Titel und einem schlichten (aber hübschen) Cover beinahe verschämt in den deutschen Buchhandel gebracht wird.

Hier startet offenbar ein Versuchsballon. „Der Sog“ ist der Debütroman eines australischen Schriftstellers. Zwar stellen Bücher von „down under“ nicht mehr die exotischen Kuriositäten der Vergangenheit dar, doch es sind vor allem australische Krimis, die verstärkt ihren Weg nach Deutschland finden.

Sollte Stephen M. Irwin repräsentativ für die australische Phantastik-Szene sein, könnte sich dies ändern. „Der Sog“ ist ein Titel, der nicht nur die magnetähnliche Wirkung eines verfluchten Ortes, sondern auch die Wirkung beschreibt, die dieser Roman auf seine Leser ausübt. Dabei enthält sich Irwin betont sämtlicher Tricks und Ticks, mit denen Horror heutzutage gern an den Mann (und an die Frau) gebracht wird. Er legt eine klassische Geschichte vor, die man „altmodisch“ nennen könnte, würde dieser Bezeichnung nicht eine fälschlich negative Bedeutung innewohnen.

Uralter Schrecken in unerwarteter Umgebung

Irwin greift einen Archetypen des Schreckens auf: die böse Hexe. In ihrem Schlupfwinkel spinnt sie buchstäblich ihre Intrigen. Als Schutzgeist sitzt ihr im 21. Jahrhundert keine Katze mehr auf der Schulter. Eine Riesenspinne ist der Umgebung wohl auch angemessener, denn Irwin steht vor einem Problem, dass er seine Hexe erst einmal nach Australien bringen muss. Dieser Kontinent ist nicht für die Umtriebe gottloser Zauberinnen bekannt. Der Verfasser muss die böse Quill deshalb aus der „alten Welt“ importieren: Sie stammt aus Irland und erreichte Australien an Bord eines Sträflingsschiffes.

Geschickt verknüpft Irwin sein Hexengarn mit dem Mythos vom „Grünen Mann“, dem Herrn der Wälder. Das Konzept einer belebten und von gottähnlichen Mächten gesteuerten Natur wurde oder wird an zahlreichen Orten der Erde verehrt, ohne dass es dafür gemeinsame Wurzeln oder direkte Verbindungen gibt. Irwin konstruiert diesen Mythen eine gemeinsame Basis. Ihm gelingt dadurch die Kreation eines „Grünen Mannes“, der weltweit präsent ist. So kann ihm Nick Close sowohl in England als auch in Australien begegnen.

Für die Auflösung seiner Geschichte ist die Trennung zwischen Hexe und Mann wichtig. Während der „Grüne Mann“ eine Naturgewalt ist und außerhalb menschlicher Moralvorstellungen handelt, ist Quill eindeutig böse i. S. von selbstsüchtig. Trotz ihrer 180 Lebensjahre ist sie Mensch genug geblieben, um scheinbar unbemerkt vom „Grünen Mann“ ihr eigenes Süppchen zu rühren. Das macht Quill zum ‚besseren‘ Gegner. Den „Grünen Mann“ hält Irwin klug im Hintergrund und lässt ihm seine kaum verständliche Übernatürlichkeit.

Alltagsmenschen im Vorraum der Hölle

Keine pflichtbewussten, überforderten, seelisch angeschlagenen Cops. Keine zu Kampfmaschinen mutierenden Bücherwürmer. Keine hübschen, im Verlauf des Abenteuers über sich selbst hinauswachsenden und im Finale Mr. Right im Arm haltenden Blondinen. Oder zusammengefasst: keine langweiligen, dem Mainstream-Kino entliehenen, ärgerlichen Klischee-Figuren. Stattdessen orientiert sich Irwin für seine Figurenzeichnung bei Stephen King, der – selten genug – dennoch nicht mit einem anerkennenden und werbewirksamen Spruch auf dem Cover zitiert wird.

Irwin imitiert nicht, er hat erkannt, was King-Figuren so lebendig wirken lässt: Einfach aber sorgfältig charakterisierte Alltagsmenschen werden in eine Situation gedrängt, die ihren Durchschnitts-Verstand überfordert und der sie eigentlich nicht gewachsen sind. Folgerichtig (aber frustrierend für Leser, die heldenhafte Tatmenschen bevorzugen) dauert es lange, bis sie überhaupt Verdacht schöpfen, was um sie herum vorgeht. Entsprechende Nachforschungen ziehen sich hin und werden von Rückschlägen behindert. Kommt es endlich zur offenen Konfrontation mit dem Gegner, sind Niederlagen an der Tagesordnung. Diverse liebgewonnene Figuren springen über die Klinge, was die Überlebenden läutert, zur Entschlossenheit schmiedet und Gelegenheiten für tragische Szenen bietet. Gelingt dieser Prozess, wirkt es glaubwürdig, wenn im Finale der übermächtige Kontrahent aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz niedergerungen wird.

Der Horror zieht sich im Mittelteil

Grundsätzlich beherrscht Irwin seinen Job. Man kann sich kaum einen gewöhnlicheren Zeitgenossen vorstellen als Nick Close. Auch seine Mitstreiter – Schwester, Mutter, ein wankelmütiger Priester, eine verdrießliche Witwe, ein kleines Mädchen – scheinen Quill und ihrer Schutzgeist-Spinne eher als Sandsäcke für ein Zauber-Training zu dienen. Wie sie ebenso einfallsreich wie grausam die Reihen ihrer Verfolger lichtet, gehört zum Mittelteil dieses Romans, der seinem Verfasser eindeutig zu ausladend geraten ist.

Irwin misslang es, die Handlung so zu konzentrieren, dass sie mit dem furiosen Finale mithalten kann. Zu viele Figuren werden ausführlich eingeführt, um nach nebensächlichen Aktivitäten wieder zu verschwinden. Darüber hinaus gibt es unnötige Wiederholungen: Gleich dreimal arbeitet sich Close zitternd und zagend zum spinnenverseuchten Abflussrohr im Wald vor, was stets sehr ausführlich dargestellt wird.

Solche überflüssigen Episoden drücken aufs Tempo. Darüber geht manchmal verloren, wie gekonnt Irwin sein Rätsel nach und nach lüftet. Die in der schnöden Beschreibung bizarr wirkende Kombination aus Hexenfluch und Naturmystik funktioniert ausgezeichnet. Als sich der Staub (bzw. die Gischt) des Finalkampfes legt, kann die Auflösung dem Rätsel standhalten. Der Leser muss höchstens entscheiden, ob er dem routiniert nachgeschobenen Schlusstwist Glauben schenken möchte – ein uralter Trick, der die Handlungslogik im allerletzten Moment negiert (und eine mögliche Fortsetzung vorbereitet).

Ungeachtet solcher Schwächen hat Debütant Irwin es grundsätzlich richtig gemacht. „Der Sog“ bietet soliden Grusel ohne grelle, selbstzweckhafte Effekte, aber mit einer guten Story und glaubwürdigen Figuren. Damit kann der Leser zufrieden sein.

Autor

Stephen Mark Irwin wurde 1966 in Brisbane, einer Stadt im australischen Bundesstaat Queensland, geboren. Er studierte Film- und Fernseh-Produktion am „Queensland College of Art“. Nach seinem Abschluss arbeitete er zunächst als Gastronom und Handwerker. Später ging er zum Fernsehen und schrieb diverse Dokumentationsfilme. Außerdem verfasste er Drehbücher für die erfolgreichen Kurzfilme „Car Pool“ (2006) und „Ascension2 (2008), wobei er letzteren auch inszenierte.

Schriftstellerisch machte Irwin zunächst als Poet auf sich aufmerksam. Zwei Sammlungen mit Gedichten erschienen, dazu veröffentlichte er Kurzgeschichten. 2009 folgte „The Dead Path“ (in Großbritannien: „The Darkening“), ein phantastischer Roman.

Mit seiner Familie lebt Stephen Irwin weiterhin in Brisbane. Über seine Arbeit informiert er auf dieser Website.

Taschenbuch: 544 Seiten
Originaltitel: The Dead Path (Sydney : Hachette Australia 2009)/The Darkening (London : Sphere 2009)
Übersetzung: Fred Kinzel
http://www.randomhouse.de/blanvalet

eBook: 1049 KB
ISBN-13: 978-3-641-03981-3
http://www.randomhouse.de/blanvalet

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