Isaac Asimov/Greenberg/Olander (Hrsg.) – Sternenpost. 3. Zustellung

Classic SF: Lysistrata lässt grüßen

Isaac Asimov und seine Mitarbeiter stellen Sternenbriefe und kosmische Tagebücher vor. Dies ist die dritte und letzte Zustellung der Sternenpost. Die Briefeschreiber und Tagebuchverfasser sind bunt gemischt, und es finden sich sogar eine Frau darunter. Unter den sieben Beiträgen dieses 3. Bandes sind unter anderem:

1) „Unerreichbares Geheimnis“ von A.E. van Vogt,
2) „Die Macht“ von Murray Leinster und
3) „Die Einsamen“ von Judith Merril (die auch in Band 1 vertreten ist), und mehr.

Die Herausgeber

Isaac Asimov, geboren 1920 in Russland, gestorben 1992, wuchs in New York City auf, studierte Biochemie und machte seinen Doktor. Deshalb nennen seine Fans ihn neckisch den „guten Doktor“. Viel bekannter wurde er jedoch im Bereich der Literatur. Schon früh schloss er sich dem Zirkel der „Futurians“ an, zu denen auch der SF-Autor Frederik Pohl gehörte. Seine erste Story will Asimov, der sehr viel über sich veröffentlicht hat, jedoch 1938 an den bekanntesten SF-Herausgeber verkauft haben: an John W. Campbell. Dessen SF-Magazin „Astounding Stories“, später „Analog“, setzte Maßstäbe in der Qualität und den Honoraren für gute SF-Stories. Unter seiner Ägide schrieb Asimov nicht nur seine bekannten Robotergeschichten, sondern auch seine bekannteste SF-Trilogie: „Foundation“. Neben SF schrieb Asimov, der an die 300 Bücher veröffentlichte, auch jede Menge Sachbücher, wurde Herausgeber eines SF-Magazins und von zahllosen SF-Anthologien.

Martin H. Greenberg und Joseph Olander haben zahlreiche Anthologien veröffentlicht.

Die Erzählungen

1) Judith Merril: Die Einsamen (The Lonely, 1963)

Dr. Shlomo Nouma, ein Anthropologe, schreibt an Hennessy, der im Solarrat für interkulturelle Beziehungen zuständig ist. Nouma beschäftigt sich mit der ersten Kolonisierungsexpedition zum Planeten VI, der die Riesensonne Aldebaran umkreist. Die Expedition scheiterte auf tragische Weise: Jede der Frauen der „Mannschaft“ sollte mit eingefrorenem Sperma befruchtet werden, um so Männer für die Besiedlungsarbeit hervorzubringen. Leider machte die Biologie einen dicken Strich durch diese Rechnung: Die wenigen geborenen Kinder waren allesamt unfruchtbar.

Noch schlimmer: Die Luft von Aldebaran VI war stark säurehaltig, so dass die Frauen die Landefähre nicht verlassen konnten. Eine der Frauen nach der anderen ging den Weg allen Fleisches. Als sie mal in Schutzkleidung die Gegend erkundeten, stießen sie zwar auf Flechten, doch da sie über keine Psi-Fähigkeiten verfügten, entdeckten sie eine umwerfende Tatsache nicht: Dass dies das Zuhause der Arlemiten ist, einer psi-fähigen Flechtenart, die den ganzen Planeten beherrscht. Das letzte, einsame Kind opferte seinen Körper und ermöglichte es so den Arlemiten, die menschliche Gestalt zu rekonstruieren.

Jahre später erreichte ein Erkundungsschiff, das nur mit Männern besetzt ist, Aldebaran VI und stößt auf ein Rätsel: die Statue einer weiblicher Muttergestalt, der ein phallisches Raumschiff aus dem Schoß wächst. Was soll man davon bloß halten?

Mein Eindruck

Mal von der tiefen Ironie abgesehen, die der doppelt reflektierten Story innewohnt, beschäftigt sich die Autorin mit dimorpher, heterosexueller Fortpflanzung und er daraus resultierenden Symbolik. Ein Raumschiff ist phallisch und „eindeutig“ männlich. Was hat es also im weiblichen Schoß einer Frauenstatue zu suchen, fragen sich die Mitglieder der männlichen Expedition. Wahrscheinlich wollte die Autorin die lächerliche Absurdität des Versuchs, eine Person auf ihre sexuellen Symbole zu reduzieren, andeuten. Ein Seitenhieb ist natürlich die Pointe: Die Frauen flogen L-Schiffe, und L steht für Lysistrata, also für eine Kämpferin für Frauenrechte.

In erzählerischer Hinsicht ist der Text nicht einfach zu konsumieren. Man muss schon mitdenken und reflektieren. Im Zentrum steht der Vortrag von Prof. Aal über die Arlemiten und die zwei Expeditionen. Dieser Report sowie sein Vortrag wird von Shlomo Nouma in seinem Schreiben an den Solarrat kommentiert und bespöttelt. Kein Wunder, dass der Solarrat darauf besteht, den kompletten Report zu lesen. Warum die künstliche Befruchtung bei den Frauen scheiterte, wird an keiner Stelle erklärt. Das empfinde ich als Manko, als derlei Intimitäten konnte die Autorin wohl anno 1963 (noch) nicht drucken lassen.

2) A.E. van Vogt: Unerreichbares Geheimnis (Secret Unattainable, 1942)

Der deutsche Wissenschaftler Kenrube hat in den 1930er Jahren eine Maschine erfunden, die den Hyperraum nutzt. Richtig justiert lässt sie sich dazu verwenden, Rohmaterial jeglicher Art aus anderen Welten oder anderen Erdregionen zu saugen und an einen anderen Ort, beispielsweise das Deutsche Reich, zu transferieren. Es gibt einen Haken: seine politische Zuverlässigkeit ist fragwürdig. Die Nazis haben nämlich im Juni 1934 im Rahmen ihrer „Säuberungsaktion“ seinen Bruder verhaftet und ermordet. Doch inzwischen gibt sich Kenrube lammfromm. Was ist zu tun?

Heinrich Himmler, seit 1934 der Chef der Gestapo und Leiter der Schutzstaffel (SS), lässt sich nicht täuschen und befiehlt seinen Leuten die genaue Überwachung dieses vielversprechenden Wissenschaftlers rund um die Uhr. Die Agentin Ilse Weber soll ihn sogar heiraten und ihm Kinder schenken: Sie werden ihn der „Volksgemeinschaft“ verpflichten, so der Plan. Sie alle liefern Berichte, die Himmler beruhigen sollen. Der wissenschaftliche Leiter des Projekts lobt Kenrube und dessen Maschinenmodell, das im Labor in Dresden einwandfrei funktioniere.

Zumindest bis zu jenem Moment, als Kenrube einen außerweltlichen Gesteinsbrocken vor den Eingangstrichter der Maschine hält. Diese klickt – und explodiert! Doch so ein Missgeschick kann vorkommen, beruhigt der wissenschaftliche Leiter. Himmler lässt Kenrube eine weitere Maschine auf Schloss Gribe bei Travemünde bauen, fertigt aber vorsichtshalber mehrere Kopien und Modelle an. Wieder kommt es zu einem „Missgeschick“: Die Maschine, die nun über einen Ein- und einen Ausgangstrichter verfügt, schießt einen Energiestrahl 50 km zu einem Flugplatz – und reißt eine landende Maschine samt Piloten ins Nichts.

Kenrube wird verhaftet und verhört. Doch dann verschwindet er vor den Augen seiner Bewacher. Das einzige, das er hinterlässt, sind seine Tonbandaufzeichnungen. Und die machen Himmler richtig wütend…

Mein Eindruck

Die im Juli 1942 veröffentlichte Erzählung befindet sich auf dem aktuellsten historischen Stand. Da wird bereits auf den Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 angespielt und auf den Überfall der Nazis auf die Sowjetunion (deren Plan es u.a. war, bis zu den Ölfeldern von Baku vorzustoßen – sie mussten sich aber mit den Ölfeldern im rumänischen Ploesti begnügen).

Weil der Russlandfeldzug auch ein Ölkrieg war, spielt die Rohstoffbeschaffung durch die Wissenschaft eine bedeutende Rolle für den weiteren Verlauf des Krieges. Das erkannte der Autor klar. Und es wurde bereits gemunkelt, dass die Nazis an der Atombombe arbeiten würden, seitdem ihre Wissenschaftler Lise Meitner und Otto Hahn die Kernspaltung entdeckt hatten. Der Autor lässt die Rolle des strategisch wichtige Wissenschaftlers Kenrube durchspielen, dessen Maschine beliebig viele Rohstoffe beschaffen kann. Dessen Gegenspieler ist der nahezu allmächtige Gestapo-Chef Heinrich Himmler. Was kann da schon schiefgehen?

Tatsächlich hat Himmler den unsicheren Kantonisten Kenrube mit einem Spinnennetz aus Spionen und Familienmitgliedern umgeben. Außerdem dienen mehrere Kopien der Maschine als Backup. Deshalb muss sich der Autor etwas Besonderes einfallen lassen, um den Schurken ein Schnippchen schlagen zu können: die Mathematik. Indem er sich zu einer gewöhnungsbedürftigen Sorte der Mathematik versteigt, eicht der Autor die Wundermaschine auf seinen helden, den Wissenschaftler. Diese Personalisierung der Gleichungen soll auf psychischem Wege möglich sein – was man erst einmal nur schwer schlucken mag.

Wie auch immer: Die Schurken bekommen ihre verdiente Belohnung, als alle Backup-Modelle versagen und die Hauptmaschine ein sehr kontraproduktives Verhalten an den Tag legt…

3) Barry N. Malzberg: Nach dem großen Krieg im All (After the Great Space War, 1974)

Die Raumflotte hat den Raumkrieg gewonnen und schickt Wilson als Späher auf den Planeten der Rothäute, der zum System der Riesensonne Rigel gehört. Wilson erhält von den Eingeborenen die Einladung zur mysteriösen „Zeremonie der Gelenke“ und äußert gegenüber dem Hauptquartier seine Bedenken, daran teilzunehmen. Das Hauptquartier verdonnert ihn dazu, unbedingt daran teilnehmen. Widerstand erweist sich als zwecklos.

Nach der „Zeremonie der Gelenke“ meldet sich ein gewisser James O Wilson in einem entschieden anderen Ton beim Hauptquartier. Der anscheinend Unzurechnungsfähige ist offensichtlich zur Gegenseite übergelaufen, wird seines Ranges enthoben und soll sofort arretiert werden. Ein erstes Kriegsschiff landet und die Crew nimmt an der mysteriösen „Zeremonie des Verschwindens“. Auch diese Crew läuft über und lädt den Rest der Flotte dazu ein, an der „Parade der Farbkleckse“ teilzunehmen und das erste Siedlerschiff zu schicken – unbedingt! Das Hauptquartier erkennt den Ernst der Lage und befiehlt Operation Rosa: die Vernichtung des Planeten…

Mein Eindruck

Diese heitere Persiflage auf den Einsatz der Amerikaner in Süd-Vietnam greift das Phänomens des Überlaufens auf. Dabei bleibt zwar unklar, wie das „Umdrehen“ der Agenten und Soldaten vonstattengeht, aber nur das Ergebnis zählt: Die Flotte ist dabei, in eine Falle zu tappen. Und 6000 Siedler geraten in Gefahr, von den heimtückischen Eingeborenen – Rothäute mit einer hinterlistig heiteren Sprache! – assimiliert zu werden. Das Hauptquartier reagiert wie alle Militärs: Was sich nicht kontrollieren lässt, muss eliminiert werden.

4) Christopher Anvil: Der Gefangene (The Prisoner, 1965)

Im April 2308 läuft der Raumkrieg gegen den unbekannten Feind schlecht für die Erde. Die Verteidigungsstrategie funktioniert nicht, denn sie führt zu einer Zerstreuung statt zu einer effektiven Konzentration der Kräfte. Der Planet R3J stellt eine Schlüsselposition dar, doch als General Martin Glick ihn einnehmen will, wird er von einem Oberst namens Q.L. Gorley im Generalstab von Operationschef Rystenko zurückgepfiffen und sogar degradiert. Doch Glick wendet sich an den neuen Verteidigungsminister James Cordovan, um sich über Gorley zu beschweren. Als Cordovan mehr über diesen Oberst herauszufinden versucht, stößt er nur ins Leere. Sogar Präsident Barton Baruch kann sich nicht an Gorley erinnern, obwohl er ihn doch zu Rystenko als Berater schickte. Cordovan gibt Glick grünes Licht für R3J.

Weil es keinerlei Unterlagen zu diesem Gorley gibt, lässt Cordovan nach ihm recherchieren. Dabei deckt er eine merkwürdige Koinzidenz auf: Wenige Tage, nachdem ein gefangener Feind aus einer Kühlbox der militärischen Gerichtsmedizin VERSCHWUNDEN war, tauchte beim Op-Chef Rystenko ein muskulöser Typ auf, der einen Heißhunger an den Tag legte. Jeder kann sich an seinen intensiv stechenden Blick und seine erstaunlichen Selbstheilungskräfte erinnern.

Der Verteidigungsminister zählt zwei und zwei zusammen – und lässt die Verteidigungsstrategie komplett umstellen, ohne den Präsidenten zu verständigen. Danach ordnet er die Bombardierung seines eigenen Hauptquartiers an. Er erwartet den Besuch dieses Gorley in seinem Büro…

Mein Eindruck

Stephen King hat einmal einen Roman mit dem Titel „Mind Control“ geschrieben, also Lenkung des Bewusstseins. Genau darum geht es auch hier: Gorley ist der feindliche Agent, der die Verteidiger mittels Hypnose seinem – subversiven – Willen unterwirft. Leider dauert es wegen der komplizierten Kommunikationskanäle eine ganze Weile, bis dieser Agent überhaupt identifiziert und lokalisiert wird. Dass Gorley als eine Art Footballspieler dargestellt wird, ist ein Klischee aus dem Kalten Krieg. Heute sind die Agenten, wie vor wenigen Jahren wieder mal publik wurde, weiblich und höchst attraktiv.

Es ist für den deutschen Leser etwas verwirrend, dass alle Zeitdaten in US-amerikanischer Notation angegeben sind. Daher steht die Ordnungszahl des Monats VOR der Ordnungszahl des Tages: 4/28/2308.

5) Anthony R. Lewis: Bitte um Vorschläge (Request for Proposal, 1972)

Der Präsident hat am 1.3.1984 die Aufforderung verkündet, die innenstädtischen Bezirke der USA zu „verbessern“. Er will ein „Programm zur kosteneffektiven Optimierung innerstädtischer wechselwirksamer Stabilisierung“. Folgerichtig fühlt sich am John F. Kennedy Forschungszentrum das Ressort für Wohnungsbau und städtische Entwicklung darum. Der Leiter der Abteilung für Verbesserung bittet um Vorschläge, wie das Programm am kosteneffektivsten umgesetzt werden kann.

Gordon Rogers aus dem o.g. Ressort macht einen weitreichenden, detaillierten und immer ausgefeilteren Vorschlag, um alle vorgebrachten Gegenargumente aus dem Weg zu räumen: Man stelle ein paar Nuklearapparate in den Straßen der Innenstädte auf, zünde sie (nachdem die Bevölkerung evakuiert wurde) und baue alles neu. Kostenpunkt: schlappe 4,7 Mio. US-Dollar und 40 Mannjahre im 1. Jahr. Ein Klacks.

Allerdings ist der Leiter der Abteilung für Verbesserung entsetzt und äußert moralische Bedenken. Rogers macht die Sache höheren Orts publik, wo man nicht abgeneigt ist, seinen Vorschlag weiterzuverfolgen. Aber wer soll die Atombomben liefern – das Pentagon etwa? Null problemo, schreibt Rogers. Man brauche dazu nur ein paar Vorschläge zu erbitten, und schon kann’s losgehen mit der Bombardierung…

Mein Eindruck

Diese bitterböse Persiflage auf das Behördenkauderwelsch legt offen, dass es die Bürokratie selbst sein kann, die den Horror des A-Bombeneinsatzes zu verschleiern vermag. Da fliegen die Aktennotizen nur so hin und her, bis alles wieder schön unklar ist. Dass der zuerst anfragende „Leiter der Abteilung für Verbesserung“ zurücktritt, bewirkt gar nichts, denn er ist entbehrlich: Die Mühlen der Bürokratie drehen sich unerbittlich weiter. Schon werden die ersten Tests geplant, beispielsweise auf dem Atomversuchsgelände in Nevada. Vorschläge werden erbeten…

Übrigens waren die US-amerikanischen Innenstädte anno 1974, als die Story erschien, tatsächlich in einem desolaten Zustand, bevölkert von Junkies und Gangstern. Vor diesem Hintergrund entstanden Filme wie „French Connection“ und „Taxi Driver“. Perfiderweise ist zwischen jedes Schreiben die Werbung der Regierung für Sicherheit geschaltet. Da weiß man gleich, was man davon halten soll.

Hinweis:
„Request for Proposal“ (RFP) bedeutet in der Wirtschaft und bei Behörden schlicht und ergreifend „Ausschreibung“. Die nächste Stufe ist „Request for Quotes“ (RFQ), also die Bitte um kalkulierte Preisangebote.

6) H. Beam Piper: Er ging um die Pferde herum (He Walked Around the Horses, 1948)

Im November 1809 verschwindet ein Engländer namens Benjamin Bathurst im preußischen Perleburg auf unerklärliche Weise und erscheint nach einer kurzen Ohnmacht in einem alternativen Geschichtsverlauf. Nachdem er im Gasthaus, wo er einkehren wollte, wütend einen Aufstand gemacht und den Wirt einen Schurken genannt hat, nimmt ihn die Polizei in ihre Obhut. Immerhin hat der Ausländer einen Diplomatenkoffer und einen preußischen Schutzbrief bei sich.

Alles wäre in schönster preußischer Ordnung, wenn der Mann nicht dauernd Dinge behaupten würde, die unmöglich sind. Er käme gerade aus Wien, wo sich Österreich dem französischen Kaiser namens Napoleon unterworfen habe. Völlig absurd! Und Frankreich sei inzwischen eine Republik. Noch absurder! Und so geht es gerade weiter. Der Oberleutnant, der den verrückten Ausländer schließlich nach Berlin per Kutsche zum Innenministerium geleitet – mit zwei Pistolen in der Jacke – bekommt es wirklich mit der Angst zu tun. Der Ausländer schildert eine Welt des Grauens: ein unabhängiges Amerika, ein von diesem Napoleon unterworfenes Mitteleuropa, Völkerschlachten und viele Horrorgeschichten mehr.

Während sich die britische Regierung mit ihrer Antwort auf die preußische Anfragen Zeit lässt, ist der Brite in Gewahrsam. Doch nachdem er einige Zeitungen gelesen hat, wagt er eines Nachts einen Fluchtversuch – und wird prompt von der Wache erschossen. Es stellt sich heraus, dass ein gleichnamiger Regierungsdiener der Briten, der als Gouverneur von Georgia fungiert, zur gleichen Zeit existiert. Puh, das bringt die Preußen ins Schwitzen. Jetzt bloß keine diplomatische Krise heraufbeschwören! Dieses Rätsel sollte man ganz schnell zu den Akten im Staatsarchiv legen, am besten ganz unten…

Mein Eindruck

Eine wunderbare Alternativweltgeschichte, die aus lauter Briefen und Berichten besteht. Als erstes fragt sich der Leser natürlich, wie der arme Benjamin Bathurst in den alternativen Geschichtsstrom geraten sein kann. Darauf wissen wohl nur die Quantenphysiker eine Antwort. Aber ihre Disziplin erklärt, dass es gleichzeitig viele verschiedene Parallelwelten geben kann.

Doch dem versierten Autor, der eher für seine Geschichten über Little Fuzzys bekannt ist, gelingt es, aus der formellen Form des Brief, Berichts und des Tagebucheintrags eine bewegende Tragödie zu gestalten. Zugleich teilt er einige ironische Seitenhiebe über bekannte historische Gestalten aus, so etwa den Opportunisten Talleyrand. Sehr hübsch ist auch die letzte Zeile mit ihrer Pointe: Da unterzeichnet ein gewisser Sir Arthur Wellesley. In unserem Zeitstrom ist er besser unter dem Namen „Lord Wellington“ bekannt, jener britische General, der Europa vor diesem „Kaiser“ Napoleon gerettet hat. In einer Schlacht irgendwo südlich von Brüssel…

7) Murray Leinster: Die Macht (The Power, 1945)

Prof. Charles von der Latein-Fakultät der Haverford-Uni schickt ein paar alte Manuskripte an seinen Kollegen, den Physiker McFarland, zur Begutachtung.

Anno 1482 schreibt der gelehrte Carolus aus Padua in Oberitalien an seinen Freund Johannus in Leyden [angeblich in den Niederlanden, nur dass die Niederlande anno 1482 noch gar nicht existierten]. Carolus drängt es mit aller Macht danach, Weisheit zu erlangen – und Macht. Nach einem Hinweis reist er ins Dorf Montevecchio und stößt tatsächlich auf ein magisches Wesen. Sie ist bestimmt eine Fee, auch wenn sie ihm nur bis zur Hüfte reicht. Sie hat bereits seinem Vorgänger Reichtum verschafft, wenn auch nicht zu dessen Vorteil: Die Dorfbewohner raubten ihn erst aus, bevor sie ihn als Teufelsanbeter erschlugen.

Das soll Carolus nicht widerfahren, und so versichert er sich des Beistands des Dorfpriesters. Er zieht einen Bannkreis, der ihn schützt, spricht das Wort der Macht und wartet. Sie erscheint tatsächlich, umgeben von einem Dunstkreis. Sein Begehr um Weisheit findet sie ermüdend, doch sie gewährt ihm seinen Wunsch. Wahrscheinlich will der hässliche Zwerg einfach nur in Ruhe gelassen werden. Er sagt, er sei der letzte seine Rasse, die von den Sternen kam und hier auf diesem Felsbrocken strandete. Eindringlich warnt der Zwerg Carolus, Eisen und eisenhaltige Gegenstände wie etwa einen Dolch zu benutzen. Da bringt den gierigen Gelehrten auf eine Idee.

Der „außerirdische“ Zwerg diktiert Carolus seitenweise die Geheimnisse seiner fortgeschrittenen Technologie. Doch davon versteht er nicht das Geringste, so etwa das Funktionsprinzip einer Batterie. Außerdem ist das ketzerisches Zeug, denn die heilige Mutter Kirche lehrt ja, dass die Erde im Mittelpunkt des Universums und der Mensch als Krone der Schöpfung anzusehen sei. Folglich kann es keine anderen Sterne geben, auf denen menschenähnliche Wesen leben.

Schließlich bringt er das Wesen dazu, ihm einen riesigen Schatz zu zaubern. Nun ist es Zeit, zur Tat zu schreiten…

Mein Eindruck

In vielen Geschichten der SF landen die Aliens friedlich. Das erste, was die Erdlinge von ihnen haben wollen, sind die Geheimnisse fortgeschrittener Technologie. Das passiert auch hier, nur mit dem Unterschied, dass der Außerirdische in einer Zeit gelandet ist, in der man erstens nichts mit seinen Beschreibungen anfangen kann und sie zweitens für Ketzerei hält. Das ist doch sehr ironisch und zeigt dem Rest des SF-Feldes, wie naiv eine solche Erwartung ist.

Der Gelehrte Carolus ist eher an alchimistischen Geheimnissen interessiert, die ihn reich und mächtig machen würden. Dass Eisen für den Zauber(er) pures Gift ist, will er nicht so recht glauben – sehr zu seinem Nachteil. Er ist eben allzu menschlich, und das Schicksal des Außerirdischen ist ihm schnuppe.

Und Prof. McFarland aus der physikalischen Abteilung? Na, er will natürlich mehr von dem „Zeug“. Er lebt in der passenden Zeit und kann mit den uralten Beschreibungen sofort etwas anfangen.

Die Übersetzung

S. 8: „Altair, Arcturus, Casto[r]“: In Castors Namen fehlt das R.

S. 15: „Spermenvorrat“: „Spermen“ scheint der Plural von „Sperma“ zu sein.

S. 65: „schob er einen Telefonstecker in eine Steckdose“: Da wendet sich der deutsche Elektriker mit Grausen. Er würde eine Buchse verwenden. Steckdosen sind für Stromkabel da.

S. 74/75: „unsere Beziehungen… hat (und) wird…“: Da „Beziehungen“ das Subjekt des Satzes ist, müssen die Verben dem Plural des Subjekts folgen. Statt „hat“ und „Wird“ müsste also „haben“ und „werden“ stehen.

S. 115: „29. März 1984“: falsches Datum. In der chronologischen Abfolge müsste hier 19. März stehen.

S. 118: „Diserpsion“ übler Fipptehler. Richtig wäre „Dispersion“ (Streuung).

S. 146: „der rebulikanische Aufstand“: noch ein Fipptehler. „Gemeint ist vermutlich „der republikanische Aufstand“.

S. 171: Hier fehlt ein Wort. „Das verfluchte Eisen muss nicht [nur] aus allen Stromkreisen eliminiert, sondern auch…“ Das Wörtchen „nur“ fehlt.

Unterm Strich

Dies ist die dritte und letzte Zustellung von „Sternenpost“, einer voluminösen Anthologie mit Beiträgen aus Briefen, Aktennotizen, Briefwechseln, Tage- und Logbüchern, die vom Moewig-Verlag auf drei Bände verteilt wurde. Bemerkenswert an Band 3 ist die Tatsache, dass gleich fünf verschiedene Bürokratien versuchen, mit dem Unerklärlichen oder Unmoralischen zurechtzukommen und es in ihre Kontrollstruktur einzubinden. Typisch dafür ist die deutsche Gestapo, die einen politisch unsicheren Wissenschaftler unter Kontrolle zu bringen versucht. In „Der Gefangene“ entdeckt die Militärverwaltung mit Müh und Not, dass ein feindlicher Agent in ihren Reihen aktiv ist – und sogar den Präsidenten unter Kontrolle gebracht hat.

In „Er ging um die Pferde herum“ hat die preußische Polizei, das Innenministerium und die Diplomatie alle Mühe, einen britischen Diplomaten, der aus einer Parallelwelt stammt, in ihre Prozeduren einzufügen und ihn wieder loszuwerden. Am interessantesten die Unterschiede zwischen den beiden Geschichtsverläufen. Was der „Zeitreisende“ erzählt, ist das nackte Grauen – und entspricht genau unserer Welt…

In „Bitte um Vorschläge“ soll das Problem der verwahrlosten US-Innenstädte mit gezielten Atomexplosionen gelöst werden. Es nützt nichts, dass der Leiter des Amtes für Verbesserung empört zurücktritt. Die Logik der Verwaltung geht gleich zum nächsten Schritt über: Wo testet man die Teufelsdinger am besten? Es wird um Vorschläge gebeten.

„Nach dem großen Krieg im All“ verhalten sich gewisse Agenten auf einer fremden Welt auf unerwünschte Weise: Als man sie dazu zwingt, unterziehen sie sich einem einheimischen Ritual – und laufen über. So geht das aber nicht, schreit das Hauptquartier – und lässt in letzter Konsequenz (und Hilflosigkeit) die fremde Welt zerstören.

Sehr ironisch sind die beiden übrigen Geschichten. In „Die Macht“ landen die Aliens und geben auch ihre Technologie bereitwillig weiter – nur leider in der falschen Epoche, nämlich im 15. Jahrhundert. Zu dieser Zeit hat man andere Auffassungen davon, welches Wissen Gottes und welches des Teufels ist…

In „Die Einsamen“ nimmt sich die Autorin nicht nur einer rein weiblichen Siedlerexpedition an, sondern auch der Tücken des Symbolismus, der zwischen den beiden menschlichen Geschlechtern verwendet wird. Als die Folge-Expedition, die nur aus Männern besteht, auf eine weibliche Statue mit den falschen Attributen stößt, sind die „aufgeblasenen Egos der Raumarmee“ in Gefahr. Die hier so kritisch kommentierende Autorin Merril ist eine von wenigen AutorInnen, die in dem Gesamtband zweimal vertreten sind. Völlig zu Recht, wie ich finde.

Taschenbuch: 176 Seiten
Originaltitel: Space Mail, 1980;
Aus dem Englischen von Eva Malsch
ISBN-13: 9783811867352

www.vpm.de

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