Kongeniale Übersetzungen aus dem Mittelenglischen, abseits von Chaucer
Professor Tolkien war zu Lebzeiten ein Liebhaber der alt- und mittelenglischen Dichtung, sei es nun der „Beowulf“ oder Geoffrey Chaucer. Am liebsten hatte er jedoch, so berichtet sein Sohn Christopher, die Dichtungen aus den westlichen Midlands. Denn diese wichen vom Sprachgebrauch Chaucers, der sich durchsetzte, gewaltig ab – folglich geriet ihr alliterierender Stil in Vergessenheit.
Aus dieser Region und aus der Zeit um 1400 stammen zwei der Dichtungen, die im vorliegenden Band als John Tolkiens kongeniale Übersetzungen vorliegen. Christopher Tolkien hat sie herausgegeben. Es handelt sich um „Sir Gawain and the Green Knight“ und „Pearl“, beide von einem unbekannten Autor, ebenso wie „Sir Orfeo“, das allerdings älter ist.
Der Autor
Professor John R.R. Tolkien (1892-1973) hat das „wichtigste Buch des 20. Jahrhunderts“, so die Umfrageergebnisse, geschrieben: „Der Herr der Ringe“ (1954/55). Nicht allzu viele Menschen hingegen wissen, dass die Ereignisse, die in HdR geschildert werden, nur die Spitze des Eisbergs dessen darstellen, was Tolkien zeit seines Lebens geschaffen hat. Dieses imaginäre Universum findet sich zu großen Teilen (aber nicht vollständig) im „Silmarillion“ wieder, das erst vier Jahre nach dem Tod des Oxford-Professors erscheinen konnte, so kompliziert war die Arbeit daran.
Sir Gawain and the Green Knight
Am Neujahrstag hat König Artus mal wieder seine Ritter um die Tafelrunde versammelt. Weihnachten ist vorüber, aber auf Burg Camelot man feiert immer noch gerne. Die Freude wird leider schwer gestört, als ein merkwürdiger Ritter auftaucht und den König selbst zum Kampf herausfordert. Der völlig in grün gekleidete und sogar mit einer grünen Haut und grünem Haar versehene riesige Ritter bezweifelt, dass unter den anwesenden Rittern einer sei, der edleren Gemüts ist als er selbst.
Die Herausforderung
Oho, welche Frechheit, meint Artus und würde den Herausforderer am liebsten selbst Mores lehren, doch Gawain bittet aus Pflichtgefühl selbst um diese Ehre. Artus stünde doch wohl über solchem Geplänkel, oder? Artus meint „okay“, und der Grüne Ritter hat nichts dagegen, statt dem König diesem Ritter die Rübe abzuschlagen. Denn darin besteht die Herausforderung: Gawain darf dem Ritter einen Hieb mit einer Waffe versetzen, ohne dass dieser sich wehrt. Doch danach darf der Grüne sich revanchieren – und zwar genau ein Jahr und einen Tag später.
Gawain hat kein Problem mit diesem Arrangement, denn schließlich will er ja a) nicht als Feigling dastehen und b) scheint das eine todsichere Sache: Welcher Mensch hätte sich denn nach einem tödlichen Axthieb auf den Nacken davon erholt? Keiner!
Mit einer stabilen Streitaxt trennt er dem brav vornübergebückten Ritter sauber den Kopf ab. Zum Erstaunen aller richtet der sich wieder, als wäre nichts gewesen, schnappt sich seinen Kopf und fordert Gawain auf, in einem Jahr allein zur grünen Kapelle zu kommen. Sprach’s und ritt von dannen. Er hat ihnen nicht einmal seinen Namen verraten. Gawain ist nun der Gelackmeierte, denn mit der Wette hat ihn der Grüne Ritter offensichtlich hereingelegt.
Ein Jahr später
So ein Jahr kann schnell vorübergehen, doch Gawain hat die Pflicht nicht vergessen. Angetan mit einer prächtigen Rüstung macht er sich auf die Suche, fahndet überall in ganz Wales nach der grünen Kapelle, erlebt jede Menge Abenteuer mit den wilden Bergbewohnern (darunter auch Oger!), doch die Kapelle findet er nicht. Statt dessen stößt er – nachdem sein Gebet an Maria erhört wurde – auf eine prächtige und wehrhafte Burg. Hier freut man sich über alle Maßen darüber, ein echten Hofmann des Hochkönigs bei sich aufnehmen und unterhalten zu dürfen. Besonders die schöne Gattin des Burgherrn hat es Gawain angetan – wie schön sie sich von ihrer ständigen Begleiterin, einer düsteren alten Vettel, abhebt. Leider erfährt er nie ihren Namen.
Nach einer Weile des Feierns meint Gawain am 29. Dezember, jetzt müsse er aber los, schließlich seien es nur noch wenige Tage bis Neujahr. Der Burgherr, der (vorerst) leider ebenfalls namenlos bleibt, meint, er würde Gawain rechtzeitig zu der Kapelle bringen lassen, die ja ganz in der Nähe liege. Gawain müsse nur noch drei Tage ausharren. Dann schlägt er eine Wette vor: Der Burgherr werde etwas von seinen Jagden mitbringen und es seinem Gast geben, woraufhin ihm der Gast im Tausch dafür das geben würde, was er unterdessen in der Burg empfangen habe.
Wie raffiniert dieser Deal ist, stellt sich heraus, als Gawain am nächsten Morgen, während der Burgherr schon auf der ersten von drei Jagden ist, von der schönen Gemahlin seines Gastgebers geweckt wird. Da sitzt sie nun am Bettrand – die Verführung in Person.
Kann Ritter Gawain der Versuchung widerstehen, oder wird sie ihn von seinem Vorhaben abbringen? Immerhin vertritt er hier quasi seinen König!
Mein Eindruck
Der Text der Erzählung liegt keineswegs als Epos in Verszeilen vor – das gibt es in anderen Ausgaben – sondern in Prosaform. Dadurch lässt sich der Text sehr gut lesen und verstehen. Die Handlung dürfte ebenfalls keine Probleme bereiten, aber es gibt natürlich ein paar Knackpunkte, auf die es ankommt und die man leicht übersieht.
Obwohl der Autor unbekannt ist, beruft er sich sich als erstes auf den alten Homer und dessen Heldengedichte „Ilias“ und „Odyssee“. Durch diesen Hinweis erspart sich der Autor selbst die obligatorische Anrufung der Muse, denn das hat ja schon der griechische Kollege erledigt. (Auch die detaillierte Beschreibung von Gawains prächtigem Schild ist der homerischen Beschreibung von Achilleus‘ Schild nachempfunden.)
Außerdem stellt sich der Autor damit in die entsprechende literarische Tradition. Nur das entsprechend gebildete Publikum kann mit diesem Homer-Verweis etwas anfangen, wodurch er schon am Anfang seinen Anspruch deutlich macht: Dieser Stoff ist nichts für die ungebildeten Stände. Nur wer Homer und die französischen Ritterromane kennt – so einer der Verweise am Schluss – , ist nach Ansicht des Autors in der Lage, mit dem „Gawain“ angemessen umzugehen.
Der Autor wendet sich also als Gebildeter an Seinesgleichen, stellt sich nicht über sie. Dennoch ist das, was er im „Gawain“ vorzubringen hat, keine Lappalie, sondern eine ernsthafte Kritik des höfischen Moralkodex‘. Das wird am Schicksal des braven Ritters Gawain in der Burg der Verführerin deutlich.
Zweimal wird Gawain aufs Kreuz gelegt: einmal auf Camelot vom Grünen Ritters, dann wieder in der Burg des namenlosen Jägers. Nun ist aber Gawain keineswegs ein kompletter Idiot, mit dem man nach Belieben Schlitten fahren könnte, sondern sein Handicap besteht darin, dass er stets den hehren Idealen des höfischen Anstands, der Rechtschaffenheit, entsprechend handeln will und muss. Er bietet dem Burgherrn sogar seine Dienste an, weil ihm die höfischen Regeln dies so vorschreiben. Allerdings scheint er es mit seinem Diensteifer ein wenig zu übertreiben
Deshalb bringt ihn die Versuchung durch die schöne Lady schwer in die Bredouille: Es wäre ein schwerer Bruch seines ritterlichen Kodex‘, sie von der Bettkante zu stoßen. Also plaudert er mit ichr über dieses und jenes, Gott und die Welt. Zum anderen darf er jedoch auch nicht seinen Burgherrn dadurch verraten, dass er mit der Lady Ehebruch begeht und seinen zeitweiligen Dienstherrn betrügt.
Doch in der dritten Nacht reichen all seine Finten, die ihm höfisches Gebaren, Geschwätz und Tändeleien an die Hand geben, nicht mehr aus, um die Waffen der Versucherin abzuwehren: Sie kommt oben ohne. Jetzt wird’s ernst. Wie uns der Autor klarmacht und was sich im Verhalten Gawains spiegelt, streckt der höfische Anstandskodex die Waffen und die religös motivierte Moral kommt endlich zu ihrem Recht – was wohl längst überfällig war, meinen wir lesen zu können. Gawain sucht sogleich den Beistand eines Mönches auf, bei dem er die Beichte ablegen kann.
Doch er hat einen winzigen Fehler gemacht, der ihm zum Verhängnis werden könnte. Das ist aber durchaus verständlich, wenn man in Betracht zieht, dass er ja am nächsten Tag sterben soll. An Neujahr soll er in der Grünen Kapelle dem Grünen Ritter seinen entlößten Nacken hinhalten, damit dieser ihn mit der Axt durchtrennen kann. Keine erhebenden Aussichten. Man kann also Gawains Fehltritt mit seiner Angst um sein Leben entschuldigen. Aber ist es wirklich so einfach? Wenn Gawain nämlich ein wirklich frommer Christenmensch wäre, dann würde auf die Freuden des Jenseits hoffen und den tödlichen Hieb in Kauf nehmen. Also ist Gawain weder ein Top-Christ noch ein Top-Ritter, sondern lediglich ein normaler Mensch.
Und als solcher wird er uns auch vorgestellt. Denn auch wenn seine beiden Gastgeber in der Burg (vorerst) namenlos bleiben, so sind doch alle einigermaßen gut charakterisiert. So ist etwa der Burgherr ein großer Jäger vor dem Herrn, der das Jagen (leider) als Sport betreibt, zuweilen unter Einsatz des eigenen Lebens. Diese Charakterzeichnungen berechtigen Tolkien in seinem späteren Essay zu der Aussage, dass es sich bei dem Text „Sir Gawain“ nicht um eine tumbe moralische Allegorie handle, sondern um ein tief verwurzeltes Märchen. In diesem würde der Autor auf alte Quellen zurückgreifen und sie den Erfordernissen der Zeit und des Autorencharakters anpassen.
Das Auftauchen eines von Magie umgebenen Grünen Ritters und eines möglicherweise magischen Gürtels dienen Tolkien als Beleg, dass es sich um ein Märchen handelt. Heute würden wir von „Fantasy“ sprechen. Außerdem kommt in dem Text auch die arthurische Hexengestalt Morgan le Fay vor – sie ist die düstere Gestalt an der Seite der Burgherrin. Sie hat also ihre Finger im Spiel.
Der brave Ritter Gawain verflucht nach dem Showdown an der Grünen Kapelle – sorry, er stirbt nicht – alle Frauen, was nun wirklich ungerecht ist. Er verflucht seine eigene Feigheit, die ihn verwundbar für ihre Versuchung gemacht hat. Das ist ebenfalls ungerecht, denn er hat ja drei Tage lang tapfer standgehalten, wie es ihm die höfische Sitte gebot, und seinen Burgherrn nicht verraten, wie es ihm die christliche Moral gebot. Es nun einfach mal so, dass Gawain ein Opfer seiner eigenen ethischen Maßstäbe geworden ist, die er nur zum Teil erfüllen kann, da sie sich in etlichen Punkten widersprechen.
Diese Widersprüche und ihre Folgen aufzuzeigen, ist der Zweck, für den das Epos geschrieben wurde. Ob es wohl geholfen hat? Wir können es natürlich nicht wissen. Aber Zweifel dürften angebracht sein.
Pearl
„Pearl“ (ca. 34 Seiten) hingegen ist weit entfernt von Heldentaten, handelt es sich doch um die Elegie zum Tode eines Kindes, ein Gedicht, das durchdrungen ist vom Gefühl eines großen Verlustes.
Sir Orfeo
„Sir Orfeo“ ist mit 15 Seiten Länge und 600 Zeilen das kürzeste Stück, gehört einer anderen Tradition an und wurde in diese Sammlung aufgenommen, weil es sich um persönliches Lieblingsstück Prof. Tolkiens handelte. Warum wohl? Nun, es handelt sich um eine sprachlich und stilistisch sehr klare und ergreifende Bearbeitung der antiken Legende um Orpheus und Eurydike, wohl eine Übersetzung aus dem Französischen, die im späten 13. oder Anfang des 14. Jhs. entstand.
Dem guten König Orfeo wird seine liebe Frau, Königin Heurodis, durch Zauber vom Elfenkönig entführt. Der untröstliche Orfeo entsagt dem Königstum und wandert in die Wildnis, begleitet nur von seiner Harfe. (Diese Episode ist sehr ergreifend geschildert.) Zehn Jahre später begegnet er zufällig dem Elfenvolk, darunter Heurodis. Er folgt ihnen zum Hofe ihres Königs. Doch oh Graus: Lauter Tote sitzen beim Mahle! Orfeo spielt dem König ein betörendes Harfenstück vor und dieser verspricht ihm als Belohnung seines Herzens Begehr. Wie töricht, den Orfeo wünscht natürlich jene Heurodis. Widerwillig muss der König beide ziehen lassen, doch zurück in England erkennt niemand den früheren König, abgerissen, bärtig und zerzaust, wie er aussieht. Schon bald gedenkt Orfeo seinen Steward (Statthalter) auf die Treueprobe zu stellen…
Wer Tolkiens Werk, insbesondere den „Hobbit/Herrn der Ringe“ kennt, dem werden einige Parallelen der Motive zur Orpheuslegende auffallen. Zahlreiche Reisewege führen in die Unterwelt oder die Elfenwelt, um eine Prüfung, ein Abenteuer zu bestehen. Nach diesem Durchgang ist der Betreffende meist verändert, meist zum Positiven. Gesang als Betörung der Natur wird wohl mehr bei den Elben zu finden sein. Tolkiens Werke sind durchdrungen von Liedern.
Mein Eindruck
Diese Sammlung ist eine editorische Meisterleistung von Christopher Tolkien. Die Poeme selbst sind vor allem für den Liebhaber mittelalterlicher Kultur und Literatur interessant. Das Versmaß ist uns keineswegs geläufig oder vertraut, mag aber durch Alliteration an Epen wie das „Nibelungenlied“ erinnern. Wo für den Fachmann viel zu finden ist, mag hingegen der Laie in „Sir Gawain“ und „Sir Orfeo“ Bekanntes und Unterhaltung finden.
Die arthurische Geschichte „Sir Gawain“ dürfte relativ bekannt sein. Es ist eine Abenteuergeschichte für Erwachsene und dreht sich um Liebe und Sex, Ehre, gesellschaftliches Taktgefühl, persönliche Integrität sowie volkstümliche Magie – letzteres in der Gestalt des Grünen Ritters, der offenbar nicht zu besiegen ist. Insgesamt ist es eine bewegende, doch auch tröstliche Elegie.
Mit rund 65 Seiten bestreitet dieses Epos bei weitem den Löwenanteil des fiktionalen Teils. Tolkiens 14 Seiten lange Einleitung fehlt indes. Ein Glossar und ein Appendix über die Versformen stammen vom Herausgeber und sind durchaus willkommen, wenn auch wohl nur Literaturwissenschaftlern.
Taschenbuch: 142 Seiten.
O-Titel: Sir Gawain & the Green Knight, Pearl, Sir Orfeo, 1979; 1996 gab es eine Neuauflage.
Unwin Ltd., London;
ISBN-13: 9780048210395
Der Autor vergibt: