Aliens des Mikro- und Makroversums
In ihrer Einleitung erzählen die Herausgeber, wie die Faszination der Nanotechnologie seit 1986, als K. Eric Drexlers Buch „Engines of Creation“ erschien, stetig zugenommen hat. Wenige Jahre später müssen Nanomaschinen bereits für alle möglichen und unmöglichen Wunderdinge herhalten, wenn einem Science Fiction-Autor nichts mehr für seinen Plot einfällt. Immerhin haben die Herausgeber noch einige sehr gute einschlägige Stories gefunden, u.a. von Stephen Baxter, Greg Bear, Greg Egan, Kathleen Ann Goonan und Geoffrey A. Landis.
Die Herausgeber
Jack Dann schrieb zunächst zahlreiche, sehr intelligente Kurzgeschichten und ein paar Romane, bevor er sich dem Mainstream zuwandte. Als erstes veröffentlichte er den historischen Roman „Die Kathedrale der Erinnerung“ über Leonardo da Vinci, als zweites den historischen Roman „Der tag, an dem ich unsichtbar wurde“ über den Amerikanischen Bürgerkrieg.
„Jack Mayo Dann (* 15. Februar 1945 in Johnson City, New York) ist ein in Australien lebender US-amerikanischer Science-Fiction-Autor und Herausgeber zahlreicher Anthologien. Er veröffentlichte über zehn Romane und zahlreiche Kurzgeschichten, Essays und Gedichte. Seine Werke wurden bisher in 13 Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet.“ (Wikipedia.de)
Gardner Dozois ist einer der besten US-Autoren und seit vielen Jahren einer der wichtigsten Herausgeber von Anthologien – und außerdem ein guter Freund von George R.R. Martin. „Gardner Raymond Dozois (* 23. Juli 1947 in Salem, Massachusetts; † 27. Mai 2018 in Philadelphia) war ein US-amerikanischer Science-Fiction-Autor und -Herausgeber. Er war von 1984 bis 2004 Redakteur der Zeitschrift Asimov’s Science Fiction.“ (Wikipedia.de)
Die Erzählungen
1) Die archetypische Nano-Story ist natürlich Greg Bears „Blutmusik“ Sie ist derartig bekannt und vielfach ausgezeichnet, daß sich eine Beschreibung erübrigt. Muss man kennen.
2) Ebenso bekannt könnte dem Science Fiction-Fan auch die Story “ Recording Angel“ von dem Nordiren Ian MacDonald vorkommen. Er schildert, wie die Reporterin Gaby McAslan in die „Chaga“ – der Titel des entsprechenden Romans – am Kilimanjaro fährt, um die außerirdische Nanotechnologie in ihren Auswirkungen zu untersuchen. Ein surrealer Trip.
3) Bekannt aus einer der Heyne-Antholgien ist auch Michael F. Flynns wunderschöne Story „Remember’d Kisses“, in der ein Gentechniker sein geliebte Frau verliert und eine ihr ähnlich sehende Stadtstreicherin so ummodelt, daß diese der Verstorbenen nicht nur äußerlich gleicht, sondern auch über deren Erinnerungen zu verfügen beginnt – sehr gruselig und sehr traurig.
4) Weitaus kaltschnäuziger geht die vielfach ausgezeichnete Amerikanerin Nancy Kress („Bettler in Spanien“) in „Margin of Error“ mit der Nanotechnologie um. Als ihre Schwester die Hauptfigur um Hilfe bittet, wird diese brüsk verweigert. Die Hauptfigur, einst selbst eine Genetikerin, wurde von ihrer Schwester einst um ihre Forschungsergebnisse betrogen. Während die Schwester Karriere machte, bekam sie selbst ein Kind nach dem anderen. Nun, nach dem Auftreten der ersten Reproduktionsfehler in der Nanotechnik, zeigt sich, wer gewiefter ist. Kress sorgt für einen kalten Schauder!
5) Der Australier Greg Egan („Qual“) zeigt in „Axiomatic“, wie nützlich doch die Nanotechnik sein kann, um das Gewissen zu beruhigen, wenn man einen Mörder töten möchte. Sehr viel sympathischer ist da schon der Held in Kathleen Ann Goonans „Sunflowers“-Geschichte. Ein Mann hat vor drei Jahren seine Frau Annais und kleine Tochter Claire verloren, weil sie von einer Terroristin mit Nanoviren verseucht worden waren. Die Nanos bewirkten eine beschleunigte Wahrnehmung der Zeit – bis zum Overdrive. Der Witwer lässt sich im liberalen Amsterdam für eine begrenzte Zeit wirksame Nanos injizieren, um diese Wirkung selbst zu erfahren. So will er hinter das Geheimnis dieser zwei Tode kommen. Er steht vor Van Goghs „Sunflowers“-Gemälden, als ihm die Erleuchtung kommt.-
Eine tolle, sehr stimmungsvolle und menschliche Story. Sie erfordert Geduld beim Leser.
6) Mehr auf Action bedacht ist Stephen Baxter in seiner klassischen Detektivstory „The Logic Pool“. Auf einem der Jupitermonde ist ein Toter in seiner Wohnkuppel gefunden worden – kurz bevor die neuen Kolonisten eintreffen sollen. Drei Spezialisten müssen der Todesursache auf den Grund gehen. Sie hätten im Traum nicht an außerirdische Nanowesen gedacht.-
Baxter tischt alles auf, was die abgefahrenste nonlineare Quantenmechanik aufzubieten hat – und das ist nicht wenig.
7) Sehr gut verdaulich und geradeheraus hingegen Paul DiFilippos Story „Any major dude“. Der Titel spielt auf ein altes Stück von Steely Dan an. Der „größere Typ“ ist der Nanotechniker Holt, der es im Gegensatz zum braven Ingenieur, der die Hauptfigur spielt, geschafft hat, das Antlitz der Welt zu verändern. Nanoviren machen herkömmliche Energiegewinnung überflüssig und krempeln ganz Nordafrika um. Doch Holt hat dem Ingenieur quasi die Frau ausgespannt, und dafür gilt es Rache zu nehmen. Leider hat der Ingenieur zuwenig Ahnung von Nanos, um die Folgen seiner Tat zu bedenken.-
DiFilippo ist eine wahre Entdeckung des Cyberpunks! Seine Story ist effektvoll, spannend und witzig erzählt.
8) Das Hauptstück der Antologie ist ohne Zweifel David Maruseks Novelle „We were out of our minds with joy“. Der Grund für diesen Zustand des Pärchens, das im Mittelpunkt der Handlung steht: Ihnen wurde erlaubt, ein Kind zu bekommen. Damit beginnt der ganz normale Wahnsinn des 22. Jahrhunderts. Denn niemand darf mehr ein Kind bekommen, und wenn die Erdgouverneurin eines zugestanden bekommt, dann ist das ein Politikum ersten Grades. Der Verpackungsdesigner, der ihr Mann geworden ist, hätte sich auch nicht träumen lassen, daß er mal als Landstreicher endet.-
Diese Novelle ist eine sehr ironische, kurzweilige Tour de force durch ein wildes Wunderland, in dem dank Nanotechnik fast alles möglich scheint – im Guten wie im Schlechten. (Diese Novelle ist der titelgebende Beitrag in der Storysammlung Maruseks, die im Golkonda-Verlag erschien.)
9) Einen witzig-frechen Schlussakkord setzt der Physiker Geoffrey A. Landis mit seinem kleinen Gedicht „Willy in the Nano-Lab“. Nicht Großes, aber nett.
Unterm Strich
„Nanotech“ ist eine sehr gelungene und repräsentative Anthologie zu einem der faszinierendsten Themen, mit dem sich die Wissenschaft anno 1998 beschäftigte. Die Autoren gewinnen der Technik nicht nur witzige, spannende und ironische Aspekte ab, sondern auch menschlich anrührende, etwa wenn es um die letzten Dinge geht: Überwindung des Todes und der Einsamkeit, Überwindung der Moral, Grenzerfahrungen. Insofern bieten die Herausgeber auch Stoff zum Nachdenken an, der den Leser persönlich weiterbringt.
Eine deutsche Übersetzung ist mir nicht bekannt.
Taschenbuch: 288 Seiten
ISBN-13: 978-0441005857
https://www.penguin.com/ace-overview/
Der Autor vergibt: