Als ihr Zug im Schnee steckenbleibt, versucht sich eine buntgemischte Reisegruppe zu Fuß durchzuschlagen, strandet aber in einem einsamen Haus. Dort spielt sich offenbar Kriminelles oder sogar Unheimliches ab, weshalb die Gruppe einerseits versucht, die Ereignisse zu rekonstruieren, während sie sich andererseits mysteriöser Eindringlinge erwehren muss … – Klassischer Kriminalroman eines zu Unrecht fast völlig vergessen Autors, der diesen Thriller mit quasi-phantastischen Einlagen und ungewöhnlichen Figuren ‚würzt‘. Der komplexe Plot wird wider Erwarten plausibel aufgelöst: eine wunderbare Wiederentdeckung!
Das geschieht:
Der Zug verlässt London am Heiligen Abend. In einem der Abteile schlägt eine kleine Gruppe einander fremder Männer und Frauen die Fahrzeit tot. Aus Zufallsbekannten werden Schicksalsgefährten, denn nach heftigem Schneefall ist die Strecke blockiert. Die Gruppe verlässt den Zug, um sich zur Bahnstation des nahen Dorfes Hemmersby durchzuschlagen, von wo es hoffentlich weitergehen kann: Geisterjäger Edward Maltby von der Königlich-Parapsychologischen Gesellschaft, Revuetänzerin Jesse Noyce, die Geschwister David und Lydia Carrington, Buchhalter Robert Thomson und der mysteriöse „Mr. Smith“, der sicherlich nicht diesen Namen trägt.
Die Gruppe verirrt sich und kann von Glück sprechen, in der eiskalten Öde auf ein Haus zu stoßen. Das Feuer prasselt, der Tisch ist gedeckt – doch niemand ist anwesend! Auf dem Fußboden liegt ein Brotmesser, was die Fantasie der ‚Gäste‘ anregt. Kurz darauf schleppt sich ein weiterer Reisender in das Haus. Der nörglerische Mr. Hopkins hat den Zug nach den anderen verlassen. Deshalb war er noch anwesend, als dort ein Mann mausetot und offenkundig erdrosselt entdeckt wurde.
Der Verdacht wendet sich kollektiv gegen „Mr. Smith“, dessen Verhalten in der Tat wenig Vertrauen wecken kann: Er schlägt um sich und flüchtet aus dem Haus. Dort fürchtet man seine Wiederkehr, denn wohin könnte er in einer solchen Eis-Nacht gehen? Schlimmer noch: Weitere zwielichtige Gestalten scheinen das Haus zu belagern. Der Versuch herauszufinden, was eigentlich vorgeht, führt zur Auswertung diverser merkwürdiger Indizien. Sie weisen auf ein Verbrechen hin, das schon vor langer Zeit begann und bis in die Gegenwart fortdauert. In einigen Räumen spukt es womöglich, wie Mr. Maltby ‚feststellt‘. Die Gruppe igelt sich ein, und der Furcht-Faktor steigt, sinkt die Temperatur kontinuierlich …
Der Erwartung eine Nase drehen
Eine Gruppe Menschen, die sich nie zuvor begegnet sind – oder doch? -, sitzt in einem Zugabteil. Wird ein Kriminalroman so eingeleitet, erwartet die Leserschaft einen Mord bei rasender Gleisfahrt; der Täter kann nicht abspringen und muss sich tarnen, um unter den Passagieren verschwinden zu können, wovon ihn ein genialer Ermittler abzuhalten gedenkt.
Dieses Szenario kennen wir. Martin Edwards nennt in seinem Nachwort gleich zwei Titel aus der Feder von Agatha Christie: „Mord im Orientexpress“ (1934) und „16 Uhr 50 ab Paddington“ (1957), die sich der Eisenbahn-Kulisse bedienen. Doch Edwards weist darauf hin, dass Autor Farjeon sogleich einen Haken schlägt: Die Handlung verlässt das Zugabteil – eine jener Überraschung, für die besagter Autor nicht berüchtigt, sondern beliebt war.
Das Geschehen verlagert sich in ein einsam gelegenes Haus, das in Tiefschnee versinkt. Auch dies ist typisch für einen klassischen Rätselkrimi: Wer immer Böses plant und ausführt, muss Teil der Gruppe sein, die sich innerhalb des Hauses befindet. Erneut dreht Farjeon uns eine Nase: Außerhalb des Hauses dreht mehr als ein Strolch seine Runden. Hinzu kommen innen ‚Unschuldige‘, die ebenfalls verdächtig wirken. So öffnen sich Haustür und Fenster mehr als einmal, um neue Figuren einzulassen (oder ins eisige Dunkel entfliehen zu lassen).
In der Hektik liegt die Kraft
Zum Rätselkrimi gehört eine gewisse Gemächlichkeit; nicht grundlos nennt man ihn auch „cozy“. Selbst ein Mord ist kein Grund eine Form zu verlieren, die gerade im England vor dem Zweiten Weltkrieg – der Ära der „steifen Oberlippe“ – unbedingt zu wahren war. Dazu fügte sich ein Detektiv oder Polizist, der quasi osmotisch in die Gruppe der Verdächtigen einsickerte, um jede Person, jede Aussage und selbstverständlich jedes Indiz intensiv zu befragen, zu überprüfen und auszuwerten.
Erneut wirft Farjeon dieses Konzept über den Haufen. Seine Figuren verbreiten keine Gemütlichkeit. Sie halten keineswegs in der Krise zusammen und wirken sogar verdächtig; dies oft nicht ohne Grund. Auch wenn sich hinter einer abweisenden Miene kein Unhold verbirgt, kann sich dort ein echter Widerling, Spinner oder Schwächling offenbaren. Anders ausgedrückt: Selten trifft man in einem Rätselkrimi Figuren, die der Realität so nahekommen.
Wobei der Verfasser keineswegs auf skurrile Züge verzichtet. So schwingt sich ein waschechter Okkultist zum Detektiv auf, ohne diese Rolle ständig einzunehmen, weshalb immer wieder Verwirrung in der Gruppe ausbricht, weil jemand zaghaft oder energisch den Ermittlerthron beansprucht. Generell sind die Figuren wankelmütig, unentschlossen oder planlos. Genau vor dieser Verwirrung spinnt Farjeon sein Netz, denn sie verbirgt, was tatsächlich vorgeht. Wie fest der Autor die Fäden dabei in der Hand hält, verrät die Auflösung, für die Farjeon die übliche Zusammenkunft sämtlicher Anwesenden überaus dramatisch aufzuwerten weiß.
Der Griff aus dem Jenseits
Farjeon-Romane verfügen über einen hohen Grusel-Faktor; sie sind „creepy“, was schon die Zeitgenossen registrierten und schätzten. Normalerweise scheuen ‚redliche‘ Krimi-Autoren jegliche Einmischung aus dem Jenseits wie der Teufel das Weihwasser. Selbst ein ‚unmögliches‘ Verbrechen muss plausibel als ausschließlich weltliche Tat dargestellt werden. Die Leser sollen miträtseln und hassen es, wenn sie feststellen, dass dies aufgrund ‚unfairer‘ Tricks nie möglich gewesen ist.
Unbekümmert lässt es Farjeon immer wieder spuken – vorgeblich jedenfalls. Das Haus im Schnee eignet sich als Geisterhort ebenso gut wie als Mordstätte. Warum nicht doppelgleisig fahren? Farjeon lässt sogar einen ‚Geisterjäger‘ auftreten. Nach dem Ersten Weltkrieg und schrecklichen Bevölkerungsverlusten erlebte England eine Blütezeit des Okkultismus‘, weil trauernde Angehörige und Freunde wissen wollten, ob der gefallene Sohn, Gatte, Vater etc. gut ‚hinüber‘ ins Jenseits gekommen war. Dieser Glaube an ein Jenseits als Fortsetzung des Erdlebens wurde sehr ernstgenommen. ‚Forscher‘ wie Edward Maltby versuchten ‚echten‘ Spuk von Täuschung und Betrug zu trennen. Insofern wird er als Detektiv zu einem realistischen Kandidaten.
Dazu passt der Zeitpunkt des Geschehens. Traditionell wurden in England Geistergeschichten auf Weihnachtsgesellschaften erzählt. Prasselnde Feuer innen und klirrende Kälte draußen wurden durch den Kontrast zwischen Heimeligkeit und Furcht unterstrichen. Farjeon beherrscht sein Handwerk. Lange lässt er uns im Zweifel, ob es nicht doch umgeht in dem einsamen Haus.
Da ist er endlich (wieder)
Solches Geschick leitet erst recht zur abschließenden Frage über, wieso J. Jefferson Farjeon so gründlich in Vergessenheit geraten konnte. Er hinterließ etwa 80 Romane und zahlreiche Kurzgeschichten. Zu seinen Lebzeiten nannte man ihn in einem Atemzug mit Agatha Christie oder Dorothy L. Sayers. Dennoch wurde Farjeon erst nach langer Pause 2014 im Rahmen der Bemühungen eines Projekts der Britischen Nationalbibliothek neu entdeckt, die nicht nur Farjeon, sondern auch andere nicht mehr bekannte, aber lesenswerte Krimi-Autoren der „Goldenen Ära“ einem neuen Publikum vorstellte.
In Deutschland sind – noch und ausschließlich zu seinen Lebzeiten – einige Farjeon-Krimis übersetzt und veröffentlicht worden. Nichtsdestotrotz darf man den Verfasser durchaus als Neu-Autor bezeichnen. Mit „Geheimnis in Weiß“ – gut übersetzt und schön aufgemacht (inklusive Lesebändchen) wurde eine ausgezeichnete Titelwahl getroffen.
Autor
Joseph Jefferson Farjeon wurde am 4. Juni 1883 in Hampstead, London, und in eine Künstlerfamilie hineingeboren. Sein Großvater (und Namengeber) war der US-amerikanische Bühnenschauspieler Joseph Jefferson (1829-1905), Vater Benjamin Farjeon (1838–1903) ein erfolgreicher Schriftsteller. Josephs Bruder Herbert wurde Dramaturg, Bruder Harry Komponist, Schwester Eleanor schrieb Kinderbücher. Tochter Joan Jefferson Farjeon (1913–2006) war Bühnenbildnerin.
Farjeon arbeitete zunächst für „Amalgamated Press“ in London. Nach dem Ersten Weltkrieg machte er sich als Autor selbstständig, verfasste Theaterstücke, Drehbücher, Romane und Kurzgeschichten. Nach einer längeren Durststrecke konnte Farjeon mit dem Stück „Number 17“ Fuß fassen. Das überaus erfolgreiche Theaterstück – ein Thriller – wurde 1932 von Alfred Hitchcock verfilmt; ein Frühwerk, über das dieser später nicht glücklich war. Doch Farjeon hatte seinen Fuß in der Tür und arbeitete bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs für den englischen Film.
Parallel dazu hatte sich Farjeon eine prominente Position als Autor von Kriminalromanen erschrieben. Er war ein ungemein produktiver Autor – allein zwischen 1925 und 1929 veröffentlichte er im Magazin „Flynn’s/Detective Fiction Weekly“ 57 Storys um den Ermittler Detective X Crook -, dessen Werke ein zahlenstarkes Publikum fanden. Zeitgenössische Schriftstellerkolleg/inn/en zollten ihm Respekt. Farjeon war ein wendiger Autor, der gern das Genre gegen den Strich bürstete. So war die Hauptfigur einer vor allem in den 1930er Jahren mehrfach fortgesetzten Serie ein Landstreicher, der nebenbei Verbrechen aufklärte. Farjeon lud seine Thriller gern mit unheimlichen, scheinbar übernatürlichen Elementen auf, die er im Finale plausibel auflöste.
Bis zuletzt als Autor aktiv, starb Farjeon zwei Tage nach seinem 72. Geburtstag – am 6 Juni 1955 – in Howe, einer Küstenstadt am Westrand der Grafschaft East Sussex. Selbst in Großbritannien gerieten seine Werke rasch in Vergessenheit. Erst im 21. Jahrhundert wurde Farjeon neu entdeckt.
Taschenbuch: 282 Seiten
Originalausgabe: Mystery in White – A Christmas Crime Story (London : Wright & Brown 1937)
Übersetzung: Elke Schönfeld
https://www.klett-cotta.de
Der Autor vergibt: