Isau, Ralf – Jahrhundertkind, Das (Der Kreis der Dämmerung, Teil 1)

Seit Jeff Fenton Waise ist, schlägt er sich mit kleinen Diebstählen und Gelegenheitsarbeiten durch. Da kommt ihm das Angebot eines gewissen Nekromanus wie ein echter Glücksfall vor. Er soll einen Tag lang in der Küche Lord Belials für ein erkranktes Küchenmädchen einspringen und dafür zwei ganze Shillinge verdienen! Pünktlich findet er sich auf dem abgelegenen Landgut ein und wird einem japanischen Koch zugeteilt, der ihm beim Putzen und Schnippeln von Gemüse ununterbrochen von seiner Heimat vorschwärmt. Letztlich landet er zu seiner Überraschung beim Servierpersonal, das allerdings im Augenblick noch die Zeit mit Warten totschlägt. Jeff meldet sich freiwillig, den Kutschern der Gäste Tee hinauszubringen. Auf dem Rückweg macht er eine brisante Entdeckung. Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse. Jeff flüchtet Hals über Kopf …

Rund achtzehn Jahre später, auf den Glockenschlag genau um Mitternacht des ersten Januar 1900 wird in Japan David Viscount of Camden geboren, als Sohn eines Botschafters, des Earl Geoffrey of Camden. Das Baby hat schlohweiße Haare. Die Hebamme erklärt den Eltern, es sei ein Jahrhundertkind, dazu geboren, in einer Zeit, in der das Yin, der Aspekt des Bösen, ein Übergewicht gegenüber dem Yang erhalte, den Ausgleich wieder herzustellen. Schon bald zeigen sich auf unspektakuläre Art die besonderen Gaben des Kindes, das sich unter anderem mit dem Enkel des Tenno, Hiruhito, anfreundet. Die Camdens hätten recht glücklich sein können, wenn nicht Davids Vater überaus empfindsam auf jegliche Arten von umstürzlerischer Aktivität wie Attentate, Aufstände und Putsche reagiert hätte. Jede solche Nachricht stürzt ihn in immer größere Depression, und als in Davids dreizehntem Lebensjahr ein Attentat auf die Familie verübt wird, entschließen sich die Camdens, Japan zu verlassen. Die Familie zieht nach Wien, doch kaum dort angekommen, bricht der Erste Weltkrieg aus. Alle Diplomaten werden in die Heimat zurückbeordert, also kehrt Geoffrey of Camden mit Frau und Kind in sein Stadthaus in London zurück. Dort holt ihn ein Schatten aus seiner Vergangenheit heim, der seinen endgültigen Absturz in die Depression bewirkt. David kann das alles überhaupt nicht nachvollziehen. Erst als seine Eltern bei einem Autounfall ums Leben kommen und David vom Notar der Eltern das Tagebuch des Vaters erhält, findet er heraus, was für eine ungeheure Bürde ihm auferlegt ist …

Das Buch ist in drei Teile gegliedert, wobei der kurze erste Teil auf die Erlebnisse Jeff Fentons, also sozusagen die Einleitung, entfällt. Der zweite Teil erzählt von Davids Kindheit und Jugend, der dritte von der Zeit bis 1929.

In der Hauptsache ist es natürlich Davids Geschichte: seine Kindheit in Japan, seine Freunde Hito und Yoshi, seine Ausbildung in japanischer Kampfkunst, später seine Schulzeit in England und sein Freund Nick. Es ist parallel dazu, zumindest bis 1916, auch die Geschichte seines Vaters und dessen fortschreitender geistiger Zerrüttung. Vor allem aber ist es auch Geschichte! Historik!
David – und auch der Leser – erlebt das schier unaufhaltsame Hineinrutschen in den Ersten Weltkrieg hautnah mit, vor allem deshalb, weil diese Entwicklungen so eine gravierende Auswirkung auf den Gesundheitszustand seines Vaters haben. Die Schrecken des Ersten Weltkrieges erlebt David umittelbar als Soldat, und obwohl sich der Autor mit blutigen Details extrem zurückhält, gelingt es ihm, das ungeheure Ausmaß dieser Katastrophe überdeutlich zu vermitteln und nebenbei noch die Unfähigkeit und Menschenverachtung sämtlicher Heerführer herauszustreichen. Zu Recht trägt der zweite Teil des Buches die Überschrift „Jahre des Wahnsinns“. Damit ist nicht nur Davids Vater gemeint!

Der dritte Teil rückt die historischen Ereignisse etwas in den Hintergrund. Wirtschaftskrisen und ähnliches werden nur am Rande erwähnt, denn David hat endlich seine Bestimmung akzeptiert und sich daran gemacht, den „Kreis der Dämmerung“ zu suchen, jenen Zirkel, der sich dazu verschworen hat, die Menschheit auszulöschen. Nebenbei hat er sich verliebt, und so erzählt die zweite Hälfte des Buches hauptsächlich von seiner Suche nach Anhaltspunkten, von seiner Heirat und seinen Reisen, und von seiner ständigen Verfolgung durch den Schatten.

David ist der zentrale Charakter des Buches. Ein Junge mit einem einfühlsamen, freundlichen Herzen, durch seine Jugend in Japan weltoffen und vorurteilslos und mit einem scharfen Verstand begabt, der ihm schon in jungen Jahren ein gesundes Misstrauen gegenüber den Mächtigen der Welt vermittelt. Sein ausgeprägtes Mitgefühl macht es ihm unendlich schwer zu töten, was ihn an der Front, wo er sich vorzugsweise mit der Bergung verletzter Kameraden beschäftigt anstatt auf den Feind zu schießen, in ziemliche Schwierigkeiten bringt. Erst als er mit seiner großen Liebe Rebekka verheiratet ist, siegt sein Bedürfnis, sie zu beschützen, über seine Ablehnung jeglicher Gewalt.

Rebekka ist ein quirliger Wirbelwind, fröhlich und voller Leben, aber auch klug und ausnehmend hübsch. Sie hat es sich in den Kopf gesetzt, David zu heiraten, davon können sie auch seine Bedenken im Hinblick auf die Gefahren seiner Lebensaufgabe nicht abhalten. Rebekka ist eine starke Frau. Trotz allem, was David ihr abverlangen muss, unterstützt sie ihn in jeder Hinsicht.

Die übrigen Charaktere des Buches geben sich sozusagen die Klinke in die Hand. Denn der Schatten, der David verfolgt, neigt dazu, alle Personen aus dem Leben zu befördern, die David in irgendeiner Weise halfen oder nahe standen. Dennoch gelingt es dem Autor, ihnen allen Leben einzuhauchen, ganz gleich, wie knapp sie auch umrissen sein mögen.

Bemerkenswert ist die Figur Lord Belials. Schon der Name weckt einen bestimmten Verdacht. Isau hat darauf verzichtet, die äußere Erscheinung genauer zu beschreiben, und sich stattdessen auf Gefühle, Eindrücke, Empfindungen konzentriert, die das Böse in Jeff bewirkt. Das Grauen ist gesichtslos. Eine in der aktuellen Fantasy eher unübliche Vorgehensweise, wie sie Tolkien, der angeblich ja Vater aller Fantasy ist, ebenfalls verwendet hat. In dieser Hinsicht scheinen ihm seine Jünger allerdings eher ungern folgen zu wollen.

Eine weitere Hommage an den Vater der Fantasy findet sich im Auftreten von Tolkien selbst! David trifft ihn in Oxford in einem Pub und unterhält sich lange mit ihm. Tolkien erwähnt sein Vorhaben, den |Herrn der Ringe| zu schreiben, vor allem aber hilft er David bei seiner Suche nach dem Kreis der Dämmerung auf die Sprünge, indem er die Ursprünge des Wortes Kreis beleuchtet und damit beim Ring landet. Und vielleicht enthält ja auch das Motiv der Ringe, die Lord Belial den Mitgliedern des Kreises übergab, und dem besonderen, der ihm selbst gehörte, eine Verbeugung vor dem berühmten Schriftsteller.

Anlass zum Schmunzeln bot dagegen eine Hommage Isaus an sich selbst. So durften David und seine Frau Rebekka kurz nach ihrer Trauung Zeuge des Trauerzuges zum Gedenken an Jonathan Jabbok werden. Die |Neschan|-Trilogie war Isaus erste große Veröffentlichung.

Nicht nur Personen wurden von Ralf Isau geschickt in Davids Leben eingebaut, auch weniger bedeutsame Ereignisse sowie solche jenseits der Politik lässt er am Rande in den Handlungsfaden einfließen, ganz ohne Hänger oder Stolperer zu verursachen. So findet die Hinrichtung Saccos und Vanzettis ebenso Erwähnung wie der Untergang der |Titanic| oder die Entdeckung des Penicillins.

Aus diesen Zutaten ergibt sich eine ganz eigene Mischung. Im Grunde ist es ein Fantasy-Roman: die Bedrohung der gesamten Welt durch ein übermächtiges Böses sowie die Beschreibungen Lord Belials, seines Schattens Nekromanus und Davids magischer Fähigkeiten sind typische Kennzeichen des Fantasy-Genres. Während die meisten Fantasy-Autoren jedoch eine eigene Welt für ihre Geschichten erfinden oder diese in ferner Vergangenheit – vorzugsweise dem Mittelalter – ansiedeln, hat Ralf Isau seine Handlung an die jüngste Vergangenheit geknüpft. An unsere Vergangenheit! Die unserer Eltern und Großeltern! Isaus Geschichte spielt nicht vor langer, langer Zeit oder an einem weit entfernten Ort. Sie spielt hier. Und das Ende des letzten Jahrhunderts ist noch nicht lange her. Das war vorgestern. Er erzählt unsere Geschichte.

Durch die enge Verbindung mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts mutet die Erzählung fast ein wenig wie ein Historienroman an, allerdings in einem ganz anderen Stil, als man es sonst von diesem Literaturzweig kennt. Ralf Isau hat seine eigene Art etwas zu erzählen. Jenseits der trockenen Betrachtungsweise des Geschichtsunterrichts, der sich hauptsächlich mit dem politischen Geschehen als solchem und seinen Ursachen und Wirkungen beschäftigt, spricht der Autor von Menschen und ihrer Wahrnehmung der Ereignisse, und das in durchaus unsachlicher Weise, aber auch frei von jeder Polemik, einfach nur mit der Stimme des gesunden Menschenverstands.

Isau erzählt nicht nur einfach eine fantastische Geschichte. „Der Kreis der Dämmerung“ ist mehr als reine Unterhaltungsliteratur, er macht nachdenklich.

Lediglich eine einzige Frage stellte sich mir bezüglich der ganzen Geschichte: Warum hat Lord Belial nicht sofort nach dem Verlust seines Rings, der offensichtlich von größter Wichtigkeit für ihn ist, alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihn wiederzubekommen? Jeff war ihm offensichtlich weit weniger gewachsen als David!
Im Hinblick auf den gelungenen Rest des Buches sei jedoch darüber hinweggesehen.

Alles in allem hat Ralf Isau mit „Das Jahrhundertkind“ einen hervorragenden Roman vorgelegt. Er ist spannend, unterhaltsam und vor allem intelligent! Sollten die drei Folgebände des Zyklus das Anfangsniveau halten, dann darf „Der Kreis der Dämmerung“ mit Fug und Recht als ganz großer Wurf gewertet werden. Auf jeden Fall erhält dieser erste Band von mir das Prädikat: unbedingt lesen!

Ralf Isau, gebürtiger Berliner, war nach seinem Abitur und einer kaufmännischen Ausbildung zunächst als Programmierer tätig, ehe er 1988 zu schreiben begann. Aus seiner Feder stammen außer der Neschan-Trilogie und dem Kreis der Dämmerung unter anderem „Der Herr der Unruhe“, „Der silberne Sinn“, „Das Netz der Schattenspiele“ und „Das Museum der gestohlenen Erinnerungen“. In der Reihe Die Legenden von Phantásien ist von ihm „Die geheime Bibliothek des Thaddäus Tillmann Trutz“ erschienen. Im Juli dieses Jahres wird der erste Band der Chroniken von Mirad unter dem Titel „Das gespiegelte Herz“, im September „Die Galerie der Lügen“ herausgegeben. In der Zwischenzeit arbeitet der Autor an den Folgebänden der Chroniken von Mirad.

Taschenbuch: 751 Seiten
ISBN-13: 978-3-404-15318-3

http://www.luebbe.de/
http://www.isau.de/index.html

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